www.Crossover-agm.de Die Bücher der Gebrüder Kotte (01.06.2003)

Fremdes Land zur Kenntnisnahme
Es gab ja eine Zeit, da war Reisen uns verboten: Eine Mauer und dann Schluß. Man hockte in den eignen vier Wänden beinah für immer felsenfest. Aber "Erkundungen" (antiquarisch) waren im sozialistischen Staate möglich und nicht nur per Jugendtourist und Freundschaftszug in nah und ferne Bruderländer. Lektoren und Verlag Volk und Welt (nimmer existent) brachten alle Welt zumindest auf den Buchhandelstisch, was realiter vollkommen unmöglich. Ägypten, Griechenland, Belgien lernte der interessierte Leser wortwörtlich kennen, Brasilien, England oder Chile. Aber auch Bekanntschaften mit Israel oder dem anderen Deutschland wurden auf diesem Wege geschlossen. Die Welt im Haus auch ohne TV und freier Presse. Und wenn man heutigen Tags zu Hause hockt (freilich aus ganz andren Gründen) könnt man zumindest gedanklich auf Erkundung gehen. Kann man.
Schweden ist uns vertraut. Kronprinzess Victoria läßt von der Ehe wenigstens träumen. Immerhin hat es schon ihre deutsche Mutter dorten auf den Thron geschafft. "Wohnst Du noch, oder lebst Du schon?" Findige Werber machen uns Möbel und Knäckebrot schmackhaft. Die Touristikbranche lobt ohnehin in höchsten Tönen: Schnee, Gebirg und Einsamkeit.
Literarisch kommt uns Schweden eher verbrecherisch gut. Seit Sjöwall/Wahlöö (Rowohlt) den Krimi revolutionierten. Aus dieser guten Schule lesen wir Henning Mankell (Zsolnay), Hakan Nesser (btb), Liza Marklund (Rowohlt), Asa Nielsonne (Rasch&Röhring), Kerstin Ekmann (Piper), ... Und sonst? Gegenwärtig tote Hose, wollen wir nicht mit den Klassikern Selma Lagerlöf (dtv) und Stig Dagerman (Suhrkamp) kommen. Wir fehlen, denn das Land hat mehr der Belletristik und Autoren.
So können wir "Neues aus Schweden von Mankell bis Edwardson" unterm Titel "Unter Elchen und Mördern" (Piper) lesen. Wir bemerken, auch der Verlag kann vom Krimi und Klischee nicht ganz lassen. Aber diese erwartbare Literatur hat Herausgeber Holger Wolandt nicht zusammengestellt. Einschlägig bekannte Autoren erinnern sich an Jugend, Liebe, andre Lebensweisen. Wir lernen Namen kennen, von denen wir gern mehr der Geschichten läsen. Katarina Mazetti erzählt von der sagenumwobenen Beziehung von "Birger und Fräulein Lisabet" und beläßt alles unsrer Phantasie. Jan Guillou, als Thriller-Autor mit den Romanen um Coq Rouge auch hier im Bücherschrank zu finden, berichtet von "Kindheit und Jugend" und zeichnet ein persönliches Bild der 50er. Ninni Holmquist schockt. Die wenigen Seiten "Im selben Wasser" haften, ein Kinderspiel und tiefere psychologische Bedeutung. Die Anthologie ein kurzweilig Lesen. Und manches, was uns Land und Leute näher bringt. Und auf die literarischen Erkundungen muß man sich heut allein nicht mehr verlassen.
Litauen ist uns bekannt als einer der baltischen Staaten, die demnächst zur Europäischen Union gehören. Mehr bang denn wissend blicken wir in diese Richtung Osten. Kultur und Kunst aus diesem Lande sind ein Buch mit sieben Siegeln. Cornelius Hell macht uns "Meldung über Gespenster" (Otto Müller) und präsentiert damit einen Streifzug durch litauische Literatur und Geschichte. Namen wie Jurga Ivanauskaite, Atanas Vienulis, Marius Ivaskevicius haben ungewohnten Klang. Warum? Die Themen der Geschichten, die Konflikte der Protagonisten sind uns keineswegs fremd. Wir erfahren von den Deformationen unter sozialistischer Herrschaft. Wir hoffen mit beim Aufbruch in neue Zeiten. Wir kennen zerstörte Träume, zumal hier vor Ort. Und manchmal lassen uns die Schicksale einfach nicht los. Bite Vilimaites Kind findet den "Tod im kalten Feuer", weil andre in ihm nicht den Mitmensch sehen. "Das gläserne Land" schildert Vanda Juknaite erbarmungslos. Die wirklichen Emotionen werden im Zusammenleben versteckt, es handeln die Monster auch in der eigenen Familie. Herausgeber Cornelius Hell kennt das Land und seine Gespenster, er unterrichtete Deutsch an Vilnius' Universität. Seine "Erkundungen" zeigen wahrhaftig ein Land, das wir nur vom Namen kennen.
Logisch: Urlaubszeit ist, und Reiseführer haben Hochkonjunktur. Doch nicht immer liegen alle Sehenswürdigkeiten festgehauen in Stein und Bild am Straßenrand. Auch jenseits der Grenzen, im fremden Land leben Leute. Bei aller professionellen Reiseleitung lernen wir sie selten kennen. Insofern lesen wir gern, was uns ein Land entdecken läßt. Und ehrlich, nicht stets muß ich mich dazu auf den Trip begeben. Auch auf'm Sofa reise ich gern.

Unser aller Prinzen gibt's buchstäblich im Buche "du mußt ein schwein sein" (Gustav Kiepenheuer Leipzig). Da können wir nachlesen, was wir hörten und immer noch im Ohre haben: "Küssen verboten", "Millionär", "Alles nur geklaut" und der anderen Hits mehr. Manch diskussionswürdigeren Textbeitrag á la "Ich möcht' eine Bombe sein" enthält uns das Büchlein leider vor. Dafür sind die Schweine-Illustrationen von Uschi Heusel herzallerliebst.

Heutigen Tags sind wir's gewohnt, daß Fernsehserien zum Nachlesen erscheinen. Daß solch TV-Beitrag auch nach drei Jahrzehnten Auflage erzielt, spricht für seine Qualität. Helmut Sakowski schrieb mit "Daniel Druskat" (AtV) nicht nur Fernsehgeschichte. Auch der Roman vom Lande war Gesprächsstoff in der DDR, denn selten wurde vom Zwang der Kollektivierung öffentlich gesprochen. Privates kontra gesellschaftliches Engagement? Die klasse erzählte Geschichte eignet sich zur Entspannung genau so wie zur zwanglosen Auffrischung der Geschichtskenntnisse. Was will man mehr?

Tip: Schicksal und Alpen
Wir kennen unser Hochgebirg auch aus der Literatur. John Knittels "Via Mala" (Fischer) läßt uns die einsame Familienrache am brutalen Vater nachvollziehen. Wir leiden, ob eingebildet oder nicht, auf Thomas Manns "Zauberberg" (Fischer). Bangen um den Musikus in Robert Schneiders "Schlafes Bruder" (Reclam). Wir lieben uns "Heidi" (Arena) und vergessen die Autorin Johanna Spyri. Und Peter Rosegger bringt uns mit dem Waldbauernbub und dem Waldschulmeister überhaupt diese "Waldheimat" (Staackmann) nah und weckt Sehnsucht. Ein bißchen wollen wir schon dazu gehören zu der Idylle und Natur und den Herausforderungen, die das Alpenland stellt. Hätten wir ohne Luis Trenker je vom "Kampf ums Matterhorn" und den "Helden der Berge" (Bertelsmann) erfahren? Und so stehen die urwüchsig hohen literarischen Werke noch immer auf den Bestsellerlisten. Sie haben unsere Vorstellungen geprägt, aber schildern sie's Hochgebirg und darin die Lebensläufe wirklich?
Pirmin Meier recherchierte das Leben des Advokaten Franz Desgouttes und das des Putzmachers Heinrich Hössli. Durch "Mord, Philosophie und die Liebe der Männer" (Pendo) sind beide verbunden. Der fesche Desgouttes gab zu besten Hoffnungen Anlaß, studierte in Tübingen, ward Doktor der Jurisprudenz. Im Vaterhaus in Langenthal im Kanton Bern ließ er sich nieder, praktizierte. Sein Substitut und Schreibgehilfe hieß Hemmeler, Daniel Hemmeler. Daniel war jung und schön und schicklich. Herr Doktor, er verliebte sich. Rasend. Und mangels Ausweg, Haus und Geld war Daniel ihm zu Willen. Ohne Lust. Dr. Degouttes ward seiner Sinne den Knaben betreffend immer weniger mächtig. Zur Katastrophe kommt es, als Substitut Daniel sich verliebt. In ein Mädchen. Und den Prinzipal nimmer mehr mochte. Desgouttes wird wild und Mörder. Abgestochen hat er den Geliebten nachts im Bette. Gefaßt wurde Desgouttes schnell und gestand. Sein Leben, seine Liebe, seine Reue schrieb sich der Doktor von der Seele. Das Urteil: Tod durch Strang, dann Rädern. Das Blutgericht wurde in Aarwangen am 30. September 1817 vollzogen. "Ich werde nicht mehr Stärke affectiren, als mir gegeben wird; das würde eine Heuchelei sein, deren ich mich am Rand des Grabes nicht schuldig machen möchte."
Doktor Desgouttes' Tat war Gespräch im Alpenland, seine Liebe nicht. Der Mörder bekannte sich zwar öffentlich zu seiner Neigung, doch Obrigkeiten verboten den Text. Heinrich Hössli zählte an Jahren soviel wie Degouttes: 32. Ob auch er Männer liebte, verrät die Historie nicht. Der Hutmacher aus Glarus nahm den Fall Desgouttes zum Anlaß, sich ans Werk zu machen "Eros. Die Männerliebe der Griechen ihre Beziehungen zur Geschichte, Literatur und Gesetzgebeung aller Zeiten". Daß der Huter-Hössli ein Philsoph, ein Literat, ein Wissenschaftler konnte man nicht glauben. Auch das Thema seiner Forschung stieß auf wenig Widerhall. Erst Jahrzehnte später mit der psychologischen und sexuellen Aufklärung erkannte man den Wert des Werkes Heinrich Hösslis. Da war der Autor einsam, arm verstorben. Erstaunlich, was und wie Pirmin Meier Zeitgeschichte und Personen nahe bringt.
Anderes Datum: 8. September 1928. Die Alptour von Vater und Sohn Halsmann nähert sich ihrem Ende, die Zillertalbahn in Mayrhofen ist keine zwei Stunden entfernt. Der Junge geht voraus. Dann liegt der Alte blutig im Zamserbach. Der Sohn eilt nach Hilfe. Der Vater ist tot, ermordet, lassen Indizien eindeutig schließen. Der "Anklage Vatermord" (Zsolnay) muß sich Philipp Halsmann stellen. Ist er schuldig? Der Prozeß in Innsbruck, ein Spiegel damaliger Zeiten: Judenhaß und Medienhatz, Juristenschlampigkeit und Wichtigtuerei. Martin Pollack schildert die Geschehnisse nach Aktenlage. Damit gelingt ihm ein unerwartet anschauliches Bild damaliger Gegenwart. Erwähnt noch sei: Daß Philipp Halsmann nach Verurteilung und Begnadigung weltweit Berühmtheit als Fotograf erlangte. Über Kriminalfall und Prozeß hat er niemals wieder sich geäußert. Ungeklärt ist der Mord bis heute.
Tatsachenberichte erzählen aus dem Leben eines Menschen. Selten sind sie wahrhaftig recherchiert. Pollack und Meier erfinden nicht, ihre Kunst besteht darin, Dokumente sprechen zu lassen, Fakten. Das Schicksal ihre Protagonisten ist wirklich und wirklich des Erzählens wert. Vermutetermaßen trocken lesen sich die Bücher keineswegs. Nicht schön gefärbt und aufgepeppt erfahren wir von Menschen, die Liebe, Glück, zu sich selber finden wollten. Private Geschichten aus dem wahren Leben beeindrucken meist mehr als die monumentalen Biografien von Prinzen, Stars und Ärschen, die heutzutage ihr Leben selber in die Legende schreiben (lassen). Angesichts solch angemaßter Wichtigkeit berufen wir uns lieber auf die Realitäten - egal ob in den Alpen, der Rhön oder Dresdner Heide.

Web London ist absoluter Profi in den Special Forces FBI. Und dann wird seine Truppe so einfach abgeschlachtet, alle Mann. Wer wie und warum? Agent London begibt sich in den Dschungel der Gewalttaten und -täter. Mafia, Killer, Syndikate begegnen dem Helden Kinder, Frauen, Pferde und "Der Abgrund" (Gustav Lübbe) auch seiner eignen Psyche. David Baldacci verfaßte einen actionsgeladenen Thriller. Ulrich Pleitgen liest das Werk (Lübbe Audio), und wir genießen und finden's bestens geeignet für die Kopfhörer, wenn uns die eigne Action Ruhe suchen läßt.

Manche Person wird zu Lebzeiten Legende. Selten, wenn es eine Staatsfrau war und sich selber nicht in Szene setzen wollt. "Lotte Ulbricht" (Das Neue Berlin) war First Lady der DDR, weil ihr Mann der Walter war. Nach dessen Tod rankten sich die wildesten Gerüchte um die Dame: Auf sozialistische Kosten bei der Tochter in der Schweiz? Herausgegeben hat Frank Schumann Selbstzeugnisse, Briefe und Dokumente. Damit kann er manch Vorurteil begegnen. Ohne Phrasen und Deutungen entsteht das Bild einer selbstbewußt bescheidenen Frau, die nicht im Rampenlicht der Weltgeschichte stehen mocht' und sich doch nie auf's Private beschränkte. Lotte Ulbricht starb im Alter 98, das Buch einhundert Jahre deutsche (Personal)Geschichte. Interessant.

Luftgeist-Amöbe by heart
Das Jahr Zehn der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik
"Die Menschen gehen / in Handschellen / Verbergen ihr / Verfallsdatum."
Jegliche, zumal schöngeistige Literatur hat den Anspruch, Zeit zu überdauern. Dem gedruckten Wort haftet seit je der Ruf des Ewigen an. Modern Times haben auch geschriebene Sprache ins Endliche rückgeholt. Und trotzdem: Literatur ist Zeuge und Zeugnis von dem was war, ist, sein wird.
Prosa, Dramatik, Lyrik ist die Dreieinigkeit des künstlerischen Wortes. Wobei in Kenntnisnahme und Verbreitung nicht alle Gattungen gleichen Ausgangspunkt haben. Prosa scheint am einfachsten konsumierbar. Im Theater und via TiVi wird die zweite Art lautstark geboten. Gleichsam introvertiert erscheint uns die Lyrik. "Denn: Gedichte entstehen sicherlich nach wie vor im Gespräch eines Menschen mit sich selbst. Gedichte entstehen aber auch nach wie vor im Gespräch mit allen, in der erlebten oder gedachten Gemeinschaftlichkeit, die wir Menschen wollen, die wir können, die wir brauchen. denn: Gedichte sind sicherlich nach wie vor dem Schreibenden selbst nötig. Gedichte aber auch nach wie vor - also ihrer Natur nach - für die öffentliche Gemeinschaft, für die sogenannte Gesellschaft, für ihr Gespräch mit sich selbst und über sich selbst not-wendig", schrieb Christel Hartinger. Seit zehn Jahren existiert sie die Gesellschaft, vergleichbar der British Poetry Society, die die Autoren eint und stets wieder uns Gedichte ins Bewußtsein hebt, not-wendiger Weise: Die Gesellschaft für Zeitgenössische Lyrik.
"Aber die Dichtung, die leicht- / geflügelte Luftgeist-Amöbe, / wohin kann sie spurlos entfimmert sein?"
Neben der Wirkung auf und Hörer und Leser (die Autoren eingeschlossen) bewahrt diese Gesellschaft. Seit ihr Sitz in Leipzig, Sachsen, beherbergt die dortige Stadtbibliothek auch die Leipziger Lyrikbibliothek. Tausende Bände mit Gedicht stehen zentrumsnah im trutzigen Gebäude am Wilhelm-Leuschner-Platz. Mehr als 1000 Autoren sind in ihren Worten zu finden. Einzigartig. Unikate. Künstlerbücher. Sonderdrucke. Die Mehrung des Bestandes ist freiwillig, was heißt Lyrik wird dieser Sammelstelle gespendet. Von Autoren. Von Verlagen. Von Sponsoren. Sicher, Gewinn bringt das den Produzenten in erster Hinsicht einzig nominell, und deshalb muß auch manch Verlagshaus an Gutwill und Pflicht erinnert werden. Aber 4000 Bände können sich mittlerweile lesen lassen und haben Bestand. Und diese Bibliothek bietet noch mehr. Regelmäßig sind für ihre Art bekannte Zeitschriften einzusehen: Muschelkalk, Akzente, Signum, Der Literat, Das Gedicht, ... Manches was da die Deutsche Bücherei nicht birgt und bergen kann.
"Komm ohne Schuh, / Tritt vor die Tür. / Sprich aus, / worauf ich warte. / Das ist unsere Zeit. / Wir reisen im Stand."
Daß die Lyrik in Leipzig Heimstatt fand hat Grund. Seit fünf Jahren steht Ralph Grüneberger diesem Kunstverein vor. Lyriker mit Leib und Seel, gilt er seit seiner Erstveröffentlichung 1984 als einer der Gewandt-innovativsten der literarischen Zunft. Er weiß, was solch Gesellschaft leistet und bedeutet. Eben wurde er für eine weitere Amtszeit im Amte bestätigt. Und so hat sich die Gesellschaft für Zeitgenössische Lyrik vor Ort einen Namen auch außerhalb der Bibliothek gemacht. Alljährlich findet sie im Haus des Buches Statt: Die Sommernacht der Poesie. Deren Wintertag ist in Tübingen zu erleben, wo sie vordem residierte. Zur Zeit zeigen die Räume in der Stadtbibliothek am Leuschner-Platz zu Leipzig die illustrierte Geschichte der Gesellschaft für Zeitgenössische Lyrik: "Geboren in Tübingen - Aufgewachsen in Leipzig". Finissage ist am 16. des Januars und bietet ein Rose-Ausländer-Programm. Denn mitnichten widmet man sich nur den gegenwärtigen Autoren und ihrer Lyrik samt Verbreitung. Die Mitglieder reiben sich an den Namen der Vergangenheit: Goethe, Brecht, ... Und zum Jubiläum erschien ein Band, der Lyrik der Mitglieder vereint: "Schreibwetter". Ein lesens- und bedenkenswerter Querschnitt der leisesten aller leisen Kunstgattungen, der Lyrik in Deutschland.
"Mich, sagt der Roman, / musst du nachlesen. / Mich, sagt das Gedicht, / lernst du by heart."
(Zitate aus "Schreibwetter" von Ralph Grüneberger, Roland Erb, Peter Härtling und Detlev Block)

Mann von Kautsch und Tagesthemen
André Kudernatsch hält Wort am Morgen und hat des Abends Gäste
Es fehlt die Zeit. Es fehlt die Muse. Der morgendliche Blick in die Zeitung ist seltener als ehedem. Aber zum Frühstück gehört's Radio wie Kaffeepott und Butterbrot. Und so kann man hören, was man nicht selber lesen kann. Jeden Morgen halber neun erreicht uns das Feuilleton via mdr-Kultur. Ein Redakteur hat die Presse durchschaut und faßt zusammen. Nicht die Termine des Tages und die Katastrophen von gestern, das Feuilleton berichtet, worüber sich Journalisten Gedanken machten. Der Redakteur wählt aus diesen Tagesthemen aus mit leichter Hand, stellt Parallelen fest und Widersprüche. Vor allem aber hat er selbst den Spaß an diesen fünf Minuten morgendlicher Presseschau. Ironie, Satire, Scherz und tiefere Bedeutung, nicht allzu häufig, aber täglich zu angestammter Stunde. Seit einem Jahrzehnt kann der geneigte Hörer auf mdr-Kultur nun bereits diesen Pressedienst vernehmen. 1992 begann es als Experiment. Studenten durften sich probieren. Und einer ist von Anfang an dabei. Der Dienstälteste der Radiofeuilletonisten zählt 32 Jahr. Name: André Kudernatsch.
Herr Kudernatsch versichert, daß dies sein Name wirklich ist, kein Pseudonym, kein Phantasiegebilde. Und Kudernatsch ist nicht nur im Radio ein Mann des Wortes. Er hat die journalistische Profession im In- und Ausland studiert und übt sie zum Broterwerb auch aus. Bücher tragen seinen Namen wie auch Shows in mitteldeutschen Landen. Anläßlich der Lachmesse zu Leipzig bekam Herr Kudernatsch in diesem Jahre für seine Wortkunst Ehrung. Der Cabinet-Kabarettpreis ward ihm verliehen. Aber mit Worten kreativen Umgang pflegt Kudernatsch seit frühsten Lebensjahren.
André Kudernatsch wurde anno '70 in den Wäldern vor der Hauptstadt der DDR, Berlin, geboren. Bereits in der zweiten Klasse, POS, schrieb er Geschichten von Gespenstern und anderen Unwesen und beeindruckte damit die Lehrerin nicht. Später probierte sich der Autor am heitren Realismus der Dorfgeschichte, nachlesbar: "Nu reecht's mich aber", 1992. Am Literaturinstitut hat er sich nicht beworben, aber kunstvolle Texte wollte André Kudernatsch schon richtig gut verfassen. Und so nutzte er die Bildungsmöglichkeiten, die sich dafür boten: Kudernatsch war Mitglied in allen Zirkeln schreibender Leute, die der Sozialismus so kannte. Und auch später war keine literarische Werkstatt vor ihm sicher. Vom erfolgreichen Engagement in dieser Hinsicht zeugen "Gift im Tee", 1997, und "Mandibula", 1998, wo Kudernatsch erstmals eine Herausgeberschaft versah. Die Premiere des Buches fand in den Kellern von IlsesErika statt. Ein Leipziger Etablissement, das für seine unkonventionelle Pflege der Kultur in Leipzig berüchtigt bekannt ist. Kudernatsch moderierte den Abend der Literatur mit Verve und Humor, daß sich seine versammelten Autoren wie die zuhörenden Gäste gut unterhalten fühlten. Das sollten wir fortsetzen, meinten Verantwortliche. Und seit 1999 findet sie denn auch in Regelmäße statt, die Show: "Kudernatschs Kautsch". Ende unabsehbar.
Das Konzept ist einfach: Herr Kudernatsch lädt Gäste ein, die leidlich oder richtig einen Namen haben, den das Publikum bereits vernommen hat. Dieser Prominenz wird dann auf Kudernatschs Kautsch Platz geboten, wo sie vom Sitzmöbelbesitzer zwanglos in eine Plauderei gezogen werden. Diese Unterhaltung widerspricht dem allgemein üblichen Ton und der Erfahrung von Talkshows. Kudernatschs Fragen überraschen den Interviewten. Er muß auf Sinn und Unsinn reagieren, Kontra geben (denn da läuft auch der Moderator zu seiner Höchstform auf). Das Publikum folgt mit Interesse und Heiterkeit. Schnell hatte sich die Show in Kreisen rumgesprochen und ward besucht, daß man sich in den Kellerräumen drängte. Aufmerksame Kulturscouts hatten sich blicken lassen, und bereits nach Jahresfrist fand sich Kudernatschs Kautsch in anderem Gewölbe, der Moritzbastei, wieder. Die Tradition der Gäste aller couleur, der Zwischenmusik live und dem Thema des Abends ward beibehalten. Mittlerweile saßen bei Kudernatsch illustre Menschen im Polster: Fernsehgärtnerin Erika Krause stahl dem Moderator fast die Show und verteilte unter den Anwesenden genüßlich Brennessel-Dip. Krimilegende Maj Sjöwall verzichtete auf den Schwedeneisbecher und nahm den Schluck Eierlikör aus der Flasche. Achim Mentzel schmetterte (Opern)Lied gut. Waldemar Cierpinski antwortete. Gojko ließ seine Muskeln spielen. Alexa Hennig von Lange vertrieb ihre Literatur Popart ...
Es ist eine multimediale Mischung, die Kudernatsch bietet. Das Publikum wird um Mitwirkung gebeten und verweigert sich nicht, singt und tanzt und ist dem Kudernatsch zu Willen. Aber auch alle, die die im Licht stehen, erhalten als Dank ein, sagen wir mal, unorthodoxes Geschenk. Das ist Programm (und vielleicht auch der Grund bei Kudernatsch die Bühne zu entern). Der Moderator hat stets tolle Sachen in seinem Präsentekorb: Plastepfeife, Schminkset, Lasso oder Schutzumschlag. Das hat dann jeder davon und nimmt es gern.
Neben all der Show und den geladenen Gästen kann es auch Kudernatsch nicht lassen und trägt dem Thema angemessen stets ein/zwei seiner Geschichten lauthals vor. Diese handeln von Ulli und dem Kiffe-Bernd, von Onkel Hansi und den Erlebnissen in pubertierender Kindheit. Da wird lustig Goldi getrunken, werden Pornos geglotzt. Da haut der Erzähler auf die Kacke (in echt) und verarscht Tante Ella oder Kindergartentanten. Gar ein Joghurt wird vorgeführt, der Zaubern kann. Manch einer im Publikum, der sich da erinnert fühlt. "Wir sprechen russisch" mit dem im Bushäuschen vergessenen Sowjetsoldaten. Wir spielen Indianer mit Marterpfahl und Tomahawk. Gar eine Band gründet der Erzähler mit Konsorten. Letztlich bleibt wie immer nur zu fragen: Hat der Autor alles selbst erlebt?
Da dringend der Wunsch bestand, diese Werke schriftlich nachzulesen, sind sie gedruckt erhältlich. "Suffis Welt" versammelt die Geschichten von "Ulli und ich und Onkel Hansi". Diese Publikation war die erste des Leipziger Fünf Finger Ferlages, der mit Konstanz Literatur abseits des Mainstreams veröffentlicht. Und auch zur diesjährigen Buchmesse, Leipzig, stand Kudernatsch samt weiterer Ferlagsautoren im prallen Menschenleben: Hieß es vorjahrs "Fünf Finger im Gemüse", war nunmehr das Motto "Fünf Finger in der Kasse". Ort des literarischen Geschehens: Marktkauf im Sachsenpark, gleich neben den Messehallen. Dies zumindest eine der ungewöhnlichsten Ideen beim Lesefest "Leipzig liest". Der Kunde kann der Literatur nicht mehr ausweichen, sie steht ihm im Weg des Einkaufswagen.
Seit kurzem nun die allerneuste Produktion aus den Händen André Kudernatschs: "Generation Goldi". Das sind "Wilde Hörspiele und neue Hits frei nach dem Kultbuch 'Suffis Welt'". Auf dieser Scheibe sind die Geschichten stilgerecht vertont und noch mehr. Ein Hit jagt den anderen, denn Kudernatsch leiht seine Stimme der Musik Boy Kottkes. Vernehmbar solch Ohrwürmer wie "Hüper Hüper (DJ Sven fehlt)" oder "Leiche". Musik gestaltet nicht nur diesen Tonträger abwechslungsreich.
Auch "Kudernatschs Kautsch" ist mit Klasse Melodien unterlegt. Live werden die von solchen Künstlern wie Hasso Veith oder der Schirmer-Kombüse dargeboten. Dazu noch Assistentin Sanne, die sich ansehnlich vorm Publikum bewegt (ansonsten geht sie dem Moderator charmant zur Hand). Diese Pausen - Highlights der Talkshow! Im Dezember gar wird bei Kudernatsch auf der Bühne gar nicht geredet, da wird nur noch gesungen. Denn zum Anlaß wird der Liedermacher des Jahres gekürt. Im Jahre 01 gewonnen hat den Pokal Fräulein Fischer. Zuvor erlangte den Sieg die singende Klofrau Madonna. Offensichtlich: 1. Platz bei diesem Wettbewerb - ein Gewinn auch für Karriere und Beruf. Nicht ohne Grund hat man bereits versucht, den Titel "Liedermacher des Jahres" mit unfairen Mitteln zu erlangen.
Auf der Kautsch geht alles mit rechten Dingen zu. Nur stellt der Moderator seine Fragen ungewöhnlich. Diese Art der Wortkunst ist Ehrung und Kenntnisnahme wert. Davon kann man sich überzeugen: schriftlich, auf dem Plattenteller und bei den Shows in Leipzig, Erfurt, anderswo.
Und überzeugen kann man sich auch via mdr-Kultur. Jede dritte Woche verliest André Kudernatsch dort halber neun das Feuilleton: sachlich, kritisch und süffisant. Gemäß seiner Art und Ader. Dem Hörer zur Information, Freud und Ersparnis (der Zeitungslektüre).



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