www.Crossover-agm.de Alcina   13.06.2006   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

"Too much love will kill you", verkündete Queen-Gitarrist Brian May in einem der besten Songs seines 1992er Soloalbums "Back To The Light". Ob er dabei zweieinhalb Jahrhunderte zurückgedacht hat, als Georg Friedrich Händel auf der Suche nach brauchbaren Opernstoffen auf eine Mehrfachbearbeitung stieß? Ein gewisser Antonio Marchi überarbeitete ein Libretto von Antonio Fanzaglia namens "L'isola di Alcina", welches jener wiederum aus einer Episode aus Ludovico Ariosts "Orlando Furioso" extrahiert hatte. Mit Händels Musik versehen und in einer zweisprachigen deutsch-italienischen Fassung (die Rezitative kamen in deutsch, die Arien blieben in italienisch) dargeboten wären wir beim Gegenstand: die Zauberoper "Alcina" als 2006er Opernprojekt an der Hochschule, diesmal also eher eine Ausgrabung, denn so häufig findet man dieses Werk nicht auf den Spielplänen nicht nur deutscher, sondern auch internationaler Bühnen. So ganz im Trend liegt Barockoper momentan ja nicht, und wenn's denn doch eine sein soll, hat man allein bei Händel reiche Auswahl.
Nun also "Alcina": Die Titelheldin beherrscht eine Insel und hat als bekennende Femme fatale die Angewohnheit, jeden verwertbaren Mann an sich zu binden, den es irgendwie auf ihre Insel verschlägt. Da sie auch noch über Zauberkräfte verfügt, ist das auch kein strukturelles Problem und läßt sich ohne Haremsbildung lösen - sobald ein neuer Kandidat kommt, wird der alte kurzerhand in einen Baum, einen Felsen oder ein Tier verwandelt und besitzt so auch noch Nutzwert zur Verschönerung der Insel. Dieses Schicksal hat auch einen gewissen Astolfo getroffen, und sein Landsmann Ruggiero macht sich auf die Suche nach ihm. Aber auch er kehrt nicht zurück, und so entschließt sich seine schwangere Verlobte Bradamante, eine weitere Suchexpedition zu starten, begleitet vom Quasi-Geistlichen Melisso, der das Problem durchzustrukturieren versucht. Da allerdings keine Frauen auf die Insel reisen dürfen, muß sich Bradamante als Mann verkleiden. So gelangen beide auf die Insel und schaffen es mittels einiger nicht immer so ganz logisch erscheinender Mittel, analog attributierten Geisteswandlungen einzelner Personen und einer Portion Glück, den derzeit tatsächlich als Liebhaber an Alcina gebundenen Ruggiero zu befreien. Letztlich fällt selbst Morgana, Alcinas Schwester, von dieser ab, beendet ihr polygames Dasein auf ebenfalls nicht so ganz nachvollziehbare Art (vermutlich hat einer der drei eingangs genannten Schreiberlinge hier und da mal zu stark an dem auf der Insel verbreiteten grünen Partygetränk genippt, gegen das selbst das gefährliche euphorisierende Bergsteigermittel Pervitin, mit dessen Hilfe 1950 der erste Achttausender bezwungen wurde und Hermann Buhl seinen legendären 1953er Alleingang auf den Nanga Parbat überlebte, völlig harmlos sein muß) und findet zur Zweisamkeit mit einem gewissen Oronte, einem zwischen sympathisch und unglücklich dahinpendelnden Menschen, dessen paramilitärisches Gehabe mehr oder weniger auf die Optik beschränkt bleibt. Trotz alledem ist Alcina noch keineswegs besiegt - hier hilft mal wieder nur eine wenig logische Geistesverwandlung: Als sie merkt, daß sich Ruggiero von ihr abkapselt, gibt es nicht etwa eine Trotzreaktion, auch keinen Kampf oder gar einen kurzen Prozeß, vielmehr wird Alcina hier (was ihrer bisherigen Rolle völlig widerspricht) plötzlich eine Fähigkeit zu aus unerwiderter Liebe resultierender Melancholie oder gar Depression angedichtet, und in ebenjenem Zustand kann sie letztlich von der Befreiungsmannschaft, zu der sich auch Astolfos Sohn Oberto gesellt hat, der inkognito auf der Insel eingedrungen war, besiegt werden. Bradamante und Ruggiero haben sich wieder genauso doll lieb wie früher, Morgana und Oronte auch, und Melisso als an Familienleben offensichtlich Uninteressierten grämt es keineswegs, daß keine Frau für ihn übriggeblieben ist. Alle verflossenen Liebhaber werden vom Zauber befreit, und Astolfo ist somit auch wieder da.
Die bisweilen weglos um drei Ecken führende Handlung verhindert natürlich nicht prinzipiell, daß diese Oper in der Hochschulbühnenversion, inszeniert von Jasmin Solfaghari, Spaß machen könnte. Gewohnt souverän von Helmut Kukuk geleitet und am Cembalo begleitet, legt eine vergleichsweise kleine Besetzung des Hochschulorchesters den instrumentalen Teppich, der natürlich barock as barock can ausfällt, was die verwendeten Stilmittel (nicht den hier eher dezenten Prunk!) angeht. Die Übertitelung macht es möglich, den Arientext problemlos nachzuvollziehen, was bei den Rezitativen allerdings nicht gelingt: Trotz der Verwendung deutscher Texte versteht man von den handlungsvorantreibenden Elementen eher wenig - und das, obwohl die Sänger ausnahmslos keine schlechten sind, in einigen Arien gar das schwierige Kunststück demonstrieren, auf der Seite liegend und mit dem Mund in unmittelbarer Nähe des Bodens immer noch so zu singen, daß im Auditorium genügend Volumen ankommt. Alle sieben bühnenaktiven Personen bewältigen ihre Partien ohne Probleme - aber leider auch ohne zu glänzen; nicht einmal Viktorija Kaminskaite in der Titelpartie spielt ihr zweifellos vorhandenes Potential voll aus. Am besten gelingt dies noch der 2005er Lortzing-Gesangspreisträgerin Linlin Fan als Morgana und dem schon 2004 in "Salon Pitzelberger" positiv aufgefallenen Tobias Hunger als Oronte, der zudem zusammen mit Morgana auch für die erotischsten und zugleich komischsten Momente der Inszenierung verantwortlich zeichnet (köstlich die Szene, als Alcina ihn durch Wegnahme seines bunten, offensichtlich als Eintrittskarte dienenden Halsschmuckes von einer Party ausschließen will und er, sein Hemd aufknöpfend, darunter eine analoge Ersatzeintrittskarte hervorholt). Wenig überzeugen kann dagegen Verena Usemann als Ruggiero, die offensichtlich versucht, in ihrer "Hosenrolle" besonders männlich, fast kühl zu wirken, dabei aber völlig vergißt, daß Ruggiero durchgängig als hochemotionale Person handelt. Das ist die generelle Krux dieser Aufführung: Die großen Emotionen fehlen bzw. können oftmals nicht adäquat umgesetzt werden. Wenn der Rezensent, an diesem Abend immerhin von einer wunderschönen Frau begleitet, nicht mal auf die Idee kommt, Einzelbotschaften aus der Oper oder gar das über allem schwebende Motto "Wahre Liebe siegt" gedanklich in die Realität hinüberzuretten oder dies per "Was wäre wenn ..."-Fragestellung wenigstens zu versuchen, muß irgend etwas unfertig geblieben sein.
Gewiß, das alles ist solide gemacht, was da geboten wird, und man geht angesichts der diversen Positiva (zu denen auch das simple, aber wirkungsvolle Bühnenbild und die hochschultypisch gute Beleuchterleistung gehören) keineswegs richtig enttäuscht nach Hause, aber im Vergleich mit der positiven Verrücktheit der funkensprühenden Version des 2005er "Barbier von Sevilla" oder aber der verstörend-beklemmenden 2004er Version von "The Turn Of The Screw" kann die 2006er "Alcina" nicht mithalten. Der vergleichsweise müde wirkende Zwischenapplaus für einzelne gelungene Arien kann auch als äußeres Anzeichen für diese These gewertet werden, wenngleich man am Schluß den Akteuren trotzdem etliche Vorhänge gönnt. Steigerungsmöglichkeiten fürs nächste Projekt läßt diese "Alcina" aber durchaus offen.



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