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Johann Christian Bach: Catone in Utica   11.04.2008   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Das Genre "Oper" ist nicht unbedingt dasjenige, was man mit der Musikerfamilie Bach in Verbindung bringt - aber nichtsdestotrotz gibt es auch diesbezüglich den einen oder anderen familiären Beitrag, nämlich von Johann Christian Bach, dem jüngsten Filius des großen Johann Sebastian, zugleich auch der weitgereisteste seiner Söhne, den es nach längeren Italien-Stints letztlich nach London verschlug. Sein Opernschaffen begann allerdings schon in Italien, und als Zweitling widmete er sich dem Libretto "Catone in Utica" von Pietro Metastasio, dessen Name der heutige Krebspatient sicher nur bedingt lustig finden wird. Immerhin begab sich Bach mit dieser Wahl in namhafte Konkurrenz beispielsweise von Schwergewichten der "Szene" wie Vivaldi oder Händel, die sich dieses Librettos auch schon angenommen hatten; letztlich sind bis heute knapp 30 Vertonungen nachweisbar. Gemeistert hat er die Herausforderung gut, das sei vorweggenommen - und somit darf sich die Hochschule mal wieder eine interessante Ausgrabung gutschreiben lassen, unterstützt durch das Bach-Archiv Leipzig, mit dem übrigens vor Beginn der Aufführung auf der Bühne ein offizieller Kooperationsvertrag unterzeichnet wird.
So ganz hat sich Bach allerdings nicht an den Originaltext des Librettos gehalten (der zudem auch noch in zwei Fassungen existiert), und wenn man der Oper eine Schwäche ankreiden will, dann diese. Durch diverse Streichungen und Umstellungen hat sich nämlich auch die dramaturgische Folge verändert, wird stellenweise gar unlogisch, und der zentrale Konflikt zwischen Catone (nein, nicht derjenige Cato, der seinen Mitrömern durch das mantraartig wiederholte "Im übrigen meine ich, daß Karthago zerstört werden muß" den Nerv raubte) und Cesare erscheint, wenn man ausschließlich die hier dargebotenen Texte als Grundlage nimmt, gar nicht so unlösbar, wie dies original vorgesehen war - das Programmheft bietet hierzu einige detaillierte Analysen. Kurz zusammengefaßt ist als Hauptkonflikt der zwischen Catone, dem seine Freiheit über alles, selbst das eigene Leben, geht, und Cesare, der die verantwortungsvolle Diktatur als ultimative Herrschaftsform preist, intendiert. Cesare, der Catone militärisch besiegt hat, begreift die Verantwortung dahingehend, daß er Catone als Freund und Ratgeber wünscht, beißt bei diesem damit aber auf Granit. Zwischen den Stühlen sitzt Catones Tochter Marzia, die sich ausgerechnet in Cesare verknallt hat, letztlich aber von diesem wieder abrückt und statt dessem dem unauffälligen Arbace die Hand reicht, der sie schon länger anbetet. Die beiden letzten Figuren Emilia und Fulvio (Bach kommt mit sechs Protagonisten aus) spielen eher randständige Rollen, sind aber immer dafür gut, dem Geschehen Wendungen zu verleihen. Nach etlichem Hin und Her kulminieren die Dinge zum Schluß: Catone ist nicht in der Lage, seiner Tochter den als solchen deklarierten Verrat an den eigenen Zielen zu verzeihen - Freiheit ist für ihn also keineswegs im luxemburgischen Sinne "die Freiheit der Andersdenkenden" -; Ivanhoe läßt hier freundlich grüßen, aber dort gibt es ja zumindest für dieses Konfliktfeld ein Happy End, hier nicht, auch wenn Marzia und Arbace nur bedingt unglücklich über die neue Verbindung zu sein scheinen, obwohl auch diese nicht hilft, Catone vom Suizid abzuhalten, in den ihn seine Niederlage gegenüber Cesare trotz dessen bekundeter Großmütigkeit stürzt. Emilias Rachefeldzug gegen Cesare verschärft die Situation eher zu dessen Gunsten, Fulvio steht sowieso immer auf der Seite der scheinbaren Sieger, und Cesare steht am Ende trotz seines Sieges als klassischer Verlierer da, was mit dem Ablegen seines Siegeslorbeers offenkundig wird. So haben am Ende außer Arbace alle verloren (Arbaces kleiner Triumph ist im Gesamtbild allerdings nur als marginal einzustufen), und so erscheint es eigenartig, daß eine derartige Oper ausgerechnet zu den Namenstagsfestlichkeiten des neapolitanischen Königs gegeben wurde, denn das Herrscherhaus hätte sich in der Verliererrolle unzweifelhaft selbst erkennen können. Aber es geschah so, und die strenge Wirkung wurde seinerzeit noch durch zwischen den Akten aufgeführte Tanznummern gemildert. Diese Praxis hat die Hochschule für ihre Aufführung übrigens übernommen, wobei die Zwischenakttänze im oberen Foyer stattfinden, der Tanz nach dem abschließenden dritten Akt aber auf der Bühne, wodurch zugleich der äußerst eigenartig gestaltete Schluß der Oper (man endet mit einem Rezitativ) noch eine Marginalisierung erfährt.
"Historische Aufführungspraxis" steht als unsichtbares Schlagwort über der Hochschulaufführung, die an diesem Abend als Arbeitsstand-Voraufführung gegeben wird - die eigentliche Premiere steht zwei Monate später im Rahmen des Leipziger Bachfestes an. Allerdings: So viel Korrekturbedarf besteht für die noch verbleibende Zeit nicht mehr, denn das Ganze gibt schon eine mehr als runde Figur ab. Die Ouvertüre ist dreiteilig im klassischen Schnell-Langsam-Schnell-Schema gehalten und macht schon deutlich, was klanglich zu erwarten ist, nämlich eine deutliche Dominanz der Violinen zumindest in den stärker orchesterdeterminierten Parts - eine Entscheidung, die sich an der Besetzung des Neapeler Theaterorchesters orientiert, das anno 1761 die Erstaufführung bestritten hatte und ähnlich violinendominiert war. Die Cembali haben nicht nur in der Ouvertüre hauptsächlich Klangteppichfunktion zu erfüllen, und der interessanteste der drei Teile ist der hier extrem langsam, aber stimmungsvoll dargebotene zweite. Die Bühne verbleibt über weite Strecken der Aufführung übrigens ohne Ausstattungsstücke, lediglich mit goldbraun gemustertem Holz und einem blauen Hintergrundhimmel, der ein paar Wolken und eine undeutliche Hügelkettenlinie zeigt, versehen; erst im zweiten Akt kommen zwei Sitzgelegenheiten hinzu und im dritten schließlich noch ein paar Trümmer, die auf den Kampf zwischen Catones und Cesares Legionen hindeuten. Auch die Lichteffekte glänzen durch äußerste Spartanität, und so verbleibt die Wirkungserzeugung allein auf den Schultern der sechs singenden Protagonisten, welchselbige übrigens in barocker und nicht in antiker Manier gekleidet sind (sollte die Asymmetrie in Emilias Korsett Absicht gewesen sein?). Die Schultern halten das dadurch auf ihren lastende Gewicht allerdings gut aus - immerhin hatte Bach seinerzeit einige von Europas besten Sängern zur Verfügung und spickte die Arien mit technischen Schwierigkeiten, die erstmal bewältigt werden wollen. Fast allen der jeweils ersten Arien des Sextetts beschrieb er eine teils ausgedehnte Solokadenz ein, die im Falle von Marzia bis auf ein ausgedehntes hohes G hochgeht - Anastasia Peretyahina entledigt sich dieser Aufgabe in derart gekonnter Manier, daß sie frenetischen, von Bravorufen durchsetzten Szenenapplaus erhält; möchte nicht wissen, wie lange man üben muß, um diese Passage vernünftig hinzubekommen (und was ihre WG-Mitbewohner oder Nachbarn in dieser Zeit so gedacht haben müssen ...). Schon die Koloraturen in einem früheren Stadium ihrer ersten Arie aber sind technisch so schwierig, daß Mozarts Zauberflötennachtkönigin (deren Tonhöhenmaximum einen Ganzton weiter unten liegt) dagegen wie eine einfache Einsingübung anmutet. Auch hier macht die Sängerin eine gute Figur und positioniert sich summiert eindeutig als die Gewinnerin dieser Aufführung, was auch beim Abschlußapplaus seinen Widerhall findet. Das soll aber nicht heißen, daß der Rest schlecht gewesen wäre - im Gegenteil: Auch Agnes Selma Weiland in der Titelrolle leistet hervorragende Arbeit beispielsweise in der Atemtechnik ihrer ersten Arie, wo ihr Bach diverse enorm lange Passagen beschert hat, wo man nur ganz blitzartig oder gar nicht Luft holen kann. Julia Kirchner als Cesare wiederum entspricht stimmlich so gar nicht dem Bild des Imperators und Triumphators, sondern kann sich vor allem in den tieferen Passagen kaum durchsetzen - ein interessanter Kontrast, bei dem die Quellenlage zu befragen wäre, ob er original so intendiert war. Christiane Wiese als Arbace ist eigentlich krank, singt aber trotzdem und macht keine schlechte Figur, wenngleich man an diversen abkippenden Enden und einer schwereren Atmung schon zu bemerken glaubt, daß sie nicht ganz fit ist. Julla Schmidt als Emilia fällt nicht weiter aus dem Rahmen, auch Jozsef Gàl als Fulvio singt solide und nicht weiter auffallend. Wer die Namen verfolgt hat, dem sind diverse "Hosenrollenbesetzungen" aufgefallen, und das ist ein kleiner weiterer, aber wohl kaum lösbarer Problemfall: Da sich die Stimmen von Marzia, Emilia, Catone und Cesare auch noch sehr stark ähneln, verliert das eigentlich am dramatischen Höhepunkt im dritten Akt plazierte Quartett (das aufgrund der eingangs erwähnten Umstellungen im Libretto allerdings bedeutungsseitig ins Leere zielt) an Dynamik, an Konfliktpotential, eigentlich sogar an Sinn. Wer darüber trauert, den entschädigt allerdings spätestens der Cembalo-Trauermarsch in Catones letzter Arie oder allerspätestens Agnes Selmas erstklassiges Pianissimo in der Höhe. Ein mäßig dramatisches Interludium holt alle wieder auf den Boden zurück, Catone ist tot (im Originallibretto starb er auf der Bühne, aber das wollten die Italiener im 18. Jahrhundert nicht sehen) und die Oper nach dem Niederlegen des Lorbeers durch Cesare zu Ende, ergänzt noch durch die erwähnte "Tanzzugabe". Wer im Juni beim Bachfest zugegen ist, sollte sich die dortige Aufführung nicht entgehen lassen.



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