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Il Barbiere di Siviglia   09.06.2005   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Nur gut, daß diese Oper nicht in Rom spielt. Sonst hätte die Kreativabteilung der Hochschule wohl kaum so viel Gelegenheit gehabt, unter Beweis zu stellen, was man aus den Buchstaben des Wortes "Sevilla" (auch "Siviglia" hätte hier weniger Möglichkeiten geboten, da nur zwei verschiedene Vokale enthalten sind und nicht drei) so alles für neue Worte zusammensetzen und irgendwie ins Konzept der Oper einflechten kann. Das Erstaunliche dabei: Trotz aller für sich betrachtet fast befremdlichen Einwürfe und Ideen kommt das Konglomerat so homogen, hochwertig, unplatt komisch und trotzdem noch tiefgründig daher, daß man als Zuhörer und -schauer, so man nicht der Theorie "Alles, was nach Felsenstein kommt, taugt nix" anhängt, sich glänzend unterhalten und dabei doch nicht veralbert fühlt.
Was hat Gioacchino Rossini (den das Programmheft interessanterweise als eine Art "depressiven Gourmet" positioniert) in seine erste richtige Erfolgsoper gelegt? Im Prinzip handelt es sich oberflächlich betrachtet um eine Geschichte, die ohne weiteres auch von Peter Steiners Theaterstadl hätte auf die Bühne gebracht werden können: Der griesgrämige Doktor Bartolo will die unter seiner Vormundschaft stehende Rosina, die allein schon aufgrund des Titels in die Serie "Reich und schön" gepaßt hätte, heiraten, woran diese selbstredend kein Interesse zeigt, für diese Verweigerung aber in Kauf nehmen muß, daß sie außer ihrem Musiklehrer Basilio und dem Friseur Figaro quasi keine Kontakte zur Außenwelt besitzt. Da taucht der Graf Almaviva in der Stadt auf, der Rosina liebt (woher er sie eigentlich kennt, das verrät uns Rossini nicht) und inkognito seine Eroberungsmaßnahmen beginnt. Rosinas Herz hat er schnell gewonnen (vielleicht ein bissel arg schnell - zum Zeitpunkt des Liebesbriefes Rosinas an den unter dem Pseudo Lindoro agierenden Grafen weiß sie praktisch nahezu nichts über ihn, was die Sache zu einer Art Blind Date mutieren läßt), aber Bartolo scheint ein nahezu unüberwindliches Hindernis darzustellen. Ein erster Versuch, sich als alkoholisierter Offizier mittels eines gefälschten Einquartierungsbefehls bei Bartolo einzunisten, scheitert, und der zweite Versuch, als Vertreter des Musiklehrers ins hermetisch abgeschirmte Haus zu kommen, scheint zwar zu gelingen, aber Bartolo belauscht die Fluchtpläne von Rosina und dem Grafen, weshalb er die Stadtwache anrücken läßt und zudem den Notar herbeibestellt, um Rosina auf der Stelle selbst zu heiraten. Dummerweise kommt der Notar schon an, als Bartolo noch unterwegs ist, und der Graf besticht den Notar, doch kurzerhand seine Eheschließung mit Rosina zu beurkunden. Bartolo, vor vollendete Tatsachen gestellt, darf letztlich immerhin noch Rosinas Geld behalten, da der Graf anderweitig materiell abgesichert ist, und irgendwie sind am Ende alle glücklich und zufrieden.
Nun könnte jemand daherkommen und fragen, wo denn eigentlich Figaro, also der Friseur, bleibt - außer in der strukturellen Außenkontaktaufzählung ist er in der Story noch nicht vorgekommen. Und tatsächlich: Als die Oper 1816 uraufgeführt wurde (in Rom übrigens - der Erfolg stellte sich erst am zweiten Tag ein, als nach der Aufführung eine Spontanfangemeinde vor Rossinis Hotel aufmarschierte, die der Jüngerschar in "Das Leben des Brian" kaum nachgestanden haben dürfte), lautete der Titel "Almaviva ossia L' unitile precauzione", damit den eigentlichen Zentralprotagonisten nennend. Der Friseur Figaro dagegen leistet zwar strukturelle Hilfsdienste, damit die Handlung tatsächlich so ablaufen kann wie angedacht - so bedeutsam ist er aber eigentlich gar nicht, denn mit ein wenig Zivilcourage hätte Almaviva das auch alleine bewältigen können (eine Parallele zum Tamino in Mozarts "Zauberflöte", der, wäre er als echte Heldenfigur gezeichnet worden, die Schlange in der Anfangsszene locker alleine zur Strecke gebracht hätte, aber dann wäre die Oper eben auch gleich wieder zu Ende gewesen). Aber wie das mitunter auch im realen Leben so ist: Verliebte Männer brauchen manchmal ein wenig strukturelle Unterstützung ...
"Geld oder Liebe" ist der eigentliche doppelte Boden in der Oper (und damit der Grund, wieso sie doch etwas mehr beinhaltet als Peter Steiners Theaterstadl). Scheint sich zunächst Figaro als Plutokrat zu erweisen (was seiner Darstellung als "alter Freund" des Grafen einige Risse verleiht - ein alter Freund hätte, sofern er sich nicht in akutester Finanznot befindet, was hier aber nicht gegeben ist, für die "Kupplungsdienste" niemals Geld genommen), so geht dieser Charakterzug schnell auf - Überraschung - den Grafen über (nicht auf Bartolo, denn bei dem ist ja von vornherein klar, daß er es nur auf Rosinas Geld abgesehen hat). Almaviva erbringt in dieser Oper den praktischen Beweis, daß man mit ein paar Scheinen zur rechten Zeit eigentlich alles erreichen kann, was man möchte (er besticht nacheinander erfolgreich, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise, Figaro, den Musiklehrer Basilio, den Notar, der Logik folgend wahrscheinlich auch die Stadtwache sowie letztlich auch noch Bartolo, als er diesem Rosinas Vermögen überläßt), und er hält damit der Gesellschaft einen völlig zeitlosen Spiegel vor. Im paradoxen Gegensatz dazu steht seine Handlungsweise Rosina gegenüber, denn seine Inkognito-Eroberung widerspricht seinem sonstigen plutokratischen Handeln eigentlich völlig. Hat der (bekanntermaßen depressive) Rossini hier noch einen geringen Hoffnungsschimmer unterbringen wollen, daß es vielleicht doch noch eine Sache auf Erden geben könnte, wo das Geld nicht die Hauptrolle spielt? Die Frage bleibt offen - Rossini beantwortet sie nicht, und wir wollen uns auch nicht zu Beantwortern aufschwingen.
Zurück zur Leipziger Hochschul-Inszenierung: Die kommt mit einem äußerst spartanischen, aber trotzdem wirkungsvollen Bühnenbild aus, dessen Dominanten neben einer schiefen Ebene (auf der sich das nahezu komplette Geschehen abspielt) sieben rote Buchstaben darstellen: S, E, V, I, L, L und A. Mit denen spielt das Darstellerteam Scrabble und macht damit den einen oder anderen der im Einleitungsabsatz bereits erwähnten Einfälle etwas transparenter - allen voran natürlich den der Figur des Musiklehrers Basilio, der als Elvis auftaucht (es zeigt sich Rossinis Weitsicht, daß er die Oper eben nicht in Rom spielen ließ :-)). Überhaupt sind einige Querverweise zum rezenteren Musikgeschehen eingebastelt worden: Daß die Stadtmusikertruppe, die Almavivas Diener Fiorillo (der in der ganzen Geschichte merkwürdig zusammenhanglos agiert) in der Eröffnungsszene zusammenstellt, in puncto Gitarren-Posing ihre Lektion gelernt hat, steht für den rockmusikerfahrenen Besucher außer Frage, und die klassische Minnesangszene Almavivas und Rosinas durch einen Gitarristen begleiten zu lassen, der wie ein Bastard aus Jimi Hendrix und Bob Marley aussieht und zudem aus dem Boden der schiefen Ebene emporsteigt, als würden hier gerade Kiss spielen, darf ebenfalls als guter Einfall gewertet werden. Ansonsten greift die Deko-Mannschaft mal auf einen passend-verstaubten DDR-Standard (die Karoweste von Bartolo!), mal auf bundesdeutsche Rezenz (die Stadtwache ist ausgerüstet wie die GSG-9) zurück. Das von Helmut Kukuk gewohnt souverän geleitete Orchester tut das, wofür es da ist - mitunter auch etwas zuviel, denn die gewiß nicht gerade zu den Leisesingern zählenden Solisten haben nicht selten Mühe, sich akustisch Gehör zu verschaffen. Das ist in einigen Fällen mehr als schade (ganz besonders bei Ruth Engel, die eine erstklassige Rosina gibt und in allen geforderten stimmlichen Facetten brillieren kann), in anderen vielleicht nicht ganz so (etwa bei Shin-Hyung Park als Almaviva, der sich zwar rein stimmlich keine Blößen gibt, aber zumindest im Deutschen - die italienischen Passagen lasse ich bei der Betrachtung mangels Sprachkenntnissen außen vor - noch deutliche Defizite bei der korrekten Aussprache offenbart, wenngleich man ihm seit "Salon Pitzelberger" durchaus eine Weiterentwicklung in die richtige Richtung attestieren kann). Trotzdem: Der Gesamteindruck des Abends stimmt, und darauf kommt's ja eigentlich an. Äußeres Zeichen dafür ist die Tatsache, daß auch die fünfte Vorstellung (die der Rezensent samt seinen beiden ebenfalls sehr positiv gestimmten Begleiterinnen gesehen hat) noch sehr ordentlich besucht ist und man mit der Produktion wenige Tage später sogar noch zwei Gastspiele in Ungarn geben darf, darunter eins auf einer Bühne in einer Tropfsteinhöhle. Wer kann sowas schon von sich behaupten?



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