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Benjamin Britten: War Requiem   01.09.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Im Regelfall endet der MDR-Musiksommer an einem Wochenende, aber im Jahre 2009 ist das etwas anders: Nach vier Dutzend Konzerten in ganz Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen über die Sommermonate hin findet das 49. und letzte Konzert, nämlich die Aufführung von Benjamin Brittens "War Requiem", am Dienstag, dem 1. September im Leipziger Gewandhaus, der Heimspielstätte der Rundfunkklangkörper, statt. Damit schlägt die Programmkonzeptionsfraktion gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Erstens gibt man dem Musiksommer einen würdigen Abschluß. Zweitens spart man Kosten, indem man dieses Konzert gleich noch in Doppelfunktion als 1. Rundfunkkonzert der Saison 2009/10 deklariert. Drittens bietet das gewählte Stück die Möglichkeit, alle drei Teile der Klangkörper, also Sinfonieorchester, Rundfunkchor und Kinderchor, einzubinden. Viertens ist der 1. September 2009 ein besonderer Tag, an dem man allerorten des Ausbruches des Zweiten Weltkrieges 70 Jahre zuvor gedenkt. Und damit sind wir mitten im Geschehen des Stückes, denn Benjamin Britten schrieb das War Requiem als Auftrag zur Einweihung der neu erbauten Kathedrale zu Coventry, deren gotischen Vorgängerbau die deutsche Luftwaffe anno 1940 kurz und klein gebombt hatte. Das Stück entwickelte sich schnell zu einem "modernen Klassiker" mit zeitloser Aussage - eine dicht gefüllte Seite des Programmheftes zählt die größeren Kriege auf, die seit der Uraufführung 1962 in der Welt ausgebrochen sind und zum Teil noch heute anhalten, und eine weitere weist schließlich auf Fliege Nr. 5 hin: Die Leipziger Rundfunkklangkörper haben eine besondere Beziehung zu dem Stück - es war eines der Paradestücke ihres langjährigen Chefdirigenten Herbert Kegel, der Maßgebliches für seine Popularisierung in der DDR tat, was weiland nicht unbedingt einfach war: Die Formalismusdebatte war noch nicht allzulange verstummt, religiöser Gehalt war prinzipiell auch nicht geheuer, und - Friedensaktivismus hin oder her - der Komponist wohnte in einem imperialistischen Land. Daß der Große Bruder in Moskau ähnlich dachte, bekam Galina Wischnewskaja zu spüren - die Sopranistin sollte auf Brittens Wunsch hin die Uraufführung singen, aber der Kreml sagte "Njet". Aber der Wind aus Moskau drehte, die Sängerin durfte zumindest an der 1963er LP-Einspielung mitwirken, und auch in der DDR setzten Kegel und andere im positiven Sinne dickköpfige Kulturaktivisten das Stück durch, und das mit derartiger Arbeitswut, Akribie und Liebe zum Sujet, daß Britten nach einer Berliner Aufführung, die er gemeinsam mit Kegel leitete, enthusiasmiert ausgerufen haben soll, erst dies sei die wahre Premiere seines Stückes gewesen. (Die Tragweite einer solchen Aussage muß man sich dahingehend vergegenständlichen, daß er 1962 in Coventry immerhin Dietrich Fischer-Dieskau und Peter Pears in den beiden männlichen Rollen hatte, und das sind bzw. waren ja auch Könner vor dem Herrn.)
Als religiöser Synkretist hat Britten die klassische Requiemform aufgebrochen und den traditionellen Text durch Gesänge auf Gedichte des Lyrikers Wilfred Owen ergänzt. Der hat den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt, da er schon in den letzten Tagen des Ersten gefallen war - aber allein dessen Geschehnisse hinterließen tiefe Spuren in der Geisteswelt des jungen Lyrikers mit der Waffe in der Hand, der 1917 auch schon mal drei Tage in einem Granattrichter verschüttet gewesen war. Britten splittete nicht nur den Text, sondern auch die Instrumentierung: Tenor und Baß singen zu einer Kammerorchesterbegleitung die Owen-Teile, während Sopran und die beiden Chöre gemeinsam mit dem Hauptorchester den "klassischen" Requiemsteil bestreiten. Dabei gönnt der Dirigent (das ist an diesem Abend Jun Märkl, der Chefdirigent des MDR Sinfonieorchesters, dem Gunter Berger fürs Dirigat des Kinderchores zur Seite steht, und auch Chordirektor Howard Arman hat Anteil an der Arbeit) dem Hörer eine Art musikalischer Einführung in die nicht unbedingt alltäglich präsente Thematik: Der Rundfunkchor legt in die leise beginnende und mehrfach hin und her pendelnde Introduktion des Requiem Aeternam alles, aber weder Trauer noch Sinistrität oder Expressivität, und der Kinderchor scheint danach sogar noch einmal zum Frieden zurückzuführen (er hat im Werk sowieso etwas die "himmlische" Funktion, was auch in der Kleiderordnung deutlich wird, denn seine Mitglieder setzen die einzigen Farbakzente im sonstigen Schwarz-Weiß). Aber dann lassen die Mitwirkenden den musikalischen Schwärzegrad immer weiter steigen - daß seit 1962 die Mittel und Wege der musikalischen Umsetzung von Dunkelheit immens zugenommen haben und allein das Intro von "Black Sabbath" der gleichnamigen Band (erschienen anno 1970) alle Glocken im "War Requiem" allenfalls noch dunkelgrau erscheinen läßt, dafür können weder der Komponist noch die Mitwirkenden was, und im Kontext des Werkes erreichen sie die intendierte Wirkung problemlos. Im Dies Irae hat Britten äußerst kompetent einen Krieg vertont (obwohl er selbst nie in diesen ziehen mußte - aber Manowar haben ja auch nie in der Steinzeit gelebt und trotzdem starke Songs drüber geschrieben), den freilich die eher an Flatulenz gemahnende gedämpfte Tuba im ersten Teil fast ins Parodistische zu ziehen droht. Parodistisch wird Britten nämlich erst im weiteren Verlaufe dieses Dies Irae, wenn er die Tenor-/Bariton-Passage teils mit zirkusmarschartigen Klängen unterlegen läßt - dieses Stilmittel, das Lachen im Angesicht des Galgens, kannte Britten möglicherweise aus ähnlich gelagerten Kompositionen Schostakowitschs. Wenn dann der Chor in der Zentralbitte dieses Dies Irae so verklärt klingt wie die Leipziger hier, dann stehen die Verhältnisse wieder gerade, und nicht mal die im Bombast sägenden Streicher werfen den Thron um, sondern stärken ihn im Gegenteil noch. Dagegen wird das Lacrimosa zum Problem: Lioba Braun hat eine schöne Stimme, eine sehr schöne - hier und da aber eine zu schöne, und wenn sie mit künstlerischem Wohllaut über sterbenden Chören referiert, dann ist der Schritt zur ungewollten Parodie (man erinnere sich an "Das Lied" von Knorkator) nicht mehr weit. Auch die beiden Herren haben so ihre Probleme: Bariton Albert Schagidullin singt eine solide Vorstellung, reißt aber keine Bäume aus und wird vom Kammerorchester gerade an bestimmten Höhepunkten gern mal akustisch zugedeckt, so im Dies Irae in seinen ersten Einsätzen. Tenor Stefan Vinke kann sich etwas besser Gehör verschaffen, aber auch er kommt über eine solide Leistung selten hinaus. Man kennt ihn in Leipzig bisher vor allem aus dem Wagnerfach (z.B. als Rienzi), was in manchen Passagen hier durchaus Vorteile birgt - der wagnereske Appell des Tenors im Agnus Dei, die falschen Golgathapriester zu erkennen, hat was. Aber auch in anderen Fächern haben die beiden Herren durchaus etliche kleine Erfolge zu verzeichnen, etwa wenn sie ihre große Duettpassage im Offertorium geschickt von Jethro Tull-artigem Folk über eine oratorienartige A-Cappella-Kreuzigung bis zurück aufs Schlachtfeld führen. Dagegen hinterläßt Schagidullin im Sanctus alles andere, aber nicht das textlich beschriebene akustische Trümmerfeld, so daß Vinke am Ende seines Einsatzes im Agnus Dei das größte Kunststück zugeschrieben bekommt: einen emotionalen Abstieg zum Höhepunkt. Klingt kryptisch? Muß man selber hören, um es zu verstehen. Viele Details verraten eine intensive Arbeit vor der Aufführung, etwa den Rundfunkchor in seinem ersten Einsatz im Agnus Dei so perfekt kleinlaut klingen zu lassen, als ob der Soldat wie ein begossener Pudel vor dem friedlichen Lamm Gottes steht. Auch die Verwirrung und Verzweiflung im Libera Me lassen vielleicht spielerisch hier und da ein wenig zu wünschen übrig, aber in ihrer beeindruckenden Kohärenz von textlicher und musikalischer Aussage jedenfalls nicht. Und bezüglich der Stimmung vor dem Schlußteil, den Tenor und Bariton (die sich stimmlich während der anderthalb Stunden hier und da auch mal gegenseitig im Wege gestanden haben) in perfekter Harmonie bestreiten ("Let us sleep now ..."), steht nur die handschriftliche Notiz "ganz komisch" im Programmheft des Rezensenten, und das ist hier eindeutig positiv gemeint. Die immer leiser werdenden letzten Chorzeilen (quasi eine "Verdunstung") verdeutlichen das kleine Dilemma der Aufführung: Ganz exakt singen die Damen und Herren hier nicht, einige Übergänge fasern zu sehr aus - aber der Gesang erzeugt trotzdem eine kaum zu beschreibende Atmosphäre. Die Leipziger im nicht ausverkauften, aber ordentlich gefüllten Gewandhaus zeigen nach einer extrem langen Applauspause (wenngleich die Atmosphäre schon vorher durch zwei Störgeräusche im Publikum gleich nach dem letzten Ton zusammengebrochen ist), daß ihnen die Stimmung wichtiger ist als die unbedingte computergleiche Exaktheit beim Singen - der Chor bekommt den meisten Applaus, aber auch die anderen Mitwirkenden werden ausdauernd beklatscht. Und der selige Herbert Kegel wird sich zum einen hochzufrieden auf seiner Wolke umgedreht haben - um zum anderen gleich ein Programm aufzustellen, woran beim nächsten Mal noch gearbeitet werden muß.



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