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Realitäten und Verluste
Das Leipziger Schauspielhaus kammerspielt sich in die Saison
von Henner Kotte

Alle vier Schauspielhaus-Stätten haben wieder was zu bieten, nämlich neues Theater. Der Bühnenjahrgang 01/02 eröffnet sich sehr im Privaten, konzentriert sich auf Personen und Charakter und die Katastrophen dazwischen. Das hat was. So erfreulich der Verzicht auf bombastische Spektakel scheinen mag, auch die leisen Stücke bergen Tücken.
Große Tragödie. Große Bühne. Großer Name - Herr Sylvester Groth wurde intendantlich gebeten, den "Hamlet" in Leipzig zu geben. Und Herr Groth freut sich, auf die Bühne früheren Wirkens zurückzukehren. Klar, Herr Groth besitzt seinen guten Schauspielernamen nicht zu Unrecht, und so zeigt er seine Kunst gut als Prinz von Dänemark. Wolfgang Engel inszenierte Shakespeares Drama privatim, als menschliche Tragödie in der Familie und gibt damit den Akteuren nur eng begrenzten Spielraum. Solch kleine Konzeption muß scheitern, denn auf Familiencrash läßt sich die Geschichte vom Herrscherhaus in Dänemark nicht reduzieren. Und wenn die Regie allein den Charakteren vertraut, müssen Schauspieler diese auch zeigen (dürfen). Dem Matthias Hummitzsch nimmt man sein böses Tun als König Claudius nie ab. In sich selbst versunken ist solch Männlein kein Machtmensch, geschweige denn Mörder. Frau Gertrude zählt an Jahren die Hälfte ihres Sohnes Hamlet und schwankt zwischen Hysterie und Stille. Liv-Juliane Barine ist fehlbesetzt, und das liegt keineswegs an ihr. Horatio, der treue Freund, ist zum Läufer über die Bühne mutiert, welche Rolle dieser Figur dramaturgisch zugedacht wurde, bleibt Rätsel. Zu vermuten bleibt: Keine. Das trendige Loft, von Horst Vogelgesang als Bühnenbild installiert, ist mitnichten der Raum, aus dem regiert werden könnte. Und warum zur Musikauswahl zweier Platten extra Herr Reik engagiert werden mußte, wäre zu hinterfragen. Festzustellen bleibt: Shakespeares großes Drama verläppert in kaum erträglicher Langeweile. Auch das muß man erstmal inszenieren können.
"Dämonen" wird auch die Neue Szene nicht los. In Lars Noréns Stück fallen die Masken der bürgerlichen Anständigkeit und zeigen die Seelen so offen blutend wie verletzlich. Paare zerfleischen einander und können doch voneinander nicht lassen. Solch Privattheater ist beste skandinavische Tradition von Henrik Ibsen bis Ingmar Bergmann. Markus Dietz vertraut ganz und gar seinen Darstellern Constanze Becker, Bettina Riebesel, Christoph Hohmann und Tobias J. Lehmann. Und diese bieten grandiose Schauspielkunst. Wir Zuschauer sitzen rechts/links in Franz Lehrs Bühnenraum und beobachten die Vivisektion der Schauspieler untereinander mit Faszination. Shocking, aber Kunstgenuß!
Ruben besitzt ein Geschäft für Wohndesign und Lebensflächengestaltung, und eigentlich findet er die Leute so um sich rum richtig zum Kotzen. Emilia z.B. produziert tagtäglichen Talk, den der markante Viktor moderiert (Darsteller Stefan Kaminsky ist beängstigend präsent). Klara verkauft. Und Max hat keine Arbeit. Irgendwie nur hat Ruben die Koordinaten seines Lebens verloren, taucht auf und wieder weg, und die Gesellschaft ist immer noch da. Oder nicht? Susanne Knierim hat Ulrike Syhas ersten Bühnenstoff fantasievoll ins Horch und Guck inszeniert. Wir Zuschauer sitzen gleichsam in der Arche Noah (Bühnenbild David König) und gucken ins Meer. Das allerdings ist auch weiter nix als Aquarium. So surreal die Geschichte daherkommt, so individuell kann sie zusammengesetzt werden. Jedem seine eigne Wirklichkeit. Nur wenn der Schuß fällt, ist Schluß. Aber nicht wirklich. Oder?
Theater gibt es auch hinter dem Eisernen Vorhang. Regisseur Enrico Lübbe befreite Tennessee Williams Klassiker "Die Glasmenagerie" zusammen mit Dramaturg Torsten Buß vom Südstaatencharme der USA und verleiht dem Geschehen hiesige Dimensionen. Auch hier wird die menschliche Tragödie sichtbar, vor allem Dank der exzellenten Susanne Stein, Oliver Kraushaar, Jörn Knebel. Auch Ellen Hellwig als zurückgezogene Tochter Laura beeindruckt, vor allem am Ende vom Lied. Der Theaterschluß bleibt im Gedächtnis. Bravo. Doch auch "Die Glasmenagerie" irritiert mit dem Hang zur jungen Mutter. Daß solche Altersfehlbesetzung (vgl. Hamlet) einer Konzeption geschuldet sei, ist keineswegs ersichtlich. Eher drängt sich der Verdacht ins Hirn, daß die im Hause vorhandnen Akteure für sämtliche Rollen nicht hin- oder ausreichten. Dann sollte eine Theaterleitung einfach andre Stücke wählen, oder passend engagieren. Denn so gesehen wird das Spiel absurd und mißverständlich, Peinlichkeit nicht ausgeschlossen.
Durchwachsen präsentiert sich dieser Spielzeitbeginn am Schauspiel zu Leipzig. Da bereitet auch dem Kritiker der Job viel Spaß. Denn was wäre, wenn man alles wieder und wieder nur loben müßt ...



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