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Neues aus der Theaterwelt (29.02.2004)
von Henner Kotte

Boats People und Special Guests
Art Director vom Riverboat: Küf Kaufmann

Ein bissel hat's uns schon gewundert: Im Glaspalast der Media-City talkten Menschen und behaupteten, sie säßen alle miteinander in einem Boot. Dem war nicht so, ganz offensichtlich. Aber einen Kahn wollt unser Heimatsender schwarz/rot/gold schon wieder haben, so mit allem Drum und Dran und Drüber. Also schrieb man aus, bewarb sich, baute, und seit Oktober wird von einem beinah echten Dampfer "Riverboat" gesendet. Der ist solide konstruiert und überspannt den Karl-Heine-Kanal Erich-Zeigner-Allee 45.
René Gauglitz hatte Grundstück und Idee: Aus der alten Bahnbrücke über den Wasserlauf ließe sich doch prima das mdr-Flagschiff machen. Nun steht das Studio und sendet 2x im Monat live. Doch zwei Abende nur Betrieb im Schiff sind reichlich wenig. Also hatte Herr Gauglitz wieder einen Einfall und bestellte Küf Kaufmann auf seinen Kahn als Art Director für die fernsehfreien Tage. So heißt's nun vierzehntäglich: Bühne rein und Bühne raus - Ein Pott und zwei Crews. Wir können nämlich außer der Sendung mit den locker schwätzenden Wessis Fischer/Hofer/Kachelmann viel Musik und Kleinkunst live erleben. Es erscheint gewiß nicht nur die Prominenz am Freitag, wir erleben zu den andren Zeiten Künstler aus Leipzig, Sachsen, bundesweit, gar international. Kirchberg, Johannes, Olga Lomenko, Meigel Hoffmann, Weibsbilder aus Dresden, Gunter Böhnke, Karl Karliczek samt Zauberkunst und Kabarett ... Demnächst gibt's Herricht/Preil in Wiederaufnahme durch das Nindonge-Trio. Ein bunt Programm stellt Küf Kaufmann da zusammen. Auch er selbst möcht' dorten auf der Bühne stehen. Im eignen Stück? Wir werden sehen.
Leipzig kennt den Namen und Küf Kaufmann. Das Café mit den drei Buchstaben war Langzeit erstes Haus auf der Kneipenmeile Gottschedstraße (kam man vom Ring rechts). Regie Kaufmann lasen wir auf den Programmen der Lomenko, im Krystallpalast und anderswo. Küf selbst sahen/sehen wir zusammen mit Freund Bernd-Lutz Lange und jüdischem Witz immer mal wieder. Grad eben noch im Weihnachtsprogramm der "Gans ganz anders" im Spiegelzelt. Nun neue Herausforderung. Die hat Herr Kaufmann nie gescheut.
Geboren ward Küf in Marx neben Engels, die die Leninbrücke verband. So hießen die Städte in sowjetkommunistischer Euphorie wirklich. Aufgewachsen Leningrad. Radio. Studium der Regie. Auch während des Wehrdienstes hat Küf Regie geführt, choreografiert, das Ensemble der Roten Armee sang und tanzte nach seinem Willen. Heirat. Kinder. Dann Regisseur der Leningrader Music-Hall. Internationale Reputation hat sich Kaufmann erarbeitet. Doch irgendwann ging's nicht mehr. Zu seiner jüdischen Herkunft hat sich Küf Kaufmann schon im Ausweis bekannt. Ausreise. Ziel war klar das Territorium der DDR. Leipzig ist da erste Adresse. Daran zweifeln wir nicht. Aber daß der Name Küf wirklich im Ausweis steht, bezweifeln wir. Sicher steht der nicht im Ausweis. Völlig klar. Bereits als Kind im zarten Alter fünf, mußt' Sohn Kaufmann english speaken. Und wenn man ein A vergißt und Kyrillisch mit Latein verwechselt wird aus Kauf halt Kyf. Und hatte der Bub einmal so gelesen, sprachen die Eltern nun so mit ihm. Daß übern Café nun Y zu Ü mutierte, ist der ungewollten Assoziation zu Kiff! geschuldet. Dies zur Etymologie des Namens K und K. Erstaunlich, was für Geschichten das Leben buchstäblich schreibt.
Seit dem großen Monat Oktober sendet und singt es im Pott. Eine Attraktion hat Leipzig mehr. Führungen für Interessierte und Touristen begleitet Küf Kaufmann und erklärt den Alltag auf Sendung und auf der Bühne. Und wir könnten's Boat auch mieten und uns selbst ins Studio setzen mit Kollegen, Familie, Freunden. Eine besondre Note hätt dies schon. Wir nutzten die Gastronomie der Villa Rossa und dann ab zur Kultur aufs Schiff (Vorbestellung unter 0341-4929517). Der vorstellbaren Möglichkeiten gibt's da viele. Sicher aber ist, wir sitzen bequem und werden gut unterhalten und bemerken nebenbei, die städtische Szene befindet sich mitnichten nur innerhalb des inneren Innenstadtrings. Und wenn Äppelkähne und Kanus unter dem eigenen Hintern hinweg steuern, hat dies einen Reiz, den ein Sitzplatz anderswo wirklich nicht bietet.

Die Regierung ist Fake!
Das TiF läßt den Russen los auf uns und die Mediengesellschaft

Babilen Tatarski ist Kind der Sowjets und wollt beruflich Gedichte dichten. So richtig schöne Verse über Jugend und Aufbau und das Leben an sich. Extra die Hohe Schule der Literatur hat er besucht. Aber nun: Auflösung des Sozialismus. Neureiche, neue Medien aller Orten. Wie kann Babilen im Spiele, in Beschäftigung, zu Geld da kommen? Die Freundin gibt ihm den Tip der Tips: Rein in die Werbung! Schotter gefaßt! Alle, alle wollen allen alles doch nur noch verkaufen. Da sind des Verdienstes Möglichkeiten. Und dafür unabdinglich: Fett Reklame! Babilen Tatarski hat Talent und Sendungsbewußtsein. Seine Sprüche, seine Strategien, sein Aufwand - sagenhaft. Zwar sterben die Chefs ihm weg wie die Fliegen. Doch Babilens Karriere unaufhaltsam. Unaufhaltsam. Ende nach oben hin offen.
Diesen gnadenlos schrägen und gnadenlos bösen Blick auf die Postsowjetgesellschaft hat/te Boris Pelewin. Seine Bücher haben Potential zum Kult. Auch unsrer Breiten sind sie Hit. Das liegt zum Gutteil an Andreas Tretners brillianter Übersetzung, überhaupt hat dieser Mann uns Mitteleuropäern Pelewin, den Helden der neuren russischen Literatur, erst nah gebracht. Danke, Herr Tretner (auch im Namen des TiFs sicherlich). Herr Babilen Tatarski jedenfalls ist Dreh- und Mittelpunkt des Pelewinschen Opus "Generation P". Und diesen wiederum zeigt uns jetzt das TiF und setzt damit die dort heiß geliebte Tradion "Buch auf Bühne" fort. "Generation P" paßt wunderbar in Werbung und Personage des Theaters auf der dezentralen Tharandter Straße. Regisseurin Friederike Heller inszenierte ehedem dem Haus Houellebecq, "Die Illuminaten" und Bond, James Bond, "Agent entfesselt". Die Werbebranche führte man uns dorten bereits für "Neununddreißigneunzig" vor. Jetzt also "Generation P". Nun denn.
Der Beginn legt uns Publikum Literatur auf Bühne nah und weg: Herr Tatarski liest sich selbst rsp. "Generation P". Wieder eine epische Adaption mißglückt? Nein. Und nochmals: Nein! Zugegeben: es ist eine etwas bemühte Ablage der Vorlage, aber danach feiert die Absurdität nachsozialistischer Wirklichkeit fröhliche Aufständ. Die Mimen Vivien Mahler, Daniel Fries und Sebastian Weber zeigen Lust und Wandel in Person. Und die moderne Konsumgesellschaft wird perfekt von "fettFilm" ins TV gelegt. Denn, logisch, ein Stück zur Werbung kann ohne moderne Mediengeräte gar nicht sein. So sind diesmal alle Apparaturen kein Schnickschnack, sondern Mittel zum Zweck. Doch richtet die Regisseurin ihren Fokus nicht auf Unbelebtes, sondern auf Mensch Tatarski und die Menschen um ihn drumrum. Das macht schon Spaß den Zeitgenossen zuzusehen und ihren immer großartigeren Ideen. Werbung von Backwaren schlägt den Bogen von 5000 v.u.Z. hin in unsre Zeit. Und letztlich wird uns Publikum sehr klar, daß alles, was übern Sender läuft, ausgedacht und computertechnisch generiert nur ist. Die Strippen ziehen ganz andre Leut. Der Präsident ist Dummy! Das Parlament ein Riesenfake. Herr Pelewin hat seine Geschichte schon konsequent zu Ende gedacht. Die Inszenierung tut dies auch. Wir erkennen Gegenwart.
Sicher: Viele der Feinheiten des Buches bleiben auf der Strecke von anderthalb Theaterstunden. Geht anders nicht. Der Geist der Weltrevolution wird nicht beschworen. Auch die Findung der russischen Seel findet in der Inszenierung weniger statt. Wer denn für die Dresdner Fassung des Romans Verantwortung trug, verschweigt das Programmblatt. Warum? Klar würde ich mich streiten, was vom Buche übrig blieb und aus welchem Grund. Also: Dresdner Fasser, bekenne er sich!
Ersichtlich: Regisseurin Friederike hat ein sicher Händchen für die Themen unsrer Zeit, und sie hat den Humor, der das Spiel begreifbar macht. Glückwunsch. Überhaupt ist der Abend stimmig von Bühnebild bis theatraler Geste. Die Mimen gut drauf. Das Bühnenbild trist aber wirksam. Und vom Fernsehen sprachen wir schon.
Bleibt bei aller Freude zu bemerken: Wenn das Theater in der Fabrik immer öfter zum Buche greift, ist das Theater im eigentlichen Sinne dann tot? Und nächstens sind Dostojewski, Tolstoi, Simonow bis hin zu den Strugatzkis richtig russische Dramatiker? Und uns Christa, Christa Wolf und andre deutsche Breitwandepiker wie Strittmatter, die Manns und Hesse, Kafka, Erich Loest Theaterautoren par excellance? Fragen, auf die das TiF demnächst bühnisch antwortet?

Godot ist krank

Nee, der Herr Godot wird nicht erscheinen. Auch diesmal kommt er nicht. Doch diesmal ist auch alles anders: Die "Hofnarren" pflegen freien Umgang mit dem Stück. Und diese Schauspieltruppe sind echte Narren. Was heißt: Alle Spieler leben im Förderwohnheim Akazienhof für geistig Behinderte. Sie zeigen uns ihr Theater, ihren Mut und ihren Erfolg (auch über sich selbst). Wir sind begeistert. Mehr davon, und nicht nur im kleinen Spielhaus am Rande der Stadt.
Auf der Bühne liest einer Zeitung, dann kommen sie all: Aber, no chance, Godot ist krank. Estragon und Wladimir, die Clowns, besitzen Ausdauer und große Hoffnung. Den Tisch für den Gast werden sie aber doch niemals eindecken müssen, mehr Kaffee wird noch in den Ausguß fließen, denn Herr Godot hat's am Bein. An der Niere. Am Herzen ... Und überhaupt, das Krankenhaus tut ihm wohl besser. Da kann jeder lachen: Wer wartet auf das, was nie wahr werden wird? "Wir werden alle verrückt geboren. Einige bleiben es!"
Die Inszenierung ist niemals Therapie, sie bezieht alle Mitspieler ein und uns Publikum. Humor inklusive. Mit Verve wird der Klassiker der Absurdität gespiegelt. Wer ist hier Clown? Wer Narr? Klasse geben Christa Georg, Ursula Kaiser, Eberhard Friedrich (alle können wir nicht nennen) Ton und Geste. Die Vorstellung bietet der Überraschungen mehr als die professionell oft gepriesene Aufführung in der Neuen Szene. Wir entdecken lieber, als daß wir uns langweilen wollen. Hofnarren, wo seid ihr nächstens?

Qualität der Enge
Ein Sixpack im Krystallpalast

Ja sicher, die Bilder sind uns im Gedächtnis. Der Neujahrsmorgen des Krystallpalasts begann im Feuer. Bühne out. Publikum dergleichen. Doch verlegte sich das Management des Hauses nicht aufs Warten und die Restaurierung, sondern besann sich seiner Nebenräume. Und so ward des Palastes kleine Bühne goldener Saal. Und dorten geht das Varieté interim gut weiter.
Ja sicher, der Platz für Künstler ist wohl winzig. Und so stellt uns der Krystallpalast ein Sixpack hin, ein "Sixpack deluxe". Und was uns als Beschränkung erst erschien, hat Spaß und Spiel und gut Konzept. Geschichten erzählt man uns Publikum wörtlich, stumm und musikalisch. Und wir ahnen, die Sechse mögen sich gut leiden. Insofern ist eine Gemeinschaftsnummer Ehrensache, warum die nun bayrisch ist, wenn der Hut nur drei Ecken besitzt, bleibt Frage. Aber ansonsten werden die Antworten gegeben. "Die Lonely Husband" sind die Herren Mazoschek und Becker, und diese machen Musik und moderieren. Wobei Herr Mazoschek den Macho weit heraushängt und Becker den weniger Begabten gibt. Die Zweierbeziehung hat was. Vor allem Humor. Die Beiden ziehen ihre beste Nummer als Zugabe durch, Erkan und Stefan muß man sich erklatschen. Also: Sitzenbleiben! Überraschen tut auch Michael Korthaus mit dem Tennisxylophon, was Töne erste erklingen läßt, wenn Bälle auf sie treffen. Die fliegen aus Mund und Hand und machen Melodie. Mit Partnerin Stefanie Bonse als Green Gift gibt's noch eine wunderbare Gymnastik mit Bällen und Röhrenmusik im Dunklen. Über allem schweben die Kriskats. Die Partnerinnen-Nummer am Trapez verblüfft ob Anblick, Ästhetik und Körperbeherrschung. Wahrlich: Das Sixpack ist gut drauf.
Erstaunlich auch, daß die Intimität der räumlichen Beschränkung Reiz der andren Art hat. Wir Publikum haben gut Sitzen. Und die Künstler machen aus ihrer Beschneidung Unerwartetes. Insofern sehen wir zwar kleiner, aber dieses Interim hat eignen Charme.

Quittegelbe Räuberpistole
Im nt sind die Helden der Oper Verbrecher

Kaum hat unsereiner Platz genommen, wird er auch schon übel angemacht: Verbrechertypen versuchen, einen in den Sumpf zu ziehen. Aus uns Zuschauermasse hat keiner den Mut, sich den bösen Buben anzuschließen. Wir bleiben brav. Um uns zu unrechten Tun zu überreden, bedarf es mehr der Künste. Also ziehen sich die Boys zurück, dahin, wo sie hingehören, auf die quittegelbe Bühne. Und dann schaun wir auf's große Entrée der Revue und hören den unvergleichlichen Song vom Haifisch mit den großen Zähnen. Spätestens jetzt wird uns klar, wir sitzen unter Verbrechern und drin in der "Dreigroschenoper".
Autor Bert Brecht war ja ehedem bekannter und vielmehr drauf auf östlichen Bühnen. Daß er uns nix mehr zu sagen hätt, ist Irrtum. Zwar kennt man von dieser Art Theater stets die Absicht, und die ist in dieser Oper so einfach wie gültig: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral." Vor gut drei Jahrhunderten schilderte John Gay Verbrecher und das bettelnde Geldverdienen auf Londoner Straßen. Dies Werk inspirierte den Sympathisanten des Proletariats Bertolt Brecht zur Bearbeitung. 1929 war Premiere seiner "Dreigroschenoper" begleitet von Kurt Weills Musik. Ein unerwarteter Erfolg war dieser Ganovenstory beschieden, bis heute können Bühnen von ihr nicht lassen. Das ist uns recht.
Macheath ist Chef einer Gang, die mordet und raubt und sich's gut gehen läßt. Mr. Peachum, auch nicht reiner Weste, beutet die Armen der Armen gnadenlos aus. Doch seine Bettler funktionieren und haben Straßen und Mitleid im Griff. Mrs. Peachum liebt ihr Delirium und Töchterchen Polly. Diese allerdings verfällt mit ganzem Herzen eben jenem Schurken Macheath. Er heiratet die Kleine und hat an jedem Finger zehn andre Frauen und Huren. Klar, die Katastrophe ist nicht aufzuhalten: Eifersüchteleien und falsche Liebe zerstören die Ganovensolidarität. Folgerichtig kann das Ende einer solchen Oper nur lauten: Gerechtigkeit herstellen! Kopf ab!
Alejandro Quintana hat Erfahrung mit Brecht und setzte die Oper frisch ins Neue Theater. Zum ersten wird uns der Geradeausblick zur Bühne gewährt, und wir latschen auf gelben Stoff in die lumpigen Straßen des alten London. In der Räuberpistole ersten Teile vertraut der Regisseur zu wenig den Schauspielertugenden und des Stückes Ironie. Erst in der Oper zweitem Akt fliegen die Fetzen, wird's Geschehen plausibel. Das liegt zum Gutteil am Auftritt der Betrogenen: Lucy. Danne Hoffmann changiert elegant zwischen Farce und echtem Gefühl. Das scheint die andren darstellenden Personen förmlich in die Spielwut zu treiben: Andreas Range als böser Bub Mecheath wird nunmehr von der Schablone zum Menschen. Daniela Schober trifft neben hohen Tönen jetzt auch Pollys Charakter, und der ist keineswegs lieblich und gut. Jedenfalls lieben wir sie jetzt alle: die Jenny und die anderen Huren, den Polizeichef und seinen Assistenten Smith und haben Spaß an der Mär und ihrem unglaublich positiven Ende. So könnt das Leben eigentlich sein.
Manches jedoch, was den vortrefflichen Abend im Unreinen läßt. Die Musiker um Matthias Nilius geben der Inszenierung zu wenig Tempo. Und Brechtsche Leere bleibt öfter auch leer. Und was der Container gefährlich überm Publikum baumelt, hat dramaturgisch weder Idee noch Brisanz. Die Mäkeleien allerdings tun dem Opernabend keinen Abbruch. Denn Opern, wissen wir im Publikum, ziehen sich hin und erzählen uns Unglaubliches. Exzellent begleitet uns das Programmheft durch diese Art Literatur und Geschichte. Alle Mitwirkenden zeigen spätestens im zweiten Teile Lust und Können an ihrem Berufe. Das fasziniert. Und wenn einem die Melodien auf dem Heimweg begleiten, ist die Oper ganz in uns drin momentan und auch länger. In diesem Sinne halte ich den Daumen rauf und empfehle.

Die Moral und die Moral danach
nt und Oper präsentieren Klassiker der Moderne

I. Kurzer Prozeß und langes Ende
Friedrich Dürrenmatt war witziger Zeitgenosse und sah die Welt in seinen Stücken stets als Komödie. So berichtet auch "Die Panne" von einer unglaublichen Mär: Alfredo Traps ist erfolgreich und Vertreter und sitzt nach Autoschaden fest. Quartier und Alkohol bieten ihm vier uralte Juristen, die ihm anbei auch gleich den Prozeß machen. Denn es geht nicht an, daß ein Mensch in der Gegenwart vollkommen ohne jegliche Schuld. Nämlich: "Es gibt kein größeres Verbrechen als die Unschuld." Recht so. Also sieht sich der Waisenknabe Traps letztendlich auch als mörderischen Buben und richtet sich selbst. Darob sind nun die Alten baff: Nee wirklich, nimmt einer das Lebensspiel ernst?
Regisseur Peter Sodann kennt sich aus und beschwört immer wieder alte Theaterwerte. "Speer" und "Eisermanns Tod" sind uns noch ob ihrer Didaktik in Erinnerung. Ja, nun also Dürrenmatt. Nee, der Beginn ist schweineflott: Wort, Gegenwort und Ironie. Alfredo Traps begreift kaum, wie ihm geschieht. Und sogleich ist Pause. Danach werden die Reden länger, da ja die Welt interpretiert werden muß, und der forsche Beginn der Frühzeit geht flöten. Das ist wahrlich schad. Klar, wir wissen, steht im Stück so drin. Doch das hat nun auch ein viertel Hundert Jahr auf dem Buckel, die Hörfassung gar ein ganzes halbes. Etwas abgehangen scheint der Text so pur dann schon. Eine geschmeidige dramaturgische Hand hätt sehr viel der Sprachkaskaden kürzen können und wär an uns gut dran gewesen. Die Hand blieb leider ungeschmeidig, und so wird das Ende lang und länger. Herr Regisseur, die Moral von der Geschicht ist viel eher doch erkennbar, als daß erst die Planeten vom Himmel geschossen werden müßten!
Abgesehen davon: Die Herren dieses Herrenabends sind Klasse drauf. Die Alten Siegfried Voß und Reinhard Straube, Thomas Just und Klaus-Rudolf Weber. Peer Uwe Teska gibt als Traps Paroli. Die Damen Zinn und Pahl sind Handreichung und Beiwerk wie auch mancher Gag im Suff. Je nun. Man sieht dem Bühnenwerke seine akustische Fassung wohl an, die die Weite des Bühnenraumes noch unterstreicht. Allerdings: Ganz totzukriegen ist Dürrenmatts Komödie nicht. Und Gesprächsstoff bietet jeder Prozeß, sei er auch lang wie das Leben an sich. Wer unschuldig blieb, hebe die Hand!

II. Ökonomische Scharlatanerie und ewige Liebe
Das Opernhaus zu Halle zeigt immer wieder Mut und greift zu Stücken, denen man Publikumswirksamkeit abspricht. Komponist Igor Strawinsky paßte nie in die Orthodoxie erwartbarer Töne. "The Rake's Progress" erzählt von einem, der sich im Leben nichts entgehen lassen möcht' (desterwegen die eigentümlich deutsche Übersetzung "Karriere eines Wüstlings"). Herr Rakewell entflieht vom Teufel getrieben der wahren Liebe, um sich in London Weibern und Profiten hinzugeben. Nicht nur seine Stein-zu-Geld-Maschine schlägt fehl. Natürlich. Ende: Irrenhaus. Nur Ann, die Liebe, wird ewig an den Helden glauben.
Klaus Froboese entschied als Intendant und Regisseur: Wir machen's! Und nun tun sie's beeindruckend gut. Das Orchester ist punktgenau in Takt und Ton der Klassikzitate und Rezitative. Denn auch Musikmeister Strawinsky sieht sich und seine Kunst nicht ausschließlich bitter und ernst. Die Solisten brillieren: Anke Berndt, gutgläubig naiv, zeigt Gefühl in dieser Warenwelt. Teufel Gregory Reinhart ist Baß erstaunt ob seines Untergangs. Axel Köhler als Madame mit Bart ist hinter der Maske auch Person. Und Rakewells Tom heißt Giesecke, Nils. Die Handlung pendelt von landschaftlicher Lieblichkeit ins röchelnde Laster, zum sterilem Bankrott im Irrenhaus. Echt: Das Bühnenbild Heinz Balthes' hat alles in sich und kann trotzdem auf operngigantische Umbauten verzichten. Die Moral kommt uns nach Rakewells Tod diesmal nicht knochentrocken sondern ironisch am Augenlied gezogen. Wir haben verstanden.
Sicher: Bühnenkunst sollte fragen, kann keine Antworten geben. Versucht man dennoch, uns die Moral der Geschicht ins Verständnis zu hämmern, sollt man uns Publikum nicht unterschätzen. Zeiten absoluter Belehrung sind lang schon vorbei. Die Reime auf die Tatsachen von den Bühnen der Welt wollen wir uns schon selber machen. Auch wenn Autoren und Regisseure an uns manchmal nicht glauben. Wir haben nix gegen die Moral an sich. Wo wären wir denn, gäb es sie nimmer? Mannesmann und Dr. Tod, Doping, Speed und Alkohol, Amtsmißbrauch und Wirtschaftslobby ... Wir brauchen Theater, auch als moralische Anstalt!

M.C. schwimmt mit in brauner Soße
Chemnitzer "Cabaret" löst sich von den großen Namen

Willkommen! Bienvenue! Welcome! Der Master of Ceremonies hat ein freundliches Gesicht und was zu bieten: Kulturprogramm auf höchster Stufe. Logisch, daß sich Nachwuchsautor Clifford Bradshaw hier gut aufgehoben fühlt. Zumal ihn Sally Bowles, der Star, begeistert. Doch Berlin bleibt nicht so, wie's war, Nazihorden ziehen ein ins Cabaret. Juden wird Leben verweigert. Überhaupt sinkt die Stimmung. Zumindest bei Cliff, in solch eklen Umständen möchte er nicht mehr Deutschland. Mit Sally will er weg nach Übersee. Doch Sally und M.C. erst recht, sie bleiben: Was geht sie die Politik hier an?
"Cabaret" ist als bekannt vorauszusetzen: Kaum einer, der Bob Fosses Film nicht schaute. 1972: Oscar, Oscar, 8x Oscar. Und ehrlich, niemals wieder war Aktrice Liza Minelli so gut, so geil, so wunderbar. Und wir erinnern uns: Gar Fritz Wepper (der vom Derrick!) zeigte im US-Film Schauspielkunst. Der Osten synchronisierte die Produktion ehedem viel schärfer als die BRD. Heutzutage sehen wir im Kino und TV nur noch die seichtere Fassung. Es ist und bleibt ein Wagnis in der Kunst, Politik zu inszenieren. Trotzdem oder deshalb trat das Musical den Siegeszug auf den Bühnen der Welt an.
Texter Fred Ebb und Komponist John Kander zeigen stets noch einmal, daß sich gesellschaftlicher und künstlerischer Anspruch nicht ausschließen müssen: Auch "Alexis Sorbas" und "Der Kuß der Spinnenfrau" sind sehenswert begeisternd. Der Klassiker "Cabaret" basiert auf den Erzählungen Christopher Isherwoods, dieser erlebte Anfang der 30er tatsächlich den Einzug brauner Horden in alle Kreise deutscher Kunst und Politik. Und Held Bradshaw ist Herr Isherwood natürlich. Auch Sally Bowles gab's wirklich, wie alle andren Personen auch reale Vorbilder haben. Die gestrenge Vermieterin. Die leichte Dame. Und die Herren, die sowohl als auch zu lieben wissen.
Auch Chemnitz kann das Vorbild Film nicht ganz verleugnen. Im Cabaret viel Spiegelglas. Weiß ist die Maske des M.C. Und die Sally Bowles der Bühne gleicht der Sally Bowles im Film: Pagenkopf und schwarze Strapse und der Attribute mehr. Darf denn Sally niemals blonde Haare tragen oder rote? Wie dem auch sei, Darstellerin Muriel Wenger ist Muriel Wenger und niemals die Liza Minelli. Muriel Wengers Interpretationen der Hits haben eignen Sound und eignes Timbre. Andreas Kindschuh als M.C. ist als Conferencier treibender Keil und weiß genau, wohin die Geschichte geht: "Mich berührt nichts!" sagt der Künstler und läßt den Faschismus zu. Doch nicht erst seit "Mephisto" wissen wir, Kunst kann apolitisch niemals sein. Desterwegen verleugnet Frollein Schneider (Sylvia Schramm-Hellfort) die Liebe zum Händler Schultz (Matthias Winter). Desterwegen treibt Ernst Ludwig (Roland Glass) braune Illegalität, bis er dann zuschlagen kann. Und die Hur' (brilliant: Claudia Müller) weiß, wohin sie ihre Fahne drehen muß. Autor Bradshaw heißt in Chemnitz Matthias Otte, er hat kaum die Chance der stimmlichen Entfaltung (das gute Stück läßt's nicht zu), spielt seine Rolle nachvollziehbar und dezent. Zwischen all den privaten Tragödien stets wieder die Damen und Herren des Balletts - attraktiv und stimmlich geschult. Auch an Musik und Dirigat (Eckehard Stier) läßt sich nichts deuteln. Daß der Abend wohl gelingt, liegt jedoch vor allem an der sicheren Hand Michael Heinickes. Die Regie verzichtet auf Schnickschnack oder Nachahmung. Das Chemnitzer "Cabaret" läßt das filmische Vorbild vergessen und vertraut der Geschichte und ihrer Dramatik. Gut so. Andrerseits ist Stefan Wiels Bühnenidee so clever, daß wir Publikum mitten im Geschehen sitzen. Es stellt sich da die Frage, akzeptieren wir den Nachbarn im braunen Hemde?
Daß das Kostüm die Nazisymbolik nicht zuläßt, ist unverständlich, soll die Kunst politisch werden, können wir Unangenehmes nicht verschweigen. Nächstens dann auch nicht mehr auf Bühnen und im Film: Das FDJ-Hemd, das Parteiabzeichen, nimmer mehr die öffentlichen Zeichen verfemter Ideologie? Auf die verschämten Rhomben, Striche der Chemnitzer Kostüme können wir verzichten. Die Runen dahin, wo sie hingehören, genauso wie den Hitlergruß. Ein bißchen versagt da die Inszenierung in ihrer Konsequenz, schmälert den Kunstgenuß aber nirgendwo.
Cliff sagt brauner Macht Tschüß, andere können's halt nicht. Sind sie Täter, Opfer, Mitschuldige? Daß das "Cabaret" aufkommenden Faschismus zeigt, ist Zufall. Falsche Politik gibt's auch heutzutage vieler Orten. Stellung müssen wir beziehen! Daß man es kann, zeigt uns das "Cabaret" der Oper. Gut so!



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