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Neues aus der Theaterwelt (31.12.2003)
von Henner Kotte


Verdammnis auf Euch Menschenpack!
Prinz, Hexe, Wassermann und das Mädchen "Rusalka" bezaubern und begeistern Dessau

Ja, wir geben es zu: Die Zeit der Märchen ist im Leben niemals vorbei. Nur lehrt die grobe Wirklichkeit, daß das Leben nun eben kein Märchen ist. Selbst im Märchen. Rusalka, des Wassermanns Tochter, hat sich in den Prinzen verliebt. Der badete, und die Nixe umspülte zärtlich den Mann. Da stand für sie fest: Fabelwesen ist nicht mehr, Mensch wollte Rusalka sein. Vater und Hexe machen ihr die Konsequenzen klar: Stummheit, Verlust der Familie, Tod. Rusalka will trotzdem. Doch Prinz, wie Mann so ist, läßt sich von der Show einer fremden Fürstin faszinieren. Es endet wie vorhergesagt. Glück ist nicht.
Solcher Märchenstoff ist als bekannt vorauszusetzen: Die kleine Meerjungfrau und Melusine und Undine und der Wasserfrauen mehr. Vor allem die Romantiker gewannen der Geschicht viel ab, hin bis in die Gegenwart. Doch nicht nur die. Auch Komponisten gaben diesen Wesen Ton: E.T.A. Hoffmann, Albert Lortzing, Hans Werner Henze. Antonín Dvorák nannte seine Oper ein lyrisches Märchen und "Rusalka". Vor Hundert Jahren erklang es zum ersten Mal. Seitdem sahen Millionen die herzige Mär von der Naiven aus dem Wald und dem Sohn aus gutem Hause.
Logo, im Märchen steckt mehr als die offensichtliche Story: Der Mensch liebt die Natur und ist gleichwohl ihr Untergang. Die Natur bedarf des Menschen, kann ihm nur ihr Bestreben kaum vermitteln. Die Beziehung ist unabdingbar und für beide Seiten unauflösbar. Thema demnach, das alle auch noch heut betrifft. Insofern ist die Stückwahl des Anhaltinischen Theaters Dessau gut bedacht. Johannes Felsensteins Inszenierung beläßt dem Märchen, was des Märchens ist. Zauberhaft zart und zerbrechlich Rusalka. Gar Schemen nur sind die drei Elfen. Der Regisseur zeigt Mut zum großen Gefühl und der kleinen Geste. Von Pomp und Kitsch befreit, verblüfft der Abend mit Tradition in der Moderne. Das ist in Zeiten der gewollten Skandale zumindest äußerst ungewöhnlich.
Die Stimmen von Rusalka Iordanka Derilova, dem Prinzen Jörg Brückner, dem Wassermann Ulf Paulsen haben Temperament und Charakter. Die Anhaltinische Philharmonie unter Leitung Golo Bergs trifft Stimmung und Ton. Klasse. Ein Abend, der bei aller Tragik bezaubert, und bei dem man sich gut fallen lassen kann. Denn wir wissen allesamt, daß das Leben kein Märchen ist. Aber manchmal wär's schön, wenn's so wär. Selbst mit einem klein bißchen Glück und schrecklichem Ausgang. Doch das hieße im logischen Schluß: Das Leben ist Märchen!

Zwei Freunde und die Frau des Freundes
Volker Insel läßt "Miss Wyatt" in der naTo drüber reden

"Zu einer glücklichen Ehe gehören häufig mehr als zwei Personen." Und so ist Oliver hingerissen von Stuarts Gattin Gillian. Dabei ist Stuart beileibe kein Aufreißertyp und Gillian mitnichten das Idealbild von Weib. Und trotzdem ist Oliver fasziniert. Da hilft es nicht, daß Stuart sein bester Kumpel und die Freundschaft auf dem Spiele steht. Oliver bezieht in der gegenüber dem Objekt der Begierde Wohnung. Kumpel Stuart begreift nichts. Gillian widersteht Olivers Werben, bis sie die Gefühle übermannen. Glück, Heirat und Liebe, nun mit anderem Vorzeichen: Ehe Gillian und Oliver, aber Stuart hat im Spiel der Leidenschaften mitnichten kapituliert.
Autor Julian Barnes ist ein witziger Zeitgenosse und seine Romane niemals Klischee. Wir erinnern uns des literaturhistorischen Rätsels um "Flauberts Papagei", der Lebensschule im "Metroland" oder Duffy, des semischwulen Detektivs. Und eben jener Julian Barnes ließ "Darüber reden", wobei darüber, logo, Thema Nummer eins, die Liebe. Dieser Roman um drei Menschen im Verhältnis war Volker Insel Grund zur theatralen Bearbeitung. Jetzt müssen wir ihn nicht mehr lesen, können in die naTo gucken gehen.
Zunächst ist die Bühne eine Bühne mit nichts. Dann führen David Jeker, Armin Zarbock und Verena Noll in ihre einfache Geschichte ein: Wie's war, wie's kam und weiterging. Regisseur Volker Insel nutzt sparsam die Mittel, setzt auf Wort und Bild. Und so erscheint uns Barnes' Roman nicht bühnenvergewaltigt, sondern seltsam schwebend leicht wie das große französische Kino der Gefühle, das des Bombasts nicht bedarf. Alle Darsteller treffen sehr genau den Typ und die Nuance: Armin Zarbock ist der getreue Freund und Finanzier, der sein Glück der Zweisamkeit schon abgeschrieben hatte. Dagegen David Jeker ölt die Haare und die Stimme und gelangt stets an sein Ziel. Verena Noll ist auf der sicheren Seite, bis sie sich nicht mehr halten läßt. Wie immer besticht Insels Kunst im Detail. Die Lacher sind nicht schenkelklopfend, sondern ehrlich erarbeitet. Ein paar der Kleinigkeiten bleiben unverstanden: Warum bebildern 0815-Videos die ohnehin erkennbare Geschichte? Warum muß Gillian ihren Gefühlsausbruch minutenlang zelebrieren, ohne je zum Ziel zu kommen? Wie dem auch sei: "Miss Wyatt" steht ganz in der Tradition der Inselbühne, die wir mögen. Und dieser Titel hebt Gillian ins Regal zu den großen Liebenden der Literatur.
Und auch nachdem können wir uns auf die Kunst des Volker Insel freuen: Pünktlich zum Fest serviert er uns wieder die "Gans ganz anders". Auch ä Schmeckerchen der eignen Art.

Hertha weiß alles
Paaradiesische Zeiten im Krystallpalast

Also mal ehrlich: Hertha traut man ja vielleicht das Klöppeln zu, daß sie aber rätselhafter Höhepunkt des Abends würde, war keineswegs erkenntlich. Langer Rock, plissierte Bluse, sehr bescheidenes Auftreten. Aber dann nennt sich diese Hausfrau Medium, und ihr Name ist eigentlich Monique. Herr Santo bindet ihr die Augen und fragt ab, auf was er zeigt. Beider Kunststück nennt sich Telepathie. Und es funktioniert. Monique weiß alles: Rotwein, Weißwein, Zigaretten, Parkzeit, Kartennummern, gar den Namen von uns aus dem Publikum. Wahrlich das beeindruckt, und wir getrauen uns nicht, weitere Fragen an die Dame zu stellen, wer weiß, was die alles weiß ...
Paaren widmet sich das Varieté: Denen, die sich schon gefunden haben, jenen, die sich wieder trennen, allen, die noch auf der Suche sind. Markus Schimpp ist Gentleman, der Gefühle, Leiden, Glück der zwischenmenschlichen Beziehungen kennt. Also führt er rechtens durchs Programm und schmettert den einen und anderen Gassenhauer dazu. Dann präsentiert er uns Menschen, die sich bereits gepaart haben. Romeo und Julia heißen Elena und Vladim und zeigen ihr Aufeinander Angewiesensein in der Luft. Phantastisch. Als Vorspiel schenkt man dieser Kunst zu wenig der Aufmerksamkeit, die Beiden sind echt Höhepunkt. Danach lernt Luka ihren Luka á la Herzblatt kennen. Und die Zwei sind sogleich ein Team: Keulen schwingen, Bälle werfen - Jonglage vom Besten. Und erst in der Dunkelheit ... Dann stehen zwei Herren aufeinander und auf Stelzen. Mhm, so richtig überzeugen tut uns dies Paar im Kampf um Adams Apfel nicht. Ein Salto Mortale zwingt uns eben nicht in die Liebe. Dafür aber letztlich Claudia und Michael, da macht der Mann Handstand auf weiblicher Hüfte. Da preßt sie ihn in den Ring, der ein Leben lang hält. Je nun, ein paaradiesischer Abend, wohl wahr, selbst im Paradies kann nicht alles gelingen. Und so bleibt Herrn Niels' Körperbeherrschung am Ende auch Solo.
Aber da war ja noch Hertha, und wenn die Dame alles sagen tät, was sie wüßt, wär's vielleicht möglich, daß unser Glück niemals endet. Doch diese Monique sagt nur Zahlen und Namen und verrät uns nicht mehr. Schad irgendwie. Aber andrerseits immer nur Wolke sieben wär mir auch nicht so recht.

Das große Fressen im Theater
Das Schauspiel legt die Seele bloß und macht uns Hoffnung

"Ich hasse den Geruch meiner eignen Familie" Sarah Kane sorgte für den Skandal. Zu brutal, zu konsequent bracht' sie unsere Selbstzerfleischung auf die Bühne. Erst hinter den Schlagzeilen entdeckte man die Autorin, da war sie tot. "Selbstmord wirft immer Fragen auf, und der Selbstmord eines Autors hinterläßt Material, das die Lebenden auf der Suche nach Antworten ins Grübeln bringt. Zwangsläufig wird der Schatten von Kanes Tod sich über ihre Stücke legen." "Gier" war das letzte, dessen Uraufführung Sarah Kane erlebte. Mit "Gier" zeigt die Bühne Leipzigs erstmals die Autorin. Es war an der Zeit und Herausforderung, denn im eigentlichen Sinne ist Kanes "Gier" gar kein Theaterstück. Eher eine Wortsymphonie einander zudrängender Leiber, die zueinander nicht kommen. Es ist ein Text ohne Handlung und ohne Hoffnung. Vier Sprecher sind eigentlich eine Person oder hundert. "Und vergiss nicht, dass Dichtung Sprache um ihrer selbst willen ist. Vergiss nicht, wann andere Worte gebilligt, andere Haltungen verlangt werden."
Regisseur Boris von Poser vertraut den Worten und der Sprachbeherrschung seiner Akteure: Carolin Conrad, Jana Bauke, Torben Kessler und Thomas Dehler. Aus dem Kasten kommen anfangs die Stimmen. In den Kasten gehen sie am Ende wieder zurück. Zwischendrin Hatz und Einhalt, verzweifelter Schrei und stilles Gebet. "Warum kann keiner mit mir Liebe machen, so wie ich geliebt werden will?" In der Abstraktion der Wortkaskaden deutet der Regisseur die privaten Geschichten nur an. Ein Lover und Geliebte? Thearpeutin und Patient? Die alte Einsame? Der Junge, der sucht? Es hilft uns keiner: Wir sind verdammt. Mit eigner Biografie und Gier nur können wir das Bühnenspiel begreifen. Da ist das Publikum Partner, nicht ausschließlich aufs Zusehen verpflichtet. Sollte man das Althergebrachte erwarten, dann bleibt all diesen das Stück der "Gier" nur Wort und Hülse. Wir anderen aber geben trotz Text und Tragik die Hoffnung auf die Liebe nie auf. Denn wenn es die Liebe nicht gäbe, warum gäb's dann das Wort?

"Wen gibt's zum Abendessen?"

Wautsch, ist diese Story abgefahren! Mutti und Sohn geraten auf einsame Insel und fressen notgedrungen der anderen Unfallopfer Leichen. Auch den sexuellen Hunger stillen sie zusammen. Gerettet und wieder in den gesellschaftlichen Kreisen können die Monster nicht mehr funktionieren. Da ist's vorbei mit jeder Etikette und lustig: Papa, Mama, viele Menschen müssen daran glauben. Was heißt, der Sohn frißt alle, ratzeputz, weg. Autor Nicky Silver schreibt von jenen, die allein in der Welt sind. Denn es stimmt schon: Wer denn liebt die Monster? Die Drei-Zentner-Transvestiten? Die "Fetten Männer im Rock"? Eben diese Gefühlslage kann Nicky sehr gut nachvollziehen: "Ich war von zeppelinartiger Gestalt, ich war richtig fett, und ich war homosexuell - Keine besonders angenehme Situation für einen Gymnasiasten in Philadelphia."
Aber bei Leibe ist dieses Stück kein Selbstfindungsdrama. Es ist eine verdammt schwarze Komödie im Sitcomcharakter. Die inszenierte Wolfgang Engel mit viel Lust am bösen Spiel in die Neue Szene. Und wie die Darsteller leben, trotz der viele Tode und Toten! Herrlich verrückt Mutti Ellen Hellwig. Kannibalisch naiv Sohn Martin Reik. Vollkommen überdreht Melika Faroutan. Á la Lagerfeld gesetzt Papa Matthias Hummitzsch. Bei aller Gier aufeinander, bei all dem offensichtlichen Humor, hier liegen die falschen Gefühle bloß, weil echte niemals zugelassen wurden. Worte werden zwar gesprochen, verstehen kann sich die Familie nie.
Wir verstehen was auch nicht: Das aufgesetzt psychiatrische Ende. Die Geschichte war doch erzählt! Als Prolog wäre das Doktorspiel noch angegangen, aber am Ende ist da der Witz raus. Auch wenn's so im Textbuch steht, Texte lassen einem jeden die Freiheit.
Doch trotz dieses blöden Bühnenschlusses: Laßt Euch anrichten. Tafelt mörderisch gut!

Wenn auch Kunst(bös)artigkeit und das Außergewöhnliche beider Texte im deutschen Sprachraum seit Längrem bekannt: Lieber später als nie. Leipzig hat auf diese Autoren und dieses Theater gewartet. Diskussionswürdige Texte der Gegenwart werden uns in Qualität und Inszenierung nicht mehr vorenthalten. Endlich zeigt das Leipziger Schauspiel Mut und Seele und Schauspieler, die ihr Talent beweisen dürfen. Nach viel theatraler Steifheit und Schnickschnack machen uns die vergangenen Abende wieder Lust und gut Unterhaltung. So sollt' es sein, das Theater im städtischen Raum. Und Leipzig hat dieses Theater verdient! Das öffentlich schlechte, ob Rathaus, ob Bühne, reicht.

Männlich durch die Jahrhunderte Fraulich
"Orlando" sind drei Damen und bitten zum Tee

Ja, es ist üblich, und wir haben nix gegen: Literatur wird manchmal Theater. Roman, Novelle und Gedicht, was ehedem gedruckt erschien, erscheint manchmal auch als Bühnenkunst. Kürzlich erst wieder: "Orlando", der Virginia Woolf-Klassiker im "Horch und Guck". Ein junger Held erlebt dreihundert Jahr und englische Geschichte. Er ist Lover, Krieger, letztlich Frau. Ein Panorama an Gedanken, Fakten, Wort und Sprache, und zweifellos der Autorin bestes Werk. (Wie schlecht müssen dann die anderen sein? - der schon "Orlando" fürchterlich findende rls)
Da können wir was draus machen, meinte Ulrich Hüni, seines Zeichens Regisseur. Zusammen mit Sonja Bachmann faßte er den Roman auf andre Art zusammen. Wir also sehen Susanne Stein als Virginia Woolf (schön im Fotooutfit der Autorin) sinnierend am sonnigen Gartentisch beim Tee: Was könnte ich schreiben? Wie könnte ich Kunst tun? Und wirklich erscheint ihr der Held Orlando - nunmehro Anja Schneider (schön im Fofooutfit der Autorin). Und wechselseitig geben sich die Spielerinnen Idee und Worte und Geschichte. Und zwischen den Episoden singt Christine Gerstner (schön im Fotooutfit der Autorin) Lieder, herzergreifend und melodisch. Das Changieren, wer ist Autorin, wer Orlando, macht gut Laune, und man hat die Lust auf der Wiesen und der Bühne mitzusitzen. Was ist doch Autorinnenleben so locker und leicht. Es hat seinen Reiz. Wirklich. Durchaus.
Doch der Haken der schönen Geschicht, dramatisch ist sie keineswegs. Eher wechselseitig rezitierend kommen uns die Damen und die Erlebnisse des Orlando. Das muß auch so sein, denn Orlando ist ja Roman und kein Drama. Doch sollt nun die Bühnenkunst schön bebilderte Lesung nur sein?

Die Frau wird zur Maschine gemacht
Die alte Geschichte ist gegenwärtig: Medea

"Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch." Dieser Mutter, Gattin, Frau sagt man Unglaubliches nach: Sie half dem Manne, Reichtum zur erlangen. Sie zerhackte den Bruder, um in Liebe fliehen zu können. Die Nebenbuhlerin verendet in einem vergifteten Kleide. Der untreue Vater frißt seine Kinder als Ragout. Medea ist Monster, Furie, liebende Frau. Seit Alters her begeistert der Stoff Spieler, Schreiber, Regisseure. "Jahrtausende danach werden immer und immer unsere Hölle wiederholen, vertonen, verdichten, verfilmen, von Professoren erklärt." Euripides machte die Geschichte bühnentauglich. Filmregisseur Pasolini setzte in dieser Person die Callas in Szene. Christa Wolf gab erst kürzlich ihrer Medea Stimme. Und. Und. Und "keiner trachtet danach, seine Tochter Medea zu nennen". Er ist kein gutes Omen. Für Heiner Müller war Medea Material.
Das fand Dozent und Theaterregisseur Simeon Stampoulou, und er fand es an der Zeit, dieses Material zu zeigen, aufzuführen. Der Text von Müller offenbart die Grausamkeiten, die Menschen Menschen stets wieder zufügen (müssen?). Do you remember? So steht Medea an der Rampe im KZ und sagt: Endstation endgültig. Medea als Hure, Kindfrau, Zauberin, als Werbegag und Soldatenliebchen. Wer sie kennt, kann nicht vergessen. Stampoulou fügt hinzu, er collagiert, er zelebriert. Kein Wort unnütz, keine Bewegung nur eben mal so. Sicher, er mutet dem Zuseher 'ne Menge zu. Der Aufwand lohnt. Das Zusehen auch.
Bereits im Sommer hat das Theater am Rand mit dieser "Medeamaschine" für Diskussionen gesorgt. Beim Theaterfestival in Athen war es als Vertreter Deutschlands geladen, beeindruckte, spaltete das Publikum. Regisseur Stampoulou läßt elf Menschen sprechen und zwei Musiker musizieren. Die Aufführung besticht durch Synchronität und exakter Choreografie. Das unterstreicht den Text, zur Interpretation ist es keine Hilfe. Gut so. Einen Reim drauf machen muß sich jeder. Ob gewollt, ob ungewollt. Das ist im Leben nicht anders.
Theater am Rand nennt sich die Truppe: Studenten sind's mit mehr oder weniger Bühnenerfahrung, mehr oder weniger von hier. Sie berichten von einem spannungsreichen Probenbeginn, bis jeder sah/einsah, wozu Stampoulou und das Material da waren. Nunmehro ist die Truppe Einheit. Eine Einheit, von der man sich mehr zu sehen wünscht. Genau so experimentierfreudig. So engagiert. So mittendrin im Material.

Eliza wird fürs Showbiz dressiert
Klasse Klassiker im Opernhaus

Da kommt ein Professor des Wegs und findet ein Straßengirl mit unheimlich Talent. Die wird ein Star! wettet er mit einem Kollegen. Und das Mädel kann sein Glück kaum glauben, der Aufstieg in die bessre Klasse ist möglich. Sie lernt, funktioniert und bezaubert. Gar Könige sind hin und weg von ihrem Charme. Aber unter Glanz und Glamour verblaßt das ehrliche Gefühl, nach Elizas Herzen fragt keiner. Und für den Gesellschaftstrainer Prof. Higgins bleibt sie die Göre der Gosse auf allen Bühnen der Welt. Da hat Eliza allen Mut geht und sagt: Peep!
Professor Higgins und Eliza? Die kennen wir doch. Klar, die Story stand auf jedem Bühnenbrett, das was auf sich hält und im Theatersterben hielt. "My Fair Lady" ist der Dauerbrenner seit knapp einem halben Jahrhundert und machte Mimen zu Legenden. Die böse Geschichte der dressierten Frau ist älter noch und von George Bernard Shaw. Spitzzüngig, scharfsinnig seziert der Autor die feine Gesellschaft 1910. Daß sie für uns nicht uninteressant, liegt an der schönen Geschicht. Unbekannt ist uns auch heute nicht der Traum vom Straßenkind zum Star. Täglich können wir uns überzeugen. Selbsternannte Macher á la Dee oder Didi oder Sabs quälen Jungspunde vor laufenden Kameras und nennen's Entertainment und Preluders. Und die göttlich Naiven? Sie tun alles, um einmal im Rampenlicht zu stehen. Bravo! Gelegenheiten, die das Leben bietet, soll man nutzen. Eliza nutzt und bleibt wachen Verstandes. Als sie merkt, daß sie selbst auf der Strecke zu bleiben droht, sagt sie: Nee! Wer traut sich heute solche Konsequenz?
Regisseur Michael Heinicke beläßt der Story, was sie ist, ein Märchen von vor hundert Jahren. Er bemüht sich um keine Transormation in neue Mode, in angesagten Geschmack. Die Musik ist opulent und betönt das Geschehen reichlich. Müßt so nicht sein, denn perfekt werden Dialogwitz und Pointen auf den Punkt gebracht. Und mancher Aphorismus ist wahrlich so zeitlos, daß er schreckt. "Liebe ist die einzige Sklaverei, die als Vergnügen empfunden wird."
Meist ist ja in der Geschicht der Professor grottenalt und die Eliza blutjung Geschöpf. Dann wirkt ihre Liebe eher peinlich. In Heinickes Inszenierung passen sie ideal: Matthias Otte und Muriel Wenger nimmt man ihre Zuneigung wirklich ab. Und Herr Otte geriert zum allgegenwärtigen Star der Chemnitzer Muse. Das finden wir gut. Und gut finden wir auch Piotr Bednarski und Donna Morein, sie konterkarieren die Sprachschule des Professors perfekt. Während Eliza das vornehme Sprechen übt und übt, stehen die Alten zu ihrem Dialekt und sind akzeptiert. Heißt: Kleider machen Leute, aber der Showeffekt des Antrainierten kann nur kurzzeitig wirken. Denn zeitlebens kann man nicht auf hohem Niveau spielen, Akzeptanz ist harte Arbeit.
Insofern ist die Chemnitzer Musical-Schnulze mit ihren vielen Gassenhauern gegenwärtiger als man annehmen mocht. Das ist gut so. Und wir werden stets sicherer: Das Opernhaus an der Chemnitz hat derzeit die spannendsten Inszenierungen der leichten Muse im Sachsenlande.

Durch Scheiße ins 21. Jahrhundert
Das TiF macht auf Breitwand und keine Theaterkunst

Da sitzen wir Hingucker 30 Meter für längs und gucken, was die Mimen uns spielen auf 2 Meter breit. Das Gefühl ist so Klasse, als würde das Kino uns 30 cm vor die Breitwand knallen. Vielleicht findet Bühnenbildnerin Viola Weltgen ihre Idee vom Bühnenraum ohne Raum einfach phantastisch und völlig unorthodox, wir empfinden's als Zumutung und Garantie für steife Hälse. Nun gut, möglicherweise macht alles ja Sinn, denn das TiF lädt ein zum "Futurologischen Kongress", und wer denn weiß, wie man in Zukunft Theater guckt. Haben wir in Zukunft aber noch immer die Anatomie unsrer Jetztzeit und solch utopische Bühnen, dann ist das Theater tot. Oder wir Zuschauer. Was aufs Selbe herauskommt.
Regina Wenig adaptiert ja gern für das Theater Literatur. Diesmal hat sie es auf Stanislaw Lem abgesehen, den großen alten Meister der wissenschaftlichen Phantastik. "Planet des Todes", "Gast im Weltraum" sind Klassiker des Genres. "Solaris" lotet die menschliche Vorstellungskraft so aus, daß sogar Hollywood nicht mehr begreift. Faszinierend am Autoren ist und bleibt: Seine Bücher sind niemals billige Action oder kosmischer Klamauk. Stanislaw Lem ist der Philosoph unter den SF-Autoren und fraglich, was die späten Werke sind: Wissenschaft? Belletristik?
Einer von Lems Lieblingshelden ist Ijon Tichy, der Vagabund durch Raum und Zeit. Die "Sterntagbücher" zeugen von seinen Erlebnissen und auch "Der futurologische Kongreß". Just dieses Werk von 1970 hat Regina Wenig fürs TiF adaptiert und läßt Ilka Teichmüller, Michael Gabel und Mathias Max Hermann zu dritt den Helden Ijon Tichy sein. Manchmal wechseln die Schauspieler die Identität, sind Professor Tarantoga oder Dr. Trottelreiner. Mhm. Die Kongreßteilnehmer (oder Ijon Tichy ganz allein?) geraten irgendwie in die hoteleigene Fäkaliengrube, werden äußerst menschenfreundlich bombardiert, landen gar in der Psivilisation anno 2069. Unglaublich. Und wir Theaterzuschauer sitzen davor und bleiben (erst recht ohne die Kenntnis des Buches) ganz blöd.
Klar sind wir dafür! Theater soll neue Wege gehen. Auch das TiF hat solche bereits erfolgreich beschritten. Doch diesmal erschreckt uns das Versagen aller Sparten. Daß Belletristik nicht Dramatik ist, sollte Theatermachern bekannt sein. Daß Mangels echter Dramen Prosa für die Bühne adaptiert wird, ist nachvollziehbar, scheitert jedoch meist. Hier mußt es scheitern: "Der futurologische Kongreß" bietet an Geschichte nichts, was irgendwo dramatisch oder bühnentauglich wäre. Und so macht uns die Regisseurin den Roman zum Hörbuch, das sie dann sinnlos auf die Bühne beamt. Grottig wär geschmeichelt. Endlose Gänge - 30 Meter. Endlose Reden - schöngeistiger Text. Endlose Vorstellung - Roman kaum (wenn an falscher Stelle) gekürzt. Wirklich theatrale Ideen bleiben von uns unbemerkt. Die Aufmotzung - durch nackt singenden Mann in Gebärmutter, russisch schreibende Astronautin, Raumanzug a là Atomino, Monitor hie und Leinwand da - ist peinlich. Und was soll's? Sowas nennt man Bühnenkunst?
Der Rezensent fragt sich besorgt, hat die drohende Katastrophe niemand bemerkt. Wer der Theaterverantwortlichen konnte solch Text für spielbar halten? Wer stimmte dieser Konzeption von medialem Schnickschnack zu? Wer guckte von den unbequemen Zuschauerstühlen auf das Spiel? Für DRAMAturgin Christine Richter-Nilsson war das Drama der Aufführung nicht absehbar? Wirklich, saß gar niemand je in den Proben und gebot dem Treiben Einhalt? Alle im TiF verblendet? Blind? Oder über die Maßen selbstüberzeugt? Vielleicht wären die Schauspieler zu loben, die am bösen Spiel mittun. Mit Engagement sprechen sie zweieinhalb Stunden unverständliche Episoden und Text. Allein, ich mag ihnen und den Geschichten nicht folgen.
Allen Ernstes hatte man den Grandsigneur und Autor Stanislaw Lem zur Premiere geladen. Er kam nicht. Eine gute Entscheidung. Und wer denn wirklich von den seltsamen Abenteuern des Ijon Tichy erfahren möchte, sollt' sie lesen. Suhrkamp, im Antiquariat wesentlich billiger.
Nächstens steht dem TiF wieder eine Literaturadaption ins Haus. "Generation P" von Victor Pelewin. Ein skurriler Roman über Werbung und die russische Seele. Und solch schräge Literatur auf der Bühne vom TiF? Wir bangen. Lassen uns aber gern vom Besseren überzeugen.

Gute Noten für den Hypochonder
Kay Stromberg macht dem nt Musik

Das Land schreit nach Reformen! Auch der göttliche Stand der Mediziner erhält gegenwärtig von keinem gute Noten. Behandlung zu teuer, zu lang und kaum wirksam. Politik versucht dort rumzudoktoren, wo der Erfolg so gänzlich ausgeschlossen. Will der Arzt am Patienten verdienen, muß er ihn zu Kasse bitten. Logo. Also werden wir zahlen. Wie immer. Und garantieren wird uns kein Arzt, daß er hilft.
"Bei den Preisen kann es sich ja bald keiner mehr leisten krank zu sein." Das ist keine Erkenntnis heutiger Tage. Moliere wußte dies bereits im Jahre 1673. Und so ist sein Theater vom "Eingebildeten Kranken" mehr in unserer Zeit als manch hochgelobter Dramatiker der Gegenwart. Es nimmt nicht Wunder, daß das nt das gute Stück wieder zur Aufführung bringt. Am 20. Dezember 2003 war Premiere.
Zu Zeiten des Sonnenkönigs ward Bühnenkunst geschmäht. Die Schauspieltruppen arbeiteten hart, um wenige Pfenge zu verdienen. Um des Publikums Willen peppten die Theatermacher die lahmen Stories auf. Musik gab's und Ballett. Die Scherze waren derb, nicht immer jugendfrei. Um solche Kurzweiligkeit ins nt zurückzuholen, hatte Regisseur Sewan Latchinian Idee und Mut und versieht seinen "Eingebildeten Kranken" mit Bühnenmusik. Diese wird das Stück unterstützen in Handlung, Dramatik, Charakterisierung. Partner und Komponist fand Sewan Latchinian an der Hallenser Oper. Dort am Hause ist Kay Stromberg Studienleiter, Dirigent. Historische Anklänge wird seine Musik haben. Ein Streichquintett spielt seine Noten, zur Premiere gar live. Menuett und Walzer werden getanzt. Anders die Assoziationen bei Ouvertüre, Ärztefasching, Depression.
Kay Stromberg ist seit sieben Jahren am Hallenser Opernhause. Kind des Berliner Ostens ward er 1966 in Familie und Kunst geboren. Bereits im Alter von vier Jahren "hospitierte" er bei Mutters Ausstattungen von klassischen Opern. Es folgten: Klavierunterricht und der am Fagott. Musikschule. Studium. Engagements in Coburg / Dessau / Halle. In der Vorweihnachtszeit sehen wir Kay Stromberg am Pult vom "Nußknacker". Ein hörens- und sehenswertes Märchen. Überhaupt erscheint uns das Hallenser Opernhaus als eines der innovativsten Mitteldeutschlands. Das liegt an Leitung, Ensemble, Orchester, ..., Kay Stromberg. Auch privat ist der Studienleiter dem Hause verbunden. Gattin Dorothée ist erste Konzertmeisterin und spielte mit den Musikern ihres Quintetts Kays Bühnenmusik ein. Ob auch das Töchterchen wie der Papa mit vier Jahren die Arbeit der Eltern im Hause verfolgt?
"Der eingebildete Kranke" leidet an eingebildeten Krankheiten. Ärzte versprechen dem Hypochonder Heilung, Wunder und Diäten. Gegen Bares, selbstverständlich. Und während der gesunde Kranke von einer Therapie zur nächsten hofft, erkennt er gar Schreckliches: Alle, allesamt Familie, Diener und Doktoren wollen nur eins - an ihm verdienen! Nein, es ist keine Horrormär aus dem deutschen Gesundheitsministerium. Es ist die Wahrheit und Theater, gut 350 Jahre alt. Daß es uns noch immer (be)trifft ist der Kunst des Autors zu danken. Und der Kunst jener, die uns solch Stücke heut nahbringen. Lassen wir uns auf Moliere und auf Kay Strombergs Musik ein. Kunst wirkt dort, wo kein Arzt uns jemals zu therapieren vermag.

Der Sprache Herz - Der Worte Seel'
Axel T. gibt Fakten und Gefühlen Ausdruck

Wie ihr den Dichter auch ankläfft,
Nie ihr ihn doch tödlich trefft.
Schnell steigt er auf den Baum,
träumt daselbst den schönsten Traum.

Ja freilich: Es gibt sie, die Highlights der deutschen Literatur. Sie wärmen das Herz. Sie machen Gefühl. Und nicht nur eine Zähre, die uns dabei langsam übers Wänglein rinnt. Axel T. hat sie (so gut wie) alle gelesen. Den bezaubernd erotischen Roman von Susan Hastings: "Herzen im Sturm". Axel kennt "Dr. Norden" und die "Fee vom Rosensee". Axel T. durchlitt "Himmel und Hölle" und den "Gleichklang der Herzen". Axel T. behauptet wirklich: "Es ist alles gut gegangen". Ging es ja auch. Wir erinnern uns an Axel T. und die "Rosemarie aus dem Schwarzatal". An Axel T. und "Die Magd als Herrin". Axel T. und Lene Voigt. Axel T. und Herbert Roth ... Wir werden uns an Axel T. auch weiterhin erinnern. Nächstens 12. Februar 2004.

Die Poesie, die Poesie,
Die Poesie hat immer recht,
Sie ist von höherer Natur
Von übermenschlichem Geschlecht.

"Das Leben ist ein Gedichte" empfand Friederike Kempner und lebt' es. Ihre Verse erschienen in reichlich Auflagen (bis heute). Sammlungen deutscher Lyrik können nicht auf sie verzichten. Anthologien gefühliger Texte ist diese Autorin ebenso unverzichtbar. Kritiker Alfred änderte seinen Namen Kempner in Kerr. Zu groß der Schatten der schlechten Poetin. Doch die Namen Kempnerscher Verehrer endlos: Peter Hacks, Horst Drescher, ... Es war eine Frage der Zeit, daß uns das "Genie der unfreiwilligen Komik" wiederbegegnet. Es ist an der Zeit und in der mb. Axel Thielmann und Katharina Keller werden die Werke der "schlesischen Nachtigall" interpretieren. Thilo Augsten schrieb dazu all die herzigen Melodeien. Und das alles in seriösen, sprich Literatur und wissenschaftlichen Rahmen, kleidet Henner Kotte. Von ihm auch die Texte, die die lyrische Überfülle in die Realität zurückführen. Es wird uns erfreuen. Die Mitwirkenden erfreut es schon jetzt.

Auch Goethe war nicht unfehlbar,
Was auch die Goethe-Jünger meinen:
Was sich nicht schickt, schickt sich für keinen.
Für jeden das, was recht und wahr.

Gehört hat von Axel Thielmann beinah jeder. Des Morgens auf mdr-Kultur. Des Abends im Gewandhaus. Wir hörten Axel Thielmann auf cd. Wir hören Axel Thielmann mit den Fakten des Tages auf mdr-info. Und lieb geworden ist uns seine Stimme ganz "Brisant". In jener täglichen TV-Schlagzeilensendung ist er die Stimme aus dem off. Und wir hörten/sehen Axel Thielmann auf den Bühnen der Stadt: mb, Gewandhaus, Baccacio, ... grad eben UT Connewitz: "Der Tod ist blond".

Willst gelangen Du zum Ziele,
Wohlverdienten Preis gewinnen,
Muß der Schweiß herunterrinnen
Von der Decke bis zur Diele

Axel ist einer jener seltnen Menschen, deren Geburtstag auf einen 29.2. in Jena fiel. Aller vier Jahre Geburtstag: Somit zählt Herr Thielmann nächstens 10. Herzlichen Glückwunsch! Das ministerielle Mediziner-Elternhaus gab Sohn Axel im Alter von sechs den Klavierstuhl und Unterricht. Nach POS und Arbeitertheater bei Carl Zeiss erlernte Axel die Grundlagen der Agrotechnik und bewarb sich in Weimar. Sein Studium entließ ihn als Sänger im klassischen Fach. Ein Vertrag an Leipzigs MuKo zerschlug sich. Und so verdingte Axel sich und seine Stimme im neuen Deutschland seit jeher frei. Im ehedem sagenhaft innovativen Naundörfchen gab Axel Ton: "Schönes grünes Mond" und war "Der gute Doktor". Auf Empfehlung sprach Axel beim Rundfunk vor und las "Nußknacker und Mäusekönig". Seitdem ist seine Stimme mit dem Funkhaus fest verbunden. Nachrichten, Features, Hörspiele. Wir hörten und hören.

Liebt die Dichter! Seht, sie geben
Euch das Beste, was es gibt!
Sie verschönern euch das Leben,
Dankbar Gegenliebe übt!

Daß in Axels stattlicher Männerbrust ein mitfühlend Herz schlägt, hat er immer wieder gezeigt und sich der Tränen und Lust nie geschämt. Axel kennt all die verfemten Dichter: Danielle Steel und Hedwig Courths-Mahler, Helmut Konsalik und Utta Danella und und ... Axel kennt die Namen, weiß um unsere, des Lesers Liebe. Und es würd uns ehrlich freuen, blätterte Axel T. und sein Team weiter in Bibliotheken und hebe die Schätze.

Die Welt ist ein Rätsel,
Man ratet es nicht.
Und will man's erraten,
das Herz einem bricht.

Bode/n unter den Füßen
Nicht nur stimmlich wandelbar: Anke Berndt

Oschersleben gilt bis heut' nicht als der Nabel der Welt. Dabei hat die Stadt bereits mehr als 1000 Jahre im Gemäuer. Sie liegt am Sumpf und am Fluß, der Bode. Zu sozialistischen Zeiten der DDR kannte man Oschersleben als Stadt mit dem besten Akkordeonorchester. Und wo die Musik spielt, wird gesungen. Das Mädchen sang mit dem Orchester und ohne, vor großer Kulisse, im kleinen Rahmen. Die Lehrer bemerkten Talent. Später bewarb sie sich, studierte in Leipzig klassisch Gesang. Folgerichtig: Diese Frau singt auch heute öffentlich. Oper und Stadt Halle kennen ihre Stimme und den Namen: Anke Berndt.
Dabei fiel die Berufsentscheidung Anke im Alter von 13 nicht leicht. Denn Erfolge feierte sie auch sportlich. Durchaus war eine Karriere im Stadionrund möglich. Vielleicht wäre Anke zur Olympiasiegerin gereift. Hochsprung? Weitsprung? Mittelstrecke? Die DDR scheute für den Leistungssport weder Kosten noch Mühen. Das hätte gehießen: Sportschule. Training vier/fünf Stunden pro Tag. Internat. Für die Musik wär die Zeit nicht mehr geblieben. Die Mutter stellte Anke vor die Entscheidung: Entweder. Oder?
Anke Berndt hat sich entschieden. Für Musikschule. Studium. Recht so, wie wir hören und sehen. Bereits im Alter 16 bestand Anke erste Aufnahmeprüfungen. Auch später der Verlauf des Berufslebens erstaunlich komplikationslos. Unter anderen ein Hallenser Praktikum im Jahre 1987, Regisseur Peter Konwitschny. Nach Studienende ein erstes Vorsingen im selben Bühnenhause. Keine Zweifel bei den Verantwortlichen: Engagement für diese Absolventin. Sicher, Zeiten haben sich geändert, und die Bedingungen waren für Absolventen anno 90 andre, als sie heutzutage sind. Doch mehr als Glück ist's schon, wenn Anke Berndt und Hallenser Opernhaus einander fast anderthalb Jahrzehnte treu sich sind und bleiben.
Anke Berndt sang Oper, Operette, Musical. Anke ist wandlungsfähig, wandlungswillig, weiß die Vielseitigkeit ihrer Rollen zu schätzen. Nichts schlimmer, als zu Beginn von Karriere und Beruf gleich in das eine und immergleiche Bühnenfach gesteckt zu werden. So sang Anke nicht nur Weber-, Mozart-, Händel-Noten (in Halle selbstverständlich), also Klassik: Cleopatra, Pamina, Susanna, das Ännchen vom "Freischütz". Sie gab auch heiter Stimme im "Weißen Röss'l" oder in der "Fledermaus". Ihrem lyrischen Sopran trauen die Regisseure, Anke traut Kollegen, Komponisten und ihrem eignen Talent. Die Künstlerin sah man nicht nur auf der Hallenser Opernbühne, man sah sie in Gent und Dortmund oder Kiel. Aber wir in Halle sehen sie am 23. Januar 2004 am bekannten Platze: Klassisch. Modern. Tragisch. Liebend.
"The Rakes Progress" ist seltnes Stück- und Operngut. Igor Strawinsky nicht einer jener Komponisten, die als Publikumsmagneten gelten. Auch die Geschichte ist jenseits der Klischees. Held Tom Rakewell hat eigentlich ausgesorgt: Sicherer Job, liebende Gattin. Und doch reizt das Mehr unendlich. Tom läßt's sein und stehen und liegen. Er heiratet das Mannweib Türkenbab. Will mit großartiger Erfindung Steine zu Geld fabrizieren. Und endet verrückt geworden in der Klapse. Ihm ist nicht zu helfen. Als die Gattin alles um der Liebe willen vergißt, hat Tom Rakewell no more Gefühl nur noch den Wahnsinn in sich. Ungewohnt solch Mär für's Opernhaus (wenn auch nicht in Halle). Intendant Klaus Froboese setzt das Bühnenwerk in Szene. Wir hören/sehen Nils Giesecke, Axel Köhler, ... Anke Berndt mit ganzer Seele. Sie ist die Gute, die von der Liebe nicht läßt. Trotzdem: Kein Happy End.
Logisch: Für Frau Berndt gibt's außer Oper auch Alltag, der allen anderen gleicht. Die Tochter fordert die Mutter und Liebe. Urlaub regelmäßig. Zur Entspannung mal ein gutes Buch. Schicksale, Biografien bevorzugt. Und ein/zweimal pro Woche: Tango. Auch der Tanz zeigt Anke Berndt temperamentvoll, wandlungsfähig, mit Charakter. Darf ich bitten?



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