www.Crossover-agm.de
Grosses Concert Serie III/3   29.01.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Dient eine Spielstätte als Heimstatt gleich zweier großer Orchester, wie es im Falle des Gewandhauses zu Leipzig mit dem Gewandhausorchester und dem MDR Sinfonieorchester der Fall ist, so wird es auch bei prinzipiell unterschiedlicher Profilierung (wenngleich die heute nicht mehr ganz so stark ausgeprägt ist wie meinetwegen zu Zeiten eines Herbert Kegel) doch bisweilen mal zu Überschneidungen im Spielplan kommen - daß diese aber so unmittelbar aufeinander folgen, ist dann doch eher selten. Am 18. Januar 2009 hatte das MDR Sinfonieorchester unter Jun Märkl Beethovens 2. Sinfonie gespielt, elf Tage später nun gibt es das gleiche Werk mit dem Gewandhausorchester unter Riccardo Chailly. Die Menschen, die wie der Rezensent beide Aufführungen hören, können allerdings über Langeweile nicht klagen - eher ist es interessant, die völlig unterschiedlichen Strategien Märkls und Chaillys zu verfolgen, ohne sie indes gegeneinander ausspielen zu wollen, denn jede hat ihre ganz eigenen Reize. Während Märkl nämlich auf eine Gesamtharmonie aus ist und die diversen Gräben und Brüche im Werk eher zuschüttet, ohne sie aber vollends zu planieren, reißt Chailly die Gräben eher noch weiter auf, bildet keine Brücken aus wie Märkl, sondern springt gekonnt auf die andere Seite hinüber. Sein Gewandhausorchester folgt ihm willig auf diesem Weg, wobei auffällt, daß es das Tempo für den Ruf Chaillys als Beethovenbeschleuniger insgesamt doch relativ niedrig hält, ohne freilich in die Hörgewohnheiten von vor 100 Jahren zurückzufallen. Chailly findet eine erstklassige Dynamikgestaltung auch auf kleinstem Raum (und das sowohl beim Tempo als auch bei der Lautstärke), schon im Adagioteil des ersten Satzes, mehr aber noch im Allegroteil, und die blitzartigen Hochgeschwindigkeitseinwürfe, die die Streicher immer wieder hinlegen müssen, sitzen so paßgenau, als würden sie nur von einem einzigen Violinisten gespielt und nicht von einer zweistelligen Anzahl. Auch im Larghetto fährt Chailly seine Strategie der Bruchbetonung, was vielleicht den romantischen Schwebeaspekt leicht beeinträchtigt, aber das nach hinten drohende Ausfasern des Satzes durch die Erzeugung dort selten gehörter Spannungsbögen verhindert. Kleine Problemfälle gibt es im Holz, das in diesem Satz bisweilen etwas zuviel Unruhe zeigt und im Scherzo dann auch noch die Hörner an einigen wenigen Stellen etwas ansteckt, die sonst sehr gute Arbeit verrichten. Das Grundtempo des Scherzos liegt wieder erstaunlich niedrig, aber die satzimmanente Dynamik stimmt auch hier, ebenso wie im abschließenden Allegro molto, wo Chailly dann doch die Pferde auskoppelt. Wie er kurz vor Schluß das Forte aus dem Fast-Nichts entwickelt, das zeichnet den Könner aus, der dann auch mit einem vereinzelten Bravo und generell sehr energischem Applaus belohnt wird.
"Energisch" ist auch ein gutes Stichwort für das, was nach der Pause im vollen Gewandhaus passiert, denn Anton Bruckners 3. Sinfonie d-Moll steht in ihrer "mittleren" Fassung von 1877 auf dem Programm, und Chailly packt hier den Stier bei den Hörnern. Was den Hörer hier erwartet, demonstriert er gleich zu Beginn des 1. Satzes, der nach entrückt wirkendem Beginn eine brachiale Steigerung zum 1. Thema erfährt - und Chailly läßt das Orchester die entsprechenden Lautstärken auch an der jeweiligen Außenseite nehmen: wenn leise, dann richtig leise, wenn laut, dann richtig laut. Der Orkan, der dann gelegentlich von der Bühne ertönt, hat nur einen kleinen Nachteil: Irgendwas stimmt bei den Blechbläsern, die Bruckner nicht eben selten für die größte Wucht des Orkans eingeteilt hat, nicht. Daß sie laut sind, bisweilen sehr laut, ist nicht das Problem (wobei der Rezensent sogar relativ weit von ihnen entfernt sitzt), aber in der Sechsergruppe harmoniert irgendetwas nicht, tendenziell eher bei den drei Posaunen als bei den drei Trompeten. So schleicht sich manchmal ein pseudoschräger Unterton ins Blechinferno, der sicherlich nicht so gewollt ist, aber erfolgreich an den Nervensträngen der Besucher sägt, wenngleich er sich entweder im Verlaufe des ersten Satzes etwas legt oder sich das Ohr an ihn zu gewöhnen beginnt. Das und ein an einigen wenigen Stellen wieder manchmal leicht zu trockenes Holz (Flöten!) sind allerdings die einzigen Schwachpunkte nicht nur des ersten Satzes, sondern der gesamten Sinfonie - der Rest kratzt durchaus am Prädikat "Weltklasse". Die in dichter Folge gesetzten Generalpausen verlangen dem Dirigenten einiges an Gestaltungsarbeit ab, geben ihm andererseits damit aber auch eine Fülle von Möglichkeiten in die Hand, und ein Könner wie Chailly weiß diese natürlich auch zu nutzen. Wenn also die Hörner im ersten Satz einen choralartigen Part haben, dann klingt der auch wie ein Choral, brodelnde Parts gehen nahtlos ins Piano über und wieder zurück, und schon das Finale des ersten Satzes gerät zum reichlich brutalen Manifest. Das Andante legt Chailly zunächst recht ausladend, fast cineastisch an, aber auch hier folgt er seiner Beethoven-Gräbenaufreißstrategie, und mit mehr Spannung kann man das Satzende wohl kaum noch spielen. Satz 3 ermöglicht eine ähnliche einleitende Gestaltung wie Satz 1: Wenn man ihn tatsächlich im Pianissimo beginnen läßt, bekommt man eben auch eine gewaltige Steigerung danach hin - Satz 4 hingegen verlangt dem Dirigenten Gefühl ab, das Inferno zu Beginn noch nicht auszureizen, um sich nach hinten heraus noch steigern zu können. Den fröhlich-ernsten Dualcharakter des Finales bekommen die Leipziger ebenfalls sehr gut hin, einzig die Hörner haben hier eine ihrer sehr seltenen Schwachstellen: Sie brillieren in den Chorälen, lassen aber bei ihren Einwürfen ins Tanzthema etwas die letzte zupackende Konsequenz vermissen. Das ist aber ein kleines Problem gegen den Schluß, wo man vor dem Schlußtriumph derart schräge, fast jazzig klingende Trompetenklänge in die Ohren gehämmert bekommt, wie sie vielleicht Schostakowitsch an so einer Stelle beabsichtigt hätte, aber garantiert nicht Bruckner. Und da auch lautstärkeseitig schon mit der Jazztrompete das Maximum erreicht ist, es nach hinten hin wieder nach unten geht, entsteht nur ein fahler Abglanz im Triumph - auch der wäre bei Schostakowitsch eine Meisterleistung von Orchester und Dirigent, bei Bruckner ist er zu hinterfragen. Liegt es daran oder am Nervpotential des Blechs, daß der Schlußapplaus in puncto Frenetizität durchaus Reserven offenläßt und sich wieder nur ein vereinzeltes und spätes Bravo in ihn mischt?



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver