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Sinfonia für Streicher Nr. 10/Die beiden Pädagogen   18.09.2008   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Erneut beteiligte sich die Leipziger Musikhochschule an den Mendelssohn-Festtagen, was ja auch logisch erscheint, denn immerhin geht es dabei um ihren eigenen Gründer und zudem heutigen Namenspatron. Daß man sich hierbei nicht nur aufs "Weltkulturerbe" konzentrieren kann, sondern auch mal in der zweiten oder dritten Schicht graben muß, um noch Interessantes zutage zu fördern, ist klar, und so hatte man auch anno 2008 wieder eines der wenig bekannten Mendelssohnschen Sing- oder Liederspiele ausgegraben. Das imaginäre Motto des Abends hieß allerdings "Jugend voran!", und das gleich in mehrerlei Gesichtspunkten. Zunächst erklang nämlich eine von Mendelssohns "Jugendsinfonien", nämlich die Sinfonia für Streicher Nr. 10 h-Moll, geschrieben anno 1823 im Alter von gerade mal 13 Jahren. Der Dirigent Fabian Enders geht mit seinen 20 Jahren da schon fast als "alter Hase" durch; er machte seine Sache gut, und das Westsächsische Sinfonieorchester in schmaler Besetzung (man kam mit zwei Kontrabässen und auch mit zwei Celli aus) folgte ihm willig. Die drei Sätze gehen direkt ineinander über und verraten den Einfluß von Mendelssohns Lehrer Carl Friedrich Zelter, einem alten Haudegen mit weit zurückliegender musikalischer Sozialisation, noch relativ deutlich - im "Riffing" etlicher schneller Parts meint man gar typische barocke Stilelemente wiederzuentdecken, was die spätere "Wiederentdeckung" Bachs durch Mendelssohn als keineswegs vom Himmel gefallen kennzeichnet. Die meist geradzahlige Anzahl der Partwiederholungen offenbart die Jugend und noch nicht ganz ausgeprägte Variationssicherheit des Komponisten, auch harmonisch und melodisch weicht Mendelssohn hier noch nicht von bekannten Pfaden ab (allenfalls die Tatsache, nun gerade den ersten Satz als Adagio auszuformen, ist eher ungewöhnlich). Die Kombination aus einigen lange ausgespielten Schwelgeparts und diversem Gesäge gelingt ihm, wenn man das geradzahlige Korsett außen vor läßt, aber schon recht gut, und gegen Ende hin fördert er gar noch ein hübsches Bratschensolo zutage, das in eine gesunde kompositorische Zukunft weist, die er ja dann auch tatsächlich haben sollte. Das Publikum wußte die gut gespielte Ausgrabung zu goutieren.
Hauptausgrabung ist aber das Singspiel "Die beiden Pädagogen", und da trifft oben genanntes Motto jetzt richtig zu: Ganze elf Jahre war der Komponist alt, als er dieses Werk schrieb, was ihn gleich hinter Mozart einreiht, da sich der achtjährige avantgardistische Dichter Gerald Bostock ja als Witz von Jethro Tull herausstellen sollte. Daß die Sängerriege noch recht jugendlich ist, versteht sich an der Hochschule ja von selbst, aber der Regisseur dieser halbszenischen Aufführung ist auch erst ganze 18 und hat noch nicht mal sein Abi in der Tasche - trotzdem handelt es sich bei Maximilian Klas schon um einen Menschen mit großer Erfahrung im schauspielerischen Bereich. Zusammen mit seiner gleichaltrigen Regieassistentin Johanna Scholbach gibt er dem Affen ordentlich Zucker, und das, obwohl man diesmal im Gegensatz zur 2007er Ausgrabung "Heimkehr aus der Fremde" keine neuen Sprechtexte geschrieben hat, sondern auf die historischen von Johann Ludwig Casper (zum Zeitpunkt der Entstehung des Werkes bereits im Greisenalter von 24) zurückgreift - das verhindert zugleich das Abdriften in den puren Klamauk, was der Stoff durchaus hergegeben hätte. Im Gegensatz zu "Heimkehr aus der Fremde" läßt sich das Sujet übrigens nicht in einem Satz zusammenfassen (es sei denn, man verschachtelt ihn noch mit 23 Nebensätzen), selbst wenn es sich nur um einen Einakter mit etwas mehr als einer Stunde Spielzeit handelt. Kurz zusammengefaßt: Gutsherr Robert will seinen 18jährigen Sohn Carl mit Hilfe eines Erziehers in einen Gelehrten verwandeln, wovon dieser freilich gar nichts hält, sondern lieber dem Drängen der Körpersäfte nachgibt und mit seiner Cousine Elise turtelt. Der Wiener Professor, den Robert engagiert, sagt allerdings ab, und statt seiner erscheint inkognito als Hochstapler Kammerdiener Luftig, der sogleich mit dem Dorfschulmeister Kinderschreck aneinandergerät, welchselbiger die Erzieherstelle eigentlich gerne selbst angetreten hätte. Luftig wiederum wird von Kinderschrecks Nichte Hannchen, die bei Robert als Gärtnerin arbeitet, enttarnt, da eine amouröse Affäre zwischen Hannchen und Luftig während einer Geschäftsreise Roberts nach Wien noch gar nicht so lange zurückliegt. (Warum heißen im 19. Jahrhundert - man denke an Lortzings "Opernprobe" - die Dienstmädchen eigentlich immer Hannchen? Ist das so eine Sammelbezeichnung wie "Sam" im Englischen? Hat das schon mal jemand untersucht?) Carl löst das Problem, indem er Luftig als seinen Kammerdiener einstellt, und so bleibt Robert nichts weiter übrig, als den Verbindungen zwischen Carl und Elise sowie zwischen Luftig und Hannchen zuzustimmen. Stoff für eine Operette also, und als eine solche dachte sie sich der kleine Mendelssohn auch, der nichtsdestotrotz schon hier ein großes Händchen beim Komponieren bewiesen hat. Freilich weist er mit zwei Ausnahmen noch nicht in die Zukunft, sondern verarbeitet Bekanntes auf traditionelle Art - aber auch dazu muß man als Elfjähriger erstmal in der Lage sein, noch dazu in der hier vorliegenden Stringenz. Von operettenhaften "Hits" hält sich der Komponist freilich fern, und es ist kein zweites "Da geh ich zu Maxim" zu entdecken - aber das war auch nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Schon die Ouvertüre jedenfalls, beginnend mit einem durchaus bekannten Thema, erweist sich als geschickt inszeniertes Stück Musik, und der Paukendonner am Ende stellte diesmal dankenswerterweise kein böses Omen dar: "Heimkehr aus der Fremde" hatte anno 2007 unter einem viel zu dominanten Orchester gelitten, das die Sänger häufig partiell oder ganz zudeckte - in "Die beiden Pädagogen" stimmte die Balance besser, unterstützt auch durch den Komponisten selbst, der vor allem im ersten Teil seinen Sängern einige Fast-A-Cappella-Passagen zum "Einsingen" gönnt. Zelter hat auch hier schon seine barocken Spuren hinterlassen, etwa im Terzetto Nr. 3, wo allerdings Elise, Hannchen und Carl unter etwas mangelndem Stimmkontrast litten. Der Übergang zu Terzetto Nr. 3a wiederum hat verdächtige Ähnlichkeit mit einem Pioniergelöbnis 150 Jahre später - das wäre der eine, freilich eher augenzwinkernde Blick in die Zukunft. Der andere kommt im Quartetto Nr. 8, wo Kinderschreck und Luftig sich über die pädagogischen Methoden von Pestalozzi und Basedow streiten, von denen beide wenig bis keine Ahnung haben - nach Meinung von Kennern das Lustigste, was der junge Mendelssohn je geschrieben habe, und so etwas Ähnliches wie Schostakowitschs "Antiformalistischer Rajok", wenngleich dieser natürlich unter ganz anderen Bedingungen entstanden war. Dieses Quartetto stellt klar den musikalischen Kulminationspunkt des Singspiels dar, nach dem der Spannungsbogen nur noch auf hohem Niveau gehalten wird und im Finale gar wieder deutlich abflaut - das eigentliche Finale ist bereits einen Programmpunkt früher erklungen, dort auch noch unter Hinzutreten eines Chores, der freilich mit den Solisten keine richtige Balance hinbekam. Von den Solosängern unterschritt keiner ein ordentliches Niveau, richtig glänzen konnte trotz überwiegender Hörbarkeit allerdings auch keiner, obwohl es schon einige Klassemomente zu bestaunen gab. Simon Wallfisch als Carl etwa wird nach hinten heraus immer stärker gefordert, und nachdem die Höhen im Quartetto Nr. 10 anfangs etwas zu angestrengt klangen, steigerte er sich im Verlaufe dieses Stückes doch deutlich. Britta Glaser als Hannchen ging trotz Angeschlagenheit ins Rennen und machte ihre Sache nicht schlecht - die nervös-ruckartigen Passagen gerade in Hannchens Eingangsarie könnte man fast als storyimmanent deuten, und die Verwirrung beim ersten Auftreten Luftigs atmete eine köstlich gespielte Struktur. Alexander Voigt als Luftig entpuppte sich als der Stimmgewaltigste unter den Sängern, während Ezra Jung als Kinderschreck eine für seine Stimmpräsentation undankbare Rolle hatte, schließlich hatte er einen klassischen Loser zu geben, der in seiner Aria Nr. 4 gleichermaßen überkanditelt wie durchsetzungsschwach zu singen hatte, sich dieser Aufgabe allerdings ohne Fehl und Tadel entledigte. Matthias Dennerl als Robert hatte das Pech, daß ihn genau in seinem Auftritt im Terzetto Nr. 7, als er überraschend nach Hause kommt und alle in die Schranken zu weisen hat, das Orchester so stark zudeckte, daß von einer Donnerstimme nur noch ein hintergründiges Säuseln übrigblieb. Paula Sophie Rummel als Elise rundete das Solistensextett ab, das beweist, daß es mit der Mathematik beim jungen Mendelssohn doch noch ein wenig gehapert hat, denn für das Finale schreibt er "Quartetto" als Satzbezeichnung, obwohl hier nicht vier, sondern alle sechs Solisten zu singen haben. Aber daran stört sich das gut aufgelegte Publikum im achtbar gefüllten Saal der Hochschule nicht, es ist vielmehr von der jugendlichen Energie und Frische, an der auch die Regiefraktion ihren Anteil hat (und sei es durch kleine Details wie den verstaubten alten DDR-Koffer, mit dem Lustig auf Roberts Gut auftaucht), angetan, und so fällt der Applaus denn auch bedeutend enthusiastischer aus als seinerzeit bei "Heimkehr aus der Fremde".



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