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Toxic Smile Goes Classic   05.03.2005   Waldenburg, Schloß
von rls

Schlösser besaßen früher für die Musikpflege größte Bedeutung, waren es doch gerade die Hofkapellen, die für ein kulturell hochstehendes Leben Sorge zu tragen hatten. Wie fortschrittlich (= progressiv) die Musizierergebnisse ausfielen, war allerdings durch zahlreiche Einflüsse determiniert: den Geschmack des Schloßherrn (logisch), das Können der Musiker (auch logisch), aber auch das Umfeld. Heute hat sich viel geändert, der Löwenanteil der Musikpraxis findet nicht mehr in Schlössern statt, aber die drei erwähnten Faktoren spielen noch immer eine Rolle, wenn es um Musik in einem Schloß geht: Der Schloßherr (sei er privater oder öffentlicher Natur) kann immer noch entscheiden, welche Sorte Musik aufgeführt werden darf (ein Black Metal-Gig in einer niedlichen barocken Schloßkapelle etwa dürfte auch in den Folgejahren positiverweise zu den Undenkbarkeiten zählen), ohne entsprechend versierte Musiker geht auch heute noch nicht alles (und das ist auch gut so), und ein entsprechendes Umfeld gehört immer noch zu den entscheidenden Erfolgsdeterminanten. Toxic Smile nun hatten sich für einen ganz besonderenn Gig das Schloß in Waldenburg ausgesucht, den einzigen Schloßneubau Sachsens im 20. Jahrhundert, den sich die Grafen von Schönburg kurz vor dem Ersten Weltkrieg noch hinsetzen ließen. Und damit wählten sie ein Ambiente, das dem Anlaß voll und ganz gerecht wurde und eine angemessene edle Atmosphäre schuf. Der rezente Schloßherr hatte gegen das musikalische Event offenbar auch nichts einzuwenden.
Was aber erklang nun? Die Headline deutet es bereits an: In zweijähriger Arbeit (das erste Jahr noch eher locker, das zweite Jahr dann immer mehr auf Hochtouren kommend) hatten Toxic Smile einen Stapel ihrer Songs umarrangiert, und zwar in eine Version für Band und Orchester. Das ist prinzipiell erstmal nicht neu - andere Bands haben das auch schon gemacht. Doch was für Bands? Metallica, Rage, die Scorpions - Große des Geschäftes also. Aber eine Undergroundband, und sei es eine so gute wie Toxic Smile? Das erscheint mehr als ungewöhnlich, und daß aus finanziellen Gründen folglich nicht die Londoner Sinfoniker (die sich Nightwish auf "Once" gönnten) verpflichtet werden konnten, war klar. Aber um dem Urteil vorzugreifen: Besser und im positiven Sinne songdienlicher als die an diesem Abend versammelte Studentenmannschaft hätten auch die es nicht einspielen können. Selbige bestand zum größten Teil aus Studenten und Absolventen der Weimarer Musikhochschule "Franz Liszt" (keine schlechte Adresse bekanntlich), ergänzt durch einige Leipziger Musikhochschul-Kollegen. Am Dirigentenpult stand mit Paul Momberger ein Mann, der mit der Neuen Philharmonie Frankfurt schon etliche interessante Projekte jenseits des klassischen Mainstreams realisiert hat, und neben den fünf regulären Bandmitgliedern war auch das Vokalensemble Condé wieder mit an Bord, welchselbiges schon im Intro "Voix du Passé" der "RetroTox Forte"-CD zu hören gewesen war. Besagtes Intro bildete auch die Konzerteröffnung, allerdings in einer extended version. Noch konnten die 50 Zuschauer (mehr Stühle paßten nicht in den Raum) nur partiell erahnen, was sie in den folgenden netto zwei Stunden (von einer halbstündigen Pause unterbrochen) erwarten sollte, und auch die "Orchesterouvertüre" "Horns" gab noch nicht sehr viel preis. Aber was dann ab "Fall Down" auf die Hörer hereinprasselte, gehörte in der Tat phasenweise zu den Sternstunden der anspruchsvollen Musizierkunst. Einerseits waren die Songs auch in den neuen Arrangements strukturell nicht komplett umgestülpt worden, was den Wiedererkennungseffekt ermöglichte, andererseits hatten die Band und die externen Arrangeure aber auch auf die "Billigvariante" verzichtet und etwa einfach nur die Keyboardlinien 1:1 in die klassische Formation übersetzt. Die reale Herangehensweise lag irgendwo dazwischen, das Ergebnis präsentierte sich in einem Spektrum zwischen smoothem Loungejazzpop ohne Orchester ("Confidence" - auf die Umsetzung von "Deception", dem zweiten Teil des Longtracks, wird man wohl bis zum nächsten gleichgearteten Projekt warten müssen) und orchesterdominiertem Gesäge, wie es "Pyramid" zumindest teilweise prägte ("Raised" war nicht in der Setlist zu finden). Die Beschreibung liest sich allerdings inhomogener, als sich der Gesamtklang letztlich präsentierte, denn es gelang über weiteste Strecken, Orchester und Band als gleichberechtigte Partner zu behandeln, die zudem eine (trotz nur dreier gemeinsamer Probenwochenenden) über große Strecken traumwandlerische Aufeinander-Eingespieltheit offenbarten, als wären sie mit dem Programm vorher schon drei Wochen am Stück auf Tour gewesen. Die immens schwierige Abmischung einer solchen Besetzung konnte gut bewältigt werden (als kleine Problemfälle sind mir von meinem Platz aus lediglich die partiell zu lauten Drums in "Pyramid", die schwierige Vernehmbarkeit der Chorstimmen - mal von Condé komplett, mal lediglich von Condé-Kopf Friedemann beigesteuert - und das häufige akustische Verschwinden von Gitarrist Uwe, dessen Akustikgitarre gegen das Orchester trotz des Verstärkers nur in ruhigeren Passagen eine Chance hatte, aufgefallen). Das Ergebnis unterschied sich von allen vergleichbaren Projekten schon allein dadurch, daß Toxic Smile die Metalelemente komplett eliminiert, also quasi ihre Songs in Kammermusik mit involvierter (Jazz-)Band übersetzt hatten (Rondo Veneziano für Anspruchsvolle sozusagen). Das dürfte metallischen Hardlinern natürlich weniger schmecken, aber solche zählten vermutlich schon bisher eher nicht zum Fankreis, und die 50 Zuschauer wußten sich an den spielfreudig dargebotenen Songperlen (von denen auf den ersten Hör lediglich "O.T." im Vergleich zur regulären Studioversion etwas zu struppig wirkte) mehr als zu ergötzen. Standing Ovations zwischen den Songs blieben im zweiten Teil des Sets jedenfalls keine Ausnahmen, sondern wurden zum Regelfall, nachdem man gegen Konzertbeginn noch etwas unsicher war, wie man sich bei einem derartigen Gig eigentlich verhalten sollte, was von Paul mit einer humorigen Einleitungsrede aber klargestellt wurde. Und so übertrug sich die positive Stimmung unter den Mitwirkenden nicht nur sehr schnell aufs Publikum, sondern die positive Stimmung des Publikums fand auch ihren Weg zurück in die Musikerreihen - ein unaufhörliches Geben und Nehmen in einem Maß, wie ich es selten zuvor erlebt habe. Als Beispiel sei nur mal Bratscherin Ildiko hervorgehoben, die in der kompletten Spielzeit das Grinsen aus ihrem hübschen Gesicht gar nicht mehr herausbekam (laut TS-Kopf Marek hatte sie sich zudem schnell zu einer musikalischen Haupttriebkraft des Projektes entwickelt), und auch der anstimmenden 1. Geigerin Sylvia, dem Dirigenten Paul und vielen anderen der etwa 20 klassischen Musiker sah man den Spaß an und merkte deutlich, daß dieses Projekt für sie mehr als nur ein simpler Job war. Daß die Bandmusiker da nicht zurückstehen wollten, war klar; auch sie agierten tadelsfrei an Drums, Kontrabaß und den ganzen anderen von ihnen traktierten Instrumenten, wenngleich man speziell Sänger Larry die ungeheure Anspannung anmerkte - mit so intensiv durchblutetem Kopf habe ich den Mann jedenfalls noch nie gesehen, und bei den ersten Ansagen wirkte er noch leicht unsicher, was sich aber bald legte. Seine Sangesleistung jedenfalls verdiente über weiteste Strecken das Prädikat "Einwandfrei". Auffälligster Einzelmusiker sollte aber Flötist Steven werden - speziell dessen furiose Soloarbeit in "Escape" machte diesen Song, der auf "RetroTox Forte" nicht ganz an seine Artgenossen "Steps Back" und "Sacrificial Flame" herankommt, in dieser Version zu einem reizvollen Glanzlicht. Ich könnte mich jetzt hier noch seitenweise auslassen, etwa über das grandiose Medley-Finale, das den Arrangeur Matthias als Gast ans Piano führte und mit Bertram einen weiteren Gast als Xylophonist einband, oder über die "neuen" Songs "Cold Run" und "A Thought Away", die auch für die nächste reguläre Studio-CD keinen entscheidenden Leistungsabfall befürchten lassen (sofern sie den Weg dorthin finden werden - beide sind ja auch schon in der normalen Bandbesetzung liveerprobt und eigentlich uralt, da sie bereits auf dem 1997er "M.A.D."-Demo standen). Und es gibt auch Menschen, die das Ganze wesentlich weniger prosaisch als ich geschildert haben, wobei dann Aussagen wie "Jeder der dabei war, kann sich glücklich schätzen einen solch kostbaren Puzzlestein seinem Leben hinzuzufügen.", "Ereignis des Jahres" oder "Eine Musik, die so ergreifend und trotzdem *progressiv* war, dass ich fast durchgängig Gänsehaut hatte und zuweilen auch die eine oder andere Träne wegdrücken musste." herauskamen. Fakt ist, daß wir hier ein außergewöhnliches Konzert miterleben durften und daß alle, die nicht dabei waren, die Chance haben werden, es ebenfalls nachvollziehen zu können, wenn auch "nur" auf DVD (sofern es nicht doch gelingen sollte, eine Tour mit dem Projekt zu organisieren, was definitiv wünschenswert wäre). Selbiger Bild- und Tonträger wurde bei den Proben und an diesem Abend mitgeschnitten, und da bei "Pyramid" im ersten Versuch die Aufnahmetechnik nicht hundertprozentig mitgespielt hatte, kam das begeisterte Publikum in den Genuß, dieses brillante Stück noch ein zweites Mal zu hören, was zum Setende hin, quasi anstelle einer Zugabe, mit dem Medley noch einmal passieren sollte. Aber irgendwann war dann doch Schluß und das Auditorium um die Erkenntnis reicher, daß man auch auf den Schlössern von heute noch ganz ungeahnte Schätze heben kann.

Setlist:
Voix du Passé
Horns
Fall Down
Confidence
Escape
O.T.
Cold Run
J.B.
A Thought Away
Steps Back
Pyramid
Could It Be
Medley



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