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Liedertour   20.07.2008   Chemnitz, Fata Morgana
von rls

Seit 18 Jahren gehen Sommer für Sommer Liedermacher im weitesten Sinne des Wortes (oder sollte man besser Liedinterpreten sagen?) im deutschsprachigen Raum gemeinsam und in unterschiedlichsten Konstellationen auf Tour: "Liedertour" nennt sich das Ganze, das demzufolge anno 2008 volljährig geworden, dank der Umtriebigkeit der zentralen Figur Frank Oberhof nebst einer mittlerweile gewonnenen Eigendynamik aber weit davon entfernt ist, mit zunehmendem Alter etwa gesetzter agieren zu wollen. Der Gig in der Chemnitzer Kellerbühne Fata Morgana (nomen est omen: Theater-/Kleinkunstbühne und orientalisches Restaurant gekoppelt, wobei die gastronomische Versorgung dort keineswegs Trugbilder aufbaut) markierte den Abschluß der 2008er Tour und war einer der Gigs, die unter ein Thema gestellt wurden: "Politisches Lied" war angesagt, und diesem Sujet näherten sich die fünf Künstler respektive Künstlerkollektive auf ganz individuelle Art und Weise.
Als Opener stand eine Formation auf der Bühne, die sich der Einfachheit halber Liedertour nannte und mehr Mitwirkende umfaßte als die ganzen restlichen Protagonisten des Abends summiert. Das Sextett aus Leipzig war ursprünglich ins Leben gerufen worden, um die "Begleitmusik" für ein ebenfalls vom Liedertour-Projekt koordiniertes Filmvorhaben namens "Diese Zeit hat es nie gegeben" (über eine BdM-Gruppenführerin und ihre politischen Gedanken und Wandlungen) zu fabrizieren; hierfür wählte man als textliche Vorlage Gedichte des Philosophen Albrecht Haushofer aus, welche dieser in nationalsozialistischer Haft in Moabit geschrieben hatte und die nach dem Krieg posthum unter dem Titel "Moabiter Sonette" herausgegeben wurden. Die "Begleitmusik", auf halbem Weg zwischen klassischem Singer/Songwriter-Stoff und relaxter Rockmusik angesiedelt, funktionierte jedoch, wie sich schnell herausstellte, auch ohne den Film als eigenständiges Kunstwerk. Komponiert weitgehend von Gitarrist/Sänger Francis D.D. String (Ex-King Creole), ließ die musikalische Beimengung den Texten immer genau so viel Raum, wie diese zur Entfaltung brauchten, und unterstützte den jeweiligen Gestus noch, indem etwa "Dem Ende zu" als leicht pathetische Hymne angelegt wurde, wohingegen das brandneue "Traumgesicht" besonders in den allein von Francis bestrittenen ersten zwei Strophen die intendierte Fragilität und Infragestellung jeglicher Art von Existenz nach dem Ende einer Beziehung (im Falle von Haushofers Text ja von vornherein auch noch mit dem Bewußtsein einer Nichtwiederkehr geschrieben) erstklassig zu transportieren wußte und im Saal eine Spannung erzeugte, die man förmlich mit Händen greifen konnte. Daß Haushofer selbst in der Todeszelle seinen Humor nicht ganz verloren hatte, zeigte etwa "Die beiden Frösche", eine alte Fabel verarbeitend, während die Zugabe (die man nicht nach dem eigenen Set, sondern en bloc nach dem kompletten Gig spielte) den Haushofer-Text auf Dylans "Hurricane" legte, was perfekt paßte. Auch gesanglich vielfältig inszeniert (neben Francis übernahm auch Cajónist Jann Leadvocals, und mit Per Edelmann hat man sogar noch einen festen Rezitator im Sextett) und musikalisch mit Akkordeon und selbstredend diversen Saiteninstrumenten ausstaffiert, ergab sich somit ein rundes Gesamtbild, das wie erwähnt auch außerhalb des Filmes und zudem erfreulich zielgruppenübergreifend funktioniert.
Michael Günthers dunkelschwarzen Humor kennt man ja bereits aus Songs wie "Der Phlegmatiker", und auch im sechssongigen Soloset plus Zugabe nahm dieser einen relativ breiten Raum ein, ohne allerdings alles mit einer dicken Humorteerschicht zuzukleistern - das hätte einem Song wie seinem Bericht über Zu- respektive Abwanderung aus der Großstadt Berlin, an deren Rande der Barde wieder wohnt (interessanterweise nämlich in der ehemaligen Poliklinik der DDR-Politikersiedlung in Wandlitz) auch nicht sonderlich gut getan. Im Güntherschen Bericht über den Weltuntergang und dessen freudige Erwartung in fröhlich zechender Runde ("Trinklied") wiederum nahm er eine tragende Rolle ein (wer Vicki Vomits "Heut ist Weltuntergang" kennt, wird ein inhaltliches Deja-vu erlebt haben), und auch im Schaffen von Günthers Band 50 Hertz geben sich lächelnde und um die Ecke zu denkende Parts locker die Klinke in die Hand - zwei der Songs fanden ihren Weg auch ins Soloprogramm dieses Abends, das Günther zumeist nur mit Gitarre und Gesang bestritt, in zwei Songs allerdings von Frank Oberhof am Piano akkompaniert. Stimmliche Ähnlichkeiten mit Grönemeyer sind immer noch da und gerade in der reduzierten Fassung deutlicher heraushörbar als im Bandkontext, aber es gibt weißgott schlechtere Sänger, mit denen man verglichen werden könnte. Guter Gig!
Mit Judy Gorman hatte es die Liedertour geschafft, eine Art lebende Legende der amerikanischen Protestliedkultur an Bord zu holen, genau 25 Jahre nach ihrem ersten Auftritt auf deutschem Boden in der seinerzeit noch real existierenden DDR im Rahmen des Festivals des politischen Liedes (Klein-Roland sammelte damals die Zeitungsausschnitte mit der Festivalberichterstattung aus der "Jungen Welt" - leider ist das Material verlorengegangen), zu dem sie durch Vermittlung von Pete Seeger, noch so einer Ikone, gekommen war. Und Judy bewies in ihren sechs Songs, daß ihre politische Wachsamkeit keineswegs nachgelassen hat, wenngleich sie durch einen gewissen Prozentsatz Altersweisheit ergänzt worden ist (das Alter von Frauen verrät man ja im Regelfall nicht, aber hier muß eine Ausnahme gemacht und erwähnt werden, daß sie immerhin schon 61 ist). Zwei Songs über Frauenproblematiken standen am Anfang, der erste durch den Verzicht auf jegliche Instrumente, von zurückhaltenden Percussions abgesehen, gleich einen äußerst eindrucksvollen Blick auf die immer noch klare und technisch fähige Stimme (starke Tongleitungen!) ermöglichend, der zweite dann die Gitarre statt der Percussion hinzufügend, was bis zum Setende die gebotene Musik determinieren sollte. Danach kam die Ansage "Entschuldigung for my president" und der thematische Wechsel in die große Politik samt Krieg und allem, was dazugehört, zudem mit einer weiteren Widmung: "Shine For Freedom" (oder so ähnlich) dedizierte Judy allen Menschen wie Frank Oberhof, die derartige Aktivitäten wie die Liedertour oder Dutzende, Hunderte, Tausende andere, die zur Schärfung des politischen Bewußtseins der Zuhörer beitragen, organisieren. Recht so!
Nach der Pause traten zunächst die Gastgeber in Erscheinung, nämlich Quijote, laut Ankündigung ein Trio, in der Livesituation aber auf ein Duo reduziert, das zugleich die Fata Morgana betreibt und für einen nicht unerheblichen Teil der dort inszenierten Theaterprogramme verantwortlich zeichnet, über die sich der Liebhaber auf www.fatamorgana-chemnitz.de informieren kann. Sabine Kühnrich und Ludwig Streng brachten eine weitere stilistische Facette ein, nämlich chansoneske Klänge, selbstredend in einem Song wie "Grand Ile" (über ebenjene Insel, die da irgendwo außerhalb der Bretagne im Atlantik liegt) am deutlichsten ausgeprägt. Zudem bemerkte man deutlich, daß die löwenmähnige Sängerin auch eine Theaterausbildung haben muß, so virtuos spielte sie auf der Klaviatur der Mimik, während sich Ludwig Streng um die reale Klaviatur des auf der Bühne stehenden Tasteninstrumentes samt Kompositionen, Arrangements und Zweitgesang kümmerte, lediglich den Wunsch offenlassend, bei der Intervallik der Zwiegesänge noch ein wenig mehr Variabilität einzubauen. Einige kurze Verbalabhandlungen von Sabine waren so geschickt eingeflochten, daß man sie für pure Ansagen hätte halten können, und ihre Singstimme ließ Überlegungen aufkommen, wo man Ähnliches schon mal gehört habe. Die Antwort ist paradox: Beim Oktoberklub in "Die Taube" - was irgendwie dann doch ins Bild paßte.
Jörg Kokott kennt nicht nur der Insider der ostdeutschen Folkszene von Wacholder, aber an diesem Abend stand er solistisch auf der Bühne, puristisch noch dazu, denn im Gegensatz zu den anderen Beteiligten verzichtete er auf elektrische Verstärkung von Gesang und Akustikgitarre. Zog der Opener "Patrona Bavariae" dem Publikum vor Lachen die Schuhe aus, sofern einem dieses nicht im Halse steckenblieb (es ging tatsächlich um deutsche Waffen, mit denen mittlerweile auch die deutschen Soldaten am Hindukusch bedroht werden - die Annahme, die Originalkomponisten des Liedes müßten doch Original Napalm Duo heißen, liegt also nicht fern), so wechselte der Barde danach mehrmals das Fach, zunächst mit einem Rühmkorf-Text (zu dem draußen ein Platzregen niederging - was soll uns das nur sagen?) und einem Lied, das in seinem noch nicht konservierten Heine-Programm steht, wonach er sich dann allerdings darauf verlegte, das Politische im Zwischenmenschlichen zu suchen, wobei er leider nur bedingt fündig wurde, mit "Die anderen sind das weite Meer, Du aber bist der Hafen" aber zumindest das schönste sprachliche Bild des ganzen Abends herüberbrachte. Wie eingangs erwähnt strukturierte man den Zugabenteil anschließend um, und in etwas durcheinandergewürfelter Reihenfolge spielte jeder der fünf Beteiligten noch ein Lied, damit einen leider nur schwach besuchten, aber nicht nur thematisch interessanten Abend und damit auch den offiziellen Teil der XVIII. Liedertour 2008 abschloß. Über die XIX. Liedertour, Einzelgigs und andere wissenswerte Dinge informiert www.liedertour.de



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