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S!NGEN aus dem BAUCH


 Gesang und Gesangsausbildung in der Rock- und Popmusik

von Wolfgang Haubold

Zum Vorwort geht's hier.

EINSTIMMUNG

Als ich mir vornahm, zur Ergänzung und Vertiefung des im Unterricht und zu Seminaren Gesagten einige mir besonders wichtig erscheinende Probleme auch schriftlich darzulegen, ahnte ich nicht, was auf mich zukommen sollte. Es war wie mit dem Stein, den man ins Wasser warf:  Die Kreise wurden immer größer! Aber da ich in meinem Leben ohnehin schon gelernt hatte, daß Probleme durch Aufschreiben - und den damit einhergehenden Zwang zum konzentrierteren Durchdenken - an Klarheit gewinnen, sei es also, wie es sei.

Wen möchte ich ansprechen?
Ich stelle Sie mir vor als emporstrebende, wißbegierige und gesangsausbildungssuchende Sängerinnen und Sänger in Pop- und Rockbands, -gruppen, -formationen, -groups, in Pop- oder Gospelchören, als Liedermacherinnen und Liedermacher, als Sängerinnen und Sänger in den Bereichen Schlager, volkstümliche Musik, Volksmusik, Folkmusic, Country usf.; ganz gleich, wie die Spartenbezeichnungen auch immer heißen und auf welch gesangsstilistisch verschiedene Weise gesungen wird. Ganz gleich auch, ob Sie schon einmal in Ihrem Leben mit dem Begriff 'Stimmbildung' (in einem Chor z.B. oder solo an einer Musikschule) zu tun hatten oder nicht. Sie vor allem also möchte ich mit meiner Schrift erreichen.
Ansprechen möchte ich aber auch Sie, die Musiklehrerinnen und –lehrer der Schulen, Kantorinnen und Kantoren, auch Chor-Stimmbildnerinnen und -Stimmbildner - vor allem diejenigen, die einen Jugendchor anleiten oder die eine Pop/Rockband fachlich unterstützen und die popularmusikalische Titel mit der gleichen Solidität einstudieren möchten wie solche der klassischen Sparte. Bei Ihnen gehe ich davon aus, daß Sie in Ihrem Studium mit Wissen, geschweige denn mit praktischen Übungen zum Thema Rock/Pop nicht gerade verwöhnt wurden. Und bisher waren die Gesangspädagogen an diesen Ausbildungsinstituten ausschließlich Klassiker. Eine diesbezügliche gesangliche Grundlagenausbildung, wie sie für die Klassik-Strecke selbstverständlich ist, findet für Rock/Pop gewöhnlich nicht statt und wird allenfalls in den Freizeitbereich delegiert. Dabei müßten doch gerade Sie, die Sie mit der Jugend unmittelbar und hauptsächlich zu tun haben, in einem höchst liberalen Sinne auch in der Musik der Jugend zu Hause sein.
An Gesangslehrer aus dem Klassik-Bereich wende ich mich nur unter Vorbehalt. Und dies nicht nur, weil ich keinen nutzlosen 'Gesangslehrerstreit' entfachen möchte. Aus meinen Erfahrungen mit klassikgeschulten Sängern und Pädagogen weiß ich um die Schwierigkeit, diesen die gesangsstilistischen Besonderheiten von Rock/Pop nahezubringen. Falls es aber dennoch einen Klassikkollegen gibt, der sich ernstlich damit auseinandersetzen möchte, um auch Gesangstalenten der Popularmusik fachspezifisch helfen zu können, dann will ich meine Unterstützung selbstverständlich geben. Da es außerdem immer noch nur sehr wenige Gesangslehrer für Rock/Pop gibt, möchte ich jedem Versuch in dieser Richtung ausdrücklich Mut zusprechen.

Wozu eine neue Schrift über Gesang und Gesangsausbildung?
Schließlich gibt es doch schon so viele Veröffentlichungen dazu von Stimmphysiologen, Sängern, Gesangspädagogen, Musikwissenschaftlern und anderen Experten auf der Klassik-Strecke!? Ich kenne selbst eine ziemliche Zahl dieser meist sehr umfangreichen Schriften. Sehr vieles davon gehört auch zu meinem persönlichen Wissensfundus, und ich möchte Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, empfehlen, solche Schriften nicht nur zu lesen, sondern diese vor allem kritisch zu hinterfragen. Zum wirklichen Verstehen benötigen Sie auf jeden Fall stimmphysiologische und gesangspädagogische Grundkenntnisse sowie Kenntnisse der entsprechenden Fachtermini. Aber wer von den ausbildungssuchenden jungen Sängerinnen und Sängern hat die schon? Die Leserschaft solcher Bücher dürfte somit stark eingegrenzt sein.
Meine kritischste Anmerkung jedoch gilt der Tendenz in diesen Büchern, daß stimmschädigendes Singen fast immer mit Beispielen aus den Sparten Pop, Rock, Jazz, Chanson u.a. belegt wird. Die Ursache solcher Aussagen liegt in der klassiktradierten Grundhaltung dieser Autoren mit deren Philosophie der Aufspaltung der Musik in 'E' und 'U'.  'E' steht dabei für ernst, würdig und vor  allem wertvoll, 'U' für Unterhaltung, leicht und wenig Tiefgang.
Und die mir bekannten Buchtitel oder auch Diplomarbeiten, die sich mit dem Gesang in der sogenannten Popularmusik befassen, geben schon wichtige und richtige Antworten. Dennoch haben sie mich nicht von der Niederschrift meiner eigenen Erfahrungen und Überlegungen abhalten können. Ich möchte diesen Schriften einige Aspekte hinzuzufügen, von deren Wichtigkeit ich überzeugt bin oder die ich anders akzentuieren werde.
Vor allem wende ich mich dagegen, Gesang und Gesangsausbildung in Rock/Pop aus den Traditionen des Klassikgesanges her zu definieren. Liegen doch die wirklichen Wurzeln der heutigen populären Musik vielmehr im Gesang der amerikanischen Sklaven und dem daraus entstandenen Spiritual, Blues und Rock'n'Roll sowie der Volksmusik vor allem des karibischen Raumes, in Europa ebenfalls in der (echten) Volksmusik, hinzu kommen Verschmelzungsprozesse.
Mein Anliegen ist es jedenfalls, Sie über möglichst viele Sichtweisen zu informieren und Ihnen zu helfen, sich im Wirrwarr der Unterschiede von Klassik und Rock/Pop zurechtzufinden, und daß Sie darüber hinaus für sich selbst den richtigen Rat und ggf. den bestmöglichsten Gesangsausbildungsweg herausfinden. Das Kapitel 'Aufgaben des Gesangslehrers' soll Sie dabei auch als Lernende in die Lage versetzen, Ihre gefundene Ausbildung durchaus kritisch-fragend zu begleiten und somit qualitativ zu steigern. Keine Nestbeschmutzung also meines eigenen Berufes, sondern Aufklärung. Im Idealfall trifft ja ein erfahrener Lehrer auf einen talentierten Schüler - oder auch umgekehrt ein talentvoller Schüler auf einen kompetenten Lehrer! Daß sich Gesangslehrer aber oft zu wichtig nehmen, sieht man daran, daß sie ihre Bedeutsamkeit mit ihren erfolgreichsten und talentvollsten Schülern belegen. Was ein Lehrer wirklich leistet, erkennt man jedoch viel besser an dessen Schülern mit nicht ganz so üppig sprießenden Talent- und Persönlichkeitsmerkmalen bzw. an denen, wo diese Eigenschaften arg beschädigt oder sehr 'verschüttet' sind bzw. waren.

Für meine vor allem jungen und natürlich stimmphysiologisch nicht vorgebildeten Leserinnen und Leser bemühe ich mich um eine verständliche Ausdrucksweise mit einer möglichst geringen Zahl von Fachbegriffen. An einige wenige wird man sich aber schnell gewöhnen - die Übersetzung erfolgt im Anhang bzw. sofort:  z.B. Physiologie = Lebensvorgänge in Organismen, in unserem Fall vor allem im Zusammenhang mit den Organen der Stimmgebung; physiologisch = wie von der Natur vorbestimmt, also richtig ablaufend; unphysiologisch = der Naturbestimmung zuwiderlaufend.

SINGEN AUS DEM BAUCH

Dieser Titel schließlich soll Sie mit meiner etwas anderen Sicht auf das Thema  Gesang und Gesangsausbildung - vor allem in der Rock- und Popmusik - konfrontieren. Grund ist, daß ich in meiner nun mehr als 30jährigen Suche nach Wegen zu einer gesangspädagogischen Erschließung von Rock- und Popmusik zu der Erkenntnis gelangt bin, daß die noch immer vorherrschende klassikorientierte Gesangs- und Musikpädagogik nicht geeignet ist, Rock/Pop-Interpreten auszubilden wie überhaupt auch dieses Musikgenre mit unter ihr geistiges Dach zu nehmen.
Aus meiner persönlichen Erfahrung mit vielen vor allem natürlich jungen Sängerinnen und Sängern, die bei Klassik-Gesangspädagogen Unterricht genommen hatten, mußte ich immer wieder feststellen, daß dieser Ausbildungsweg vom Ziel dieser jungen Leute immer weiter wegführte, je länger er dauerte!
Und damit diese Feststellung nicht als Vorwurf gegen diese Gesangspädagogen mißverstanden wird,  ergänze ich, daß diese ihre Arbeit sogar ausgesprochen gut gemacht hatten - aber eben aus der Sicht ihres anderen Metiers mit dessen in wichtigen Details anderen Akzentuierungen.
Ich weiß, wovon ich spreche. Mein eigenes Staatsexamen habe ich mit Klassik abgelegt, und klassischer Musik gilt nach wie vor im großen Spektrum der Musik meine große Liebe.
Die Befähigung zum Unterrichten kann jedoch nur derjenige für sich ableiten, in dessen eigenes gesangliches und musikalisches Betätigungsfeld eine Musikgattung fällt, in der er sich bestens auskennt oder in die er sich zumindest einzufühlen vermag  und von der er glaubt, daß sich darin auch sein persönliches Lebensgefühl und seine Kreativität ausdrücken. Er muß außerdem dafür brennen, Geist, Inhalt und Stil von Musik zu vermitteln. Die Kenntnis gesangsstilistischer Unterschiede war in den obengenannten Fällen offensichtlich also nicht vorhanden oder wurde  ignoriert.
Den Titel 'Singen aus dem Bauch' als wesensbestimmend in der Rock- und Popmusik setze ich in bewußten  Gegensatz dazu, daß sich Gesangsausbildung in klassischer Musik zu oft nur als  Gesangs-'Technik'-Ausbildung versteht und daß die Vermittlung von Gesangstechnik zuungunsten  des Emotionalen in einem zu starken Maße im Vordergrund steht. Dieser Vorwurf wurde übrigens auch aus den Reihen der 'Klassiker' heraus, wie z.B. von dem bedeutenden Musiktheater-Erneuerer Walter Felsenstein, erhoben - ohne daß sich je Wesentliches geändert hätte. Ja, selbst bei der Ausbildung der verschiedenen Theaterstilistik-Techniken von der Wagneroper bis hin zum modernen Musical scheint es für die Klassikpädagogen keine wesentlichen Unterschiede zu geben. Bei Theaterbesuchen stelle ich immer wieder fest, daß selbst bei stimmlich sehr talentvollen Sängern ein Musicaltitel nicht viel anders klingt als beispielsweise ein Brahmslied oder eine Opernarie!

So bin ich immer mehr zu der Überzeugung gelangt, daß man zum Finden neuer Wege die alten Wege zunächst erst einmal vehement in Frage stellen und schließlich einen gänzlich neuen Weg finden muß.

Für einen infragezustellenden Weg halte ich also eine Sängerausbildung von Rock/Pop-Interpreten, die unkritisch und undifferenziert auf der Plattform der ach-so-bewährten klassisch-traditionellen Gesangsausbildung für Kunstlied- und Opernsänger unter dem Motto stattfindet: 'Wir benutzen doch alle den gleichen Körper und die gleichen Stimmorgane' und bei dem bestenfalls einige Details der Stimmbehandlung und Stimmführung aus Stilgründen leicht abgewandelt werden.
Es gibt vielleicht nur einen (Ausnahme-)Grund, einen solchen Weg zu gehen: Dann nämlich, wenn der Sound 'Pop mit Klassik-Touch' von Soundtüftlern mit entsprechenden Interpreten ausdrücklich so kreiert wird.  Nicht selten lösen solcherart erfolgreiche Interpretationen dann sogar Trends aus. Diesen Weg kann man aber ausbildungsmäßig nur insofern verallgemeinern, als daß auf den Gesangslehrer dann nur eine neue, zusätzliche Stilistik-Teilaufgabe hinzukommen würde.
Eine Sonderrolle spielt in diesem Zusammenhang auch das Genre 'Musical' mit seiner Bandbreite von der Operetten- bis hin zur Rockgesangs-Stilistik, darauf werde ich in einem speziellen Kapitel näher eingehen.  Gesangslehrer wie Sänger dürfen hierbei nicht das eine mit dem anderen verwechseln - was aber leider immer wieder geschieht.
Ebenfalls hört man im Spiritual- und Gospelgesang gelegentlich durchaus überzeugende Interpretationen mit  - dennoch -  stark opernhafter Attitüde. Meine Aussage dazu formuliere ich mal vorsichtig so, daß diese Musikgattung im Prinzip für alle Sänger offen ist - recht hat letztlich, wer seine Zuhörer überzeugt und so also für seine individuelle Interpretationsversion gewinnt.
Diese zuletztgenannte These bringt mich auf einen weiteren wichtigen Aspekt, den ich unter der Überschrift 'Nichts ist unmöglich' noch näher beschreiben werde: Es ist dies die Tatsache, daß die Bewertung einer Darbietung in 'richtig' oder 'falsch' in der gesamten populären Musik kein grundsätzlich und eindeutig beantwortbares Prinzip darstellt. 'Richtig' vielmehr ist oft, was ein Künstler kraft seiner Imagination (und gegebenenfalls auch + Management und Werbung) als Markenzeichen oder gar neuem Musikstil oder -trend regional, national oder auch international durchzusetzen vermag. Und dies nicht selten sogar in stimmlichen, sprachartikulatorischen oder umgangssprachlichen Erscheinungsformen, die im strengen klassischen Sinne als handwerkliche Fehlleistungen definiert werden, oder in Formen, in denen sich ausdrücklich Protest gegenüber den ästhetischen Normen der traditionellen bürgerlichen Hochkultur artikuliert.
Hier schließt sich die Frage an, was überhaupt ausbildbar ist, wenn es denn scheinbar keine Normen gibt? Tatsächlich gibt es auch Sänger, selbst zumeist Autodidakten, die jegliche Gesangsausbildung für die Sparten Rock/Pop, Liedermacher etc. strikt ablehnen oder sogar für schädlich halten. Auch ich sehe dieses Thema (siehe 'Aufgaben des Gesangslehrers') durchaus differenziert, bilde aber dennoch aus - und zwar vor allem so praxisnah wie möglich mit dem Schwerpunkt des Findens und Förderns der individuellen emotionalen Ausdrucksweise und Persönlichkeit des angehenden Gesangsinterpreten und indem ich ihm Lösungen anbiete, aber nicht vorschreibe. Und: nicht jeder Interpret benötigt zwingend eine Ausbildung! (Diese Definition ist natürlich eine Kurzfassung.)
Nicht zuletzt bleibt festzustellen, daß die Kommerzialisierung keinen Musikzweig stärker dominiert als gerade die Popularmusik. Und die Vermarktungsstrategien bis hin zur Meinungsmanipulierung bedienen sich ausdrücklich der emotionalen Wirkungen der großen Musikidole. Die großen Namen des Show-Bussiness (und dies sind auch solche aus dem Klassik-Bereich, wie z.B. die '3 Tenors') stellen Produktnamen einer Musikindustrie mit weltweit gigantischen Umsätzen dar. Die Verteilungskämpfe sind entsprechend hart. Für das Laien- wie semiprofessionelle Wirken ergeben sich hieraus gelegentlich schwierige Fragen nach der eigenen Standortbestimmung zwischen Kommerz und Ideal.
Aber wie auch immer: In Rock/Pop stehen jedenfalls Begriffe wie Individualität, Einmaligkeit, Originalität oder Emotionalität an allererster Stelle - in Stimmklang, Ausdruck und Artikulationsweise, im äußeren Erscheinungsbild und Verhalten - der Präsentation -, in eigenen Liedern und Musiksounds, die man möglichst nur diesem einen Interpreten zuordnet. Der Interpret  ist er selbst! Er realisiert sein ureigenstes Konzept.
Dieses steht im Gegensatz zu den Rollen- und Stimmfach-Eingruppierungen in der klassischen Musik (und auch im Musical), wo sich der Sänger, natürlich mit möglichst vielen persönlichen Wesenseigenschaften, in die zu verkörpernden Figuren einzubringen hat. Hierbei ist der Interpret
der Darsteller einer ganz bestimmten Rollenfigur! Und er ist bei seiner Rollengestaltung in das von Regisseur (meist dominierend), Kapellmeister, Choreograph, Dramaturg, Bühnen-, Kostüm- und Maskenbildner entwickelte Aufführungskonzept eingebunden, nicht selten sogar auch untergeordnet.
Bei solchen Gegensätzlichkeiten muß es ja wohl auch entsprechend andere Wege geben, die diesen  anderen Interpretentyp hervorbringen: Als Hauptweg zeigt sich hier ganz offensichtlich der des Autodidakten. Und da praktisch alle großen Namen aus Rock, Pop, Jazz, Folk, Country, Gospel sowie auch z.B. Liedermacher zu diesen zählen, muß man also fragen, was denn deren 'Universitäten'
sind.
Genau darin sehe ich die Schlüsselfrage für zu findende Ausbildungswege in der Rock- und Popmusik.
Und diese Frage bildet zugleich die Ausgangssituation für meine Schrift, in deren einzelnen Kapiteln ich meine Auffassungen begründen und meine eigenen Ausbildererfahrungen darstellen werde.
 

Hier geht's zu Teil 2 der Ausführungen.



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