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Ton statt Plastik   16.12.2008   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Seltsames Konzertmotto, das eher in die kulturkämpferische Argumentation der "Rocker" gegenüber den "Poppern" in den vergangenen Jahrzehnten zu passen scheint - aber sei's drum, die drei Komponenten des Programms unter einen Hut zu bringen fällt sowieso schwer, denn zwei Werken mit überdeutlichem Bezug zueinander steht eines gegenüber, bei dem man etwas nachdenken muß, wieso es hier in diesem Programm des MDR Sinfonieorchesters gelandet ist. Plastikklänge, soviel sei vorweggenommen, gibt es keine zu hören - alle müssen auf der Bühne noch ehrlich arbeiten und tun dies, auch soviel sei vorweggenommen, mit einem hörbaren Enthusiasmus, dem nicht mal das allenfalls zu einem Viertel bis maximal einem Drittel gefüllte Gewandhaus etwas anhaben kann.
Rodion Schtschedrins "Dialoge mit Schostakowitsch" bilden den Auftakt des Abends, und man wird schnell eines gewahr: Nicht etwa der Komponist selbst tritt in Dialoge mit Schostakowitsch, sondern andere Personen, an vorderster Stelle Jossif Wissarionowitsch Dshugaschwili aka Stalin. Hätte Schtschedrin sein Werk nicht schon 2001 komponiert, so wäre die Vermutung, er habe quasi Solomon Wolkows 2004er Buch "Stalin und Schostakowisch" vertont, nicht abwegig gewesen, aber andererseits brauchte der Komponist die Buchvorlage eigentlich auch gar nicht, denn er kannte die Situation in der Sowjetunion schließlich selber gut genug, hatte seine ersten 21 Lebensjahre noch unter Stalin verbracht, war selbstredend auch mit Schostakowitsch gut bekannt und wurde 1973 dessen Nachfolger als Vorsitzender des Komponistenverbandes der RSFSR (es gibt noch weitere Bezugspunkte zwischen den beiden - so waren bzw. sind beispielsweise beide auch ausgezeichnete Jazzpianisten). Die "Etüden für Orchester", so der Untertitel des Werkes, enthalten prinzipiell nichts, was nicht auch Schostakowitsch selber hätte schreiben können, obwohl direkte Zitatstrukturen (mit denen nun wieder Schostakowitsch sehr gern gearbeitet hatte) ausbleiben. Aber Stalins Gepolter muß man auch nicht zitieren - das kann man sich aus Schtschedrins Werk selber zusammenreimen. Der nervöse Charakter vieler Passagen wird überdeutlich (man war sich ja in der Sowjetunion auch nach Stalins Tod nie sicher, ob man als Querdenker nicht von den Mühlen des Sozialismus zerrieben werden könnte), gleichzeitig ist aber das schelmenhafte Element nicht zu verkennen, das sich immer wieder in den vorwitzigen Pikkoloflötenpassagen, die mehrere strukturelle Brüche markieren, manifestiert. Generell fällt neben dem nervösen Charakter vor allem die Stärke der Kontraste zwischen hohen und tiefen Instrumenten auf - dazwischen gibt es wenig, was tragen könnte, aber selbst diese Dualität kann man als Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne eines "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" deuten. Drei laute Schläge aller Perkussionsinstrumente sowie ein leiser beenden das Werk.
Von Bohuslav Martinu ist der Satz überliefert, es könne nicht das Ziel eines Komponisten sein, das Nervenkostüm seiner Zuhörer zu zerstören. Damit stellt sich der gebürtige Böhme in Kontrast zu gefühlten 95% aller anderen E-Tonschöpfer des 20. Jahrhunderts, aber lassen wir die Polemik mal beiseite: Das Werk Martinus ist heute nahezu vergessen, obwohl oder gerade weil er als Musterbeispiel für einen Komponisten durchgeht, der sich bewußt von avantgardistischen Experimenten fernhält. Im Extremfall führt das zu einem Werk wie seiner zweiten Sinfonie, die Stefan Solyom und das MDR Sinfonieorchester an diesem Abend aufs Pult legen: Mitten im Zweiten Weltkrieg, wenngleich auf dem sicheren Boden der USA, geschrieben, verzichtet der heimatlose Böhme fast völlig auf Konflikte und Abgründe, ohne freilich ganz den Sinn für Dramatik außen vor zu lassen. Aber das, was sich da im ersten Satz nach dem lockeren, fast fröhlichen Beginn (der Dirigent tänzelt auf seinem Pult hin und her) an Konflikten entspinnt, geht nicht über ein brüderliches Schulterklopfen hinaus, nur ganz vereinzelte Schläge des großen Gongs und der Snare gegen Ende verdeutlichen, daß wir uns mitten im 20. Jahrhundert befinden. Ähnlich gestaltet sich der zweite Satz: Das Holz baut eine Art Idylle auf, lange Streicherflächen übernehmen, und erst gegen Satzende hin kommt wieder so etwas wie Dramatik auf, gestützt durch ein fieses fallendes dreitöniges Klavierthema - aber dieses siegt nicht. Beim dritten Satz weiß man nicht so richtig, ob man diesen nun im heimatlich-fernen Tschechien oder aber im Wilden Westen der USA verorten soll, denn er transportiert einesteils eine gewisse Sehnsucht nach der Heimat, würde andererseits aber problemlos als Soundtrack eines klassischen Western dieser oder der folgenden Jahre dienen können. Da reitet die Kavallerie durch die Prärie (nur echt mit der Trompete im etwas epischeren Mittelteil), metzelt ganz kurz mal ein paar Indianer nieder, bevor man sich wieder in "Weites Land" oder einem dieser anderen Filme wähnt. Kurz, knapp, cool und zudem erstklassig umgesetzt von Orchester und Dirigent, die diesen Gestus auch in den letzten Satz hinüberretten. Der beginnt tanzbar (der Dirigent legt gar einen Hüftschwung aufs Pult), wird vielschichtiger, bleibt aber immer locker, elegische Sehnsucht findet nur selten Platz, der Dramatikfaktor steigert sich zum Ende hin - und dann endet die Sinfonie plötzlich, so unprätentiös, wie man das eigentlich unterbewußt schon erwartet hatte. Man rekapituliere noch einmal: Ein Werk von 1943 - aber es könnte zu 95% mindestens 50 Jahre älter sein und aus dem Smetana-Umfeld stammen, und das ist in diesem Kontext als Kompliment zu verstehen und war auch so beabsichtigt (schließlich waren die Auftraggeber nach Cleveland ausgewanderte Tschechen). Kompliment auch an Orchester und Dirigent: Die gering ausgeprägten Dramatikansätze im Werk so deutlich werden zu lassen, daß der Hörer nicht in Morpheus' Arme abgleitet, aber nicht so stark hervorstechen zu lassen, daß der pastorale Grundcharakter entscheidend beeinträchtigt würde, ist eine große Kunst, und diese Gratwanderung bekommen Solyom und das Orchester problemlos hin.
Wenn man schon Schtschedrins "Dialoge mit Schostakowitsch" im Programm hat, erscheint die Wahl eines Schostakowitsch-Werkes für die zweite Programmhälfte natürlich logisch, wobei die MDR-Programmkonzeptfraktion nicht auf Nummer sicher gegangen ist, sondern ein eher selten zu hörendes Werk ausgrub: die Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti op. 145a, original für Baß und Klavier konzipiert, aber auch in einer Orchesterversion vorliegend, die Schostakowitsch noch kurz vor seinem Tode fertiggestellt hatte, und ebenjene erklingt im Gewandhaus - das Programmheft enthält die Texte in der deutschen Übersetzung, Michail Schelomianski singt aber den original von Schostakowitsch verwendeten russischen Text. Er macht, soviel vornweg, seine Sache ausgezeichnet, und obwohl er ein wenig wie Karel Gott aussieht, geht er stimmlich doch als Prototyp eines russischen Bassisten durch, wenngleich er die abgründigen Donkosakentiefen meidet bzw. meiden darf. Die elf Gedichte hat Schostakowitsch in ebensovielen Sätzen, deren originale russische Überschriften jeweils mit einem einzigen Wort auskommen, umgesetzt, wobei er bisweilen Themengruppen aus verwandten Gedichten gebildet hat. Die "Wahrheit" im ersten Satz, eingeleitet von einer Trompetenfanfare, erweist sich als bitter, bleibt beispielsweise streicherseitig ausschließlich bei den tiefen Instrumenten. Gelöster wird die Stimmung im "Morgen", die Celli und das Baßsolo wirken hier eher romantisch als düster, und auch der Sehnsuchtsfaktor gelingt dem Orchester gut, ohne daß es aber in den Schmalz abkippt. Die Stimmung bleibt in "Liebe" zunächst erhalten, Holz und Horn gesellen sich zu den Tiefstreichern, und sobald die Violinen dazukommen, hat man das hypothetische Vorbild von Tiamats "Do You Dream Of Me?" vor sich. Entscheidender Unterschied: Edlunds Stimmung bleibt positiv, Schostakowitsch baut zum Ende hin plötzlich wirre Dramatik ein und läßt den Satz düster enden, damit schon auf "Trennung" hinüberweisend, einen klassischen Minnesang, kurz und traurig (eines von drei Gedichten, das von der klassischen 4-4-3-3-Versfolge abweicht, indem es mindestens einen der vier Teile wegläßt). Der "Zorn" leitet einen neuen Komplex ein, denn er richtet sich nicht im Rückblick auf die Trennung, sondern geißelt die Plutokratie und schlägt bis zum Ende hin immer wieder auf sie ein, ohne in Agonie zu verfallen. Die Hoffnung hört auf den Namen "Dante", und der so bezeichnete sechste Satz sowie der siebente namens "An den Verbannten", als einziger übergangslos an seinen Vorgänger angefügt, stellen so etwas wie das Herzstück der ganzen Suite dar, fassen alle bisherigen Stimmungen zusammen und bieten mit schicksalsschwangeren Glocken noch einen Ausblick aufs Ende. Diesem vorgelagert ist aber noch "Das Schaffen", zu dessen einzelnen Schlägen in teils rasanter Folge man sich am ehesten einen Bildhauer vorstellen kann. Interessantes Detail: die Echoschläge zum Schluß, die einen weiteren Blick hinüber in die drei letzten Sätze werfen, welche zugleich den requiemhaften Charakter der Komposition demonstrieren. "Nacht" transportiert dabei tatsächlich eine nächtliche Stimmung, aber Solyom und dem Orchester gelingt es, nicht den kalt-bedrohlichen Charakter, sondern eher das Gegenteil darzustellen, und den zauberhaften romantischen Schluß hätte der Rezensent vier Nächte später am Radebeuler Elbufer als Soundtrack gut gebrauchen können. Danach allerdings biegt der "Tod" um die Ecke, die Trompetenfanfare aus dem ersten Satz ist wieder da, erstirbt aber langsam und macht letztlich Platz für die "Unsterblichkeit", in der freches Holz und witziges Gebimmel den Tod so ganz unernst illustrieren und plötzlich den entscheidenden Hinweis hinüber zur Martinu-Sinfonie ermöglichen (deren Komponist hatte sich nämlich mit fernöstlicher Philosophie auseinandergesetzt, und da paßt diese erste Hälfte des elften Satzes erstklassig ins Konzept). Raumgreifende Dramatik und etwas Tragik brechen sich zwar dennoch Bahn, aber letztlich landet alles doch im Äther, leicht gestört nur durch den arg unsauberen zweiten Zupfer - dafür steht die Spannung am Ende sehr lange, bevor sie zusammenbricht und sich Orchester und Dirigent über lauten Beifall freuen dürfen, wobei das Applausometer bei Martinu allerdings noch stärker ausgeschlagen hatte.



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