www.Crossover-agm.de
Der Freischütz   24.01.2004   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Mein Konzertjahr 2004 startete klassisch: In Abständen führt die Hochschule für Musik "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig größere Werke in studentischen Besetzungen auf, und diesmal hatte man sich mit Webers Oper "Freischütz" einen wahren Evergreen vorgenommen. Da die Bühnengröße des Großen Saals der Hochschule keinen Raum für eine szenische Interpretation hergibt (man ist ja auch kein Opernhaus), entschied man sich für eine konzertante Aufführung, also ohne großes Bühnenbild und szenisches Spiel. Dieses hatte am Vorabend seine erste Premiere und folgte an besagtem Abend in einer zweiten Premiere mit etwa hälftig umbesetzter Solistenriege. Wie der Publikumszuspruch des ersten Abends war, weiß ich nicht - der zweite Abend jedenfalls vermeldete einen ausverkauften Saal.
Leise, verhalten setzt das hochschuleigene Orchester mit der Ouvertüre ein - fast ein wenig zu leise, meint man, vor allem den Streichern scheint es in den energischeren Passagen etwas an Durchschlagskraft zu fehlen. Aber dies bleibt nicht lange so - spätestens beim ersten Erklingen dieses markanten, in drei Stufen aufwärts jagenden Themas ist nicht nur die erste Gänsehaut auf dem Rücken da, sondern auch der akustische Druck von der Bühne. Und von da an stimmt beim Orchester (fast) alles, besonders die grollenden Passagen gelingen schön bösartig und bedrohlich, und das Blech schmettert so viel Energie von hinten rein, daß man selbst einen Lapsus wohlwollend überhören kann (wiewohl der gerade an einer so markanten Stelle wie dem nun wirklich allseits bekannten Jägerchorthema in seiner instrumentalen Einführung zu Beginn des dritten Aktes eigentlich nicht passieren sollte). Student-Dirigent Moritz Caffier (am Vorabend hatte Dozent Helmut Kukuk diesen Posten noch selbst bekleidet) arbeitet hart, ist nervös und schwitzt - und gerade das macht ihn sympathischer, "volksnäher" als seinen Kollegen Jens Lietzke, der den dritten Akt distanzierter dirigiert, wiewohl das musikalische Ergebnis, das beide in Einklang mit dem Orchester hervorbringen, bei beiden zweifellos stimmt. Mit Horst Theurich sitzt offenbar ein Fachmann an der Beleuchtungsanlage: Geringste Variationen in den Scheinwerferfarben machen die an der Bühnenrückwand stehende neue Orgel mit einer Reihe silbern glänzender Pfeifen im Schauprospekt plötzlich zum grünen Wald oder zaubern ein wahrhaft dämonisches rotes Licht hinter die Wolfsschluchtpassage. Wer braucht da noch Kulissen? Die eigene Phantasie spielen zu lassen ist doch auch reizvoll.
Ganz besondere Hervorhebung verdient Dirk Vondran, der als Sprecher die Handlung vorantreibt und illustriert - und das tut er auf eine derart elegant-charmant-joviale Weise, daß man im Publikum nicht nur einmal schmunzelt und auch hier keinerlei szenische Handlungen auf der Bühne zu vermissen geneigt ist.
Von den männlichen Solisten ist Fabiano Cordeiro als Max zweifellos der gewöhnungsbedürftigste. Er singt gut bis sehr gut, keine Frage, aber sein gewaltiges stimmliches Pathos (nicht selten bei Südländern) qualifiziert ihn eigentlich eher für diverse Rollen in der italienischen Oper als für deutsche Romantik. Auch über seine Mimik wundert man sich eher: Selbst freudigste Passagen wie den Schlußpart singt er mit einer Miene, als ob er justament sterben müßte. Das bringt Daniel Blumenschein als Kaspar besser rüber. Der ist körperlich recht kleingewachsen und untersetzt - und gerade das macht ihn zur Idealbesetzung für diese Rolle des Außenseiters, zu dessen Verschlagenheit auch noch Pech kommt (wer die Artus-Saga kennt, wird einige erstaunliche Parallelen zwischen Kaspar und Mordred feststellen). Ständig versucht er, sich größer zu machen, als er eigentlich ist, reckt und streckt sich, um am Ende doch zu scheitern und in die Leichenstarre zu verfallen. Gesanglich bringt er ebenfalls eine sehr gute Leistung, wiewohl ich mir nicht sicher bin, ob die eine oder andere eher angestrengt klingende Passage der Rolleninterpretation oder der Aufregung zuzuschreiben ist. Die restlichen solierenden Herren singen solide, ohne große Akzente setzen zu können (dazu sind ihre Rollen auch zu knapp bemessen).
Spitzenklasse kommt hingegen von den beiden Damen. Selbst ein blinder Musikliebhaber hätte Agathe aka Anna Lissowskaja den doppelten Resonanzraum von Ännchen aka Pei-Ying Lee bescheinigt, und der des Sehens fähige Musikliebhaber findet diese Vermutung optisch bestätigt. Dafür nutzt Pei-Ying Lee die Höhenlagen der Passagen so spielerisch leicht und locker, daß mein kompositorisch beflissener Nebenmann sich die Frage stellt, ob denn bei ihr nach oben hin auch irgendwo mal Schluß sei. Zudem schafft sie es, sogar den Text noch halbwegs verständlich zu halten, während Anna Lissowskaja ihre ebenfalls hervorragende Stimme eher wie ein weiteres Instrument einsetzt, etwas runder und insgesamt wie erwähnt auch lauter singt. Und genau da liegt die Krux dieser Aufführung: Die insgesamt doch recht unterschiedliche Herangehensweise der beiden Sängerinnen führt dazu, daß sich das letzte Prozent der Harmonie zwischen ihnen nicht einstellen will. Mit einer noch etwas höheren Prozentzahl gilt das übrigens auch für die solierenden Herren, bei denen speziell im Schlußteil einer den anderen akustisch niederkämpfen möchte. Da wäre an einigen Stellen weniger definitiv mehr gewesen, und auch der Chor leidet unter der gleichen Krankheit. So erstaunlich das klingt: Für den (gar nicht so sehr großen) Großen Saal der Hochschule ist der Chor überdimensioniert und im Schlußteil eindeutig zu laut. Aber wenigstens tut dieser Aspekt der überschäumenden Freude, die Weber im besagten Schlußteil umgesetzt haben möchte, keinen Abbruch. Überhaupt: Die jugendliche Frische, der unbezähmbare Wille, sich zu beweisen, der Schwung und die Energie - das sind die Faktoren, die diesen Freischütz trotz der beschriebenen kleinen Unzulänglichkeiten zum beglückenden Erlebnis machen. Das sieht auch das bisweilen Szenenapplaus spendende Publikum ähnlich. Zu einer Zugabe kann man sich leider dennoch nicht durchringen. Trotzdem: Ein mehr als gelungener Abend.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver