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Man spricht deutsch
Fakten und Argumente zur Versachlichung einer unsinnigen Debatte

von Markus Baum, Journalist beim Evangeliumsrundfunk (ERF)

Alle Jahre wieder wird die Forderung erhoben: singt mehr deutschsprachige Lieder! Textet gefälligst, wie euch der Schnabel gewachsen ist! Und es werden süffisante Fragen laut: Warum verleugnen Musiker eigentlich ihre Muttersprache? Jüngst ist sogar ernsthaft die Einführung einer Quote deutschsprachiger Songs im Radio gefordert worden, und das auch von ansonsten vernünftigen Künstlern. Vermutlich können nur harte Fakten helfen, die Diskussion zu entkrampfen. Wenn wir am Ende unsere jeweiligen Lieder fröhlicher, bewußter, selbstbewußter singen - ob nun in Deutsch, Englisch, Mandarin oder Kisuaheli -, dann ist allen geholfen.

In der Kürze liegt die Würze
Jede Sprache hat ihre Besonderheiten. Zum Beispiel die durchschnittliche Wortlänge: die durchschnittliche Silbenzahl pro Wort beträgt im Englischen 1,406; im Deutschen sind es 1,635 Silben. Im Englischen sind sieben von zehn Wörtern (71,5%) „einsilbig", nur jedes zehnte Wort ist drei oder noch mehr Silben lang. Im Deutschen dagegen sind nur etwas mehr als die Hälfte aller Wörter „einsilbig". Fast die Hälfte aller Wörter ist zwei oder mehr Silben lang.
Ein inhaltsgleicher Text - z.B. das Vaterunser - enthält im Englischen ca. 10% weniger Zeichen als im Deutschen. Das würde nicht sonderlich auffallen - aber dazu kommt, daß im Englischen wesentlich weniger Silben gesprochen als geschrieben werden. Im Deutschen dagegen sprechen wir normalerweise, wie wir schreiben. Folge: Englisch ist unschlagbar knapp. Einer der wichtigsten Sätze im Universum hat im Englischen nur drei gesprochene Silben: „I love you". Im Deutschen sind es vier, und die zudem noch mit einer ungünstig verteilten Betonung: „Ich liebe dich". Man kann also im Englischen denselben Sachverhalt kürzer ausdrücken.
Noch ´ne Folge: Englische Texte sind vertonungsfreundlich. Es ist ja völlig logisch, daß mehrsilbige Wörter sperriger sind als kurze. Die „einsilbigen" englischen Lyrics lassen sich völlig problemlos auch unterschiedlichen Melodien anpassen. Da haben wir´s im Deutschen objektiv schwerer. Wir müssen viel öfter die sprichwörtliche „dichterische Freiheit" bemühen: Wörter verkürzen, Silben zusammenziehen, Wörter ganz auslassen. Hilfswörter umstellen. Kaum ein deutscher Text paßt ohne solche Kunstgriffe auf eine singbare Melodie.

Deutsche Sprache, schwere Sprache
Hut ab vor all denen, die stilsicher, griffig, knackig und treffend in deutscher Sprache texten können. So viel Hüte muß man da leider nicht ziehen. Über allen thront Wolf Biermann. Purple Schulz und Heinz-Rudolf Kunze, Hartmut Engler und Pe Werner - und dann fange ich schon an zu grübeln. Und wo sind die bemerkenswerten Texter deutscher Zunge im Bereich der christlichen Popularmusik: Christoph Zehendner, Jörg Swoboda, Bettina Dörfel, Katrin Paul, Sören Kahl (nicht immer), Thomas Fricke (immer öfter), Manfred Siebald. Die meisten anderen mühen sich redlich. Es gibt objektive Gründe dafür, daß Texten in deutsch eine so mühsame Angelegenheit ist:
--- Die deutsche Sprache ist unschlagbar genau. Wo Engländer und Amerikaner verschiedenste Vorgänge mit derselben kurzen Beschreibung erfassen, da haben wir im Deutschen denn auch x verschiedene Ausdrücke. Peinlich, wenn man knapp danebengreift: schiefe Bilder, unpassende Vergleiche gehören zu den häufigsten Mängeln an deutschsprachigen Liedtexten. Genial, wenn einer unanfechtbar präzise formulieren kann.
--- Die deutsche Sprache ist flexibel. Wo man im Englischen die meisten Sätze nur auf eine einzige Art anordnen kann („SPO" - Subjekt, Prädikat, Objekt), da kann man im Deutschen mit den Wörtern und Zeilen jonglieren. Ich begleite meinen Gast zur Tür (1) oder Meinen Gast begleite ich zur Tür (2) oder Zur Tür begleite ich meinen Gast (3): Im Prinzip ist jede Konstruktion möglich. Sogar objektiv falsche Anordnungen sind vollkommen verständlich: Zur Tür ich meinen Gast begleite (4), Meinen Gast ich zur Tür begleite (5), Begleite ich meinen Gast zur Tür (6).
Problem: alle Varianten sind möglich, aber nicht alle sind schön. Noch ein Problem: die am wenigsten eleganten Varianten (4, 5, 6) sind rhythmisch interessanter als die einfachste und stilistisch sauberste Variante (1). Allzuoft erliegen Texter dieser Versuchung - mit saukomischen oder auch ärgerlichen Ergebnissen: barockes Dichterdeutsch, sprachliche Irrgärten. Wenn freilich ein Texter sein Handwerk versteht oder eine Texterin, wenn er oder sie ein Gefühl für diese vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten und dazu noch einen gesunden Menschenverstand hat, dann können in seiner oder ihrer Werkstatt fabelhafte Texte entstehen. Gänsehautzeilen, Sätze, die man nicht vergißt. Es ist kein Zufall und auch nicht nur Ergebnis der Marktverhältnisse, daß zwar Hunderte Songs aus dem angelsächsischen Sprachraum ins Deutsche übersetzt werden, aber nur ganz wenige aus dem Deutschen ins Englische. Das liegt auch daran, daß deutschsprachige Texte zum Teil wirklich unübersetzbar sind, so schön, so aussagekräftig können sie sein.

A hard day´s night
Texten ist harte Arbeit. Konzertbesucher und Plattenkäufer haben was Besseres verdient als "nur" gute Musik. Da Texten im Deutschen objektiv schwerer und voller Tücken ist, sollte man mehr als das letzte Restchen Kreativität darauf verwenden.
Aus dem Umstand, daß Deutsch nicht gerade einfach ist, darf man aber nun nicht den Schluß ziehen, daß Texten im Englischen leichter wäre. Wenn Deutsche sich an englischen Texten versuchen, liegen Briten und Amerikaner oft platt auf dem Boden vor Lachen. So viel unfreiwillige Komik, so viele Peinlichkeiten.
Ausnahmen bestätigen die Regel. Über die Scorpions lacht heute niemand mehr. (Doch. Seit den Versuchen der Verquickung von Deutsch und Englisch in "To Be No. 1" und "Du bist so schmutzig" auf "Eye II Eye", die den Terminus "Foll Daneben" bis ins Hinterletzte ausfüllen, lacht außer ein paar angeheiterten Kegelbrüdern die ganze Welt über die Scorpions. - Anm. rls) Im Bereich der christlichen Popularmusik machen es Mary Wenger, Lothar Kosse, Frank Dursthoff und ProJoe, die Berliner Kids von Less Flesh und die Rapper von W4C vor, wie´s geht. Ihr Geheimnis ist eigentlich gar keins: Sie haben englischsprachige Freunde und sind nicht zu stolz, ihren Rat einzuholen. Sie sind eingetaucht in die Welt der Patterns und Idioms, der Redewendungen und Floskeln, die in jeder Sprache anders ausgeprägt sind. Sie hören und lesen englischsprachige Texte analytisch. Sie bewegen sich selbstverständlich in dieser Sprache. Glaube doch niemand, daß sie das ohne Üben, ohne den Einsatz von Zeit und Mühe geschafft hätten.

Wie wäre es also mit dem Motto Qualität statt Quote?



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