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von rls

V.A.: Das Lied der Moorsoldaten >> 1933-2000: Bearbeitungen, Nutzungen, Nachwirkungen   (Dokumentations- und Informationszentrum [DIZ] Emslandlager)

Die offizielle Beliebtheit von Arbeiterliedern in der DDR übertraf streckenweise weit die tatsächliche, und mit dem Ende dieses Staates verschwand auch ein guter Teil dieses Liedgutes schlagartig in der Versenkung. Ähnliches, wenn auch unter anderen Vorzeichen, passierte im doppelten Sinne nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Einesteils zog sich das völkische Liedgut ein Stück zurück (wenn auch keineswegs so weit, daß man von einer konsequenten Denazifizierung hätte sprechen können), andererseits geriet aber auch ein guter Teil der antifaschistischen Widerstandslieder schnell in Vergessenheit. Dieses Schicksal blieb dem Moorsoldatenlied erspart: Es gehörte zu den wenigen Arbeiterliedern, die in der DDR wirklich gern (und dementsprechend auch oft) gesungen wurden, und es geriet auch in der Bundesrepublik nicht in Vergessenheit, sondern blieb besonders in sozialdemokratischen Kreisen und später in der 68er Protestbewegung lebendig.
Das 1985 gegründete Dokumentations- und Informationszentrum (kurz DIZ) Emslandlager zählt zu seinen Aufgaben neben der Dokumentation und Information (nomen est omen) über die 15 nationalsozialistischen Lager, die sich in einer langen Kette am Westufer der Ems in den dortigen Mooren entlangzogen (nur drei Lager befanden sich am Ostufer der Ems, und zwar in den Mooren an der Grenze zu Ostfriesland) auch die Forschung zum Moorsoldatenlied, welches 1933 im Rahmen des zumindest semioffiziellen Kulturbetriebs (!) im Lager Börgermoor entstand und in einer Veranstaltung des lagerinternen "Zirkus Konzentrazani" (!!) uraufgeführt wurde, bei der auch der Lagerkommandant und die SS-Wachen anwesend waren (!!!) und einige der letztgenannten die Häftlinge hinterher um eine Kopie des Liedes baten (!!!!). Es verging indes nur eine kurze Zeit, bis der Kommandant den Hintersinn des Liedes erkannt hatte und es deshalb verbot. Aber es war zu spät: Zu viele Häftlinge kannten das Lied bereits, es wurde illegal weitergesungen, in andere Lager verlegte Häftlinge nahmen es mit, sogar Liedblätter wurden im Lager produziert, und Anfang 1935 erstellte schließlich Hanns Eisler für Ernst Busch eine Version des Liedes, die später in der Bundesrepublik weite Verbreitung erfuhr. In den Musikbüchern für den DDR-Schulunterricht fand hingegen die Originalmelodie von Rudi Goguel Einzug, was dafür sorgte, daß diese Version im östlichen Deutschland die bekanntere wurde. Beide Varianten lassen sich von Beginn an leicht unterscheiden, denn Goguel setzte an den Strophenanfang drei gleiche Töne (seine Intention war, damit die Monotonie der Lagerarbeit widerzuspiegeln), während Eisler fälschlicherweise Anklänge an ein Lied aus dem Dreißigjährigen Krieg vermutete und deshalb eine Reminiszenz in Form eines Quartensprungs einbaute.
Die vorliegende CD-Box legt nun umfangreiches Forschungs- und Quellenmaterial zum Moorsoldatenlied vor. Von den ca. 120 im DIZ archivierten Tonträgerfassungen des Liedes erklingen auf den beiden CDs insgesamt 31. Hinzu tritt eine Lesung von Wolfgang Langhoff, einem der beiden Textautoren des Liedes, der bereits 1935 nach seiner Lagerentlassung und Flucht in die Schweiz ein Buch über das Lagerleben schrieb, ein Auszug aus Brechts Hörspielfolge "Furcht und Elend des Dritten Reiches" sowie ein ausführliches Interview mit dem Komponisten Rudi Goguel über die Geschichte des Liedes, das 1974 aufgezeichnet wurde.
CD 1 startet mit einer sehr freien Bearbeitung des Liedes durch die Kölner Saxophon-Mafia, die in einem leeren Trinkwasserspeicher mit einer Nachhallzeit von bis zu 45 Sekunden aufgezeichnet wurde. Das ergibt absolut verstörende Klangerlebnisse. Danach begeben wir uns ganz weit in der Geschichte zurück. Die allererste Aufnahme des Liedes, von Ernst Busch 1936 in Moskau getätigt, ist leider nicht enthalten, wohl aber als früheste dieser 31 Versionen ebenfalls eine mit Ernst Busch von 1937. Busch leistete für die Popularisierung des Liedes im deutschen Sprachraum genauso viel wie Paul Robeson für den englischen Sprachraum - eine von ihm enthaltene Version mit deutsch gesungener letzter Strophe datiert von 1942. Zwischen diesen beiden steht eine Ausgrabung von den Topic Male Singers von ca. 1940, die bisher recht rar war. Mit über 16 Minuten folgt die längste Version, nämlich ein (Streich-) Quartett von Hanning Schröder aus dem Jahre 1953, dessen Bezüge zum Moorsoldatenlied sich aber nur dem Freund modernerer Klassik erschließen dürften. Die darauf folgenden Versionen reichen von 1948 bis 1986 und stellen die Reflexion in der deutsch-deutschen Liedszene dar. Weithin bekannt dürfte beispielsweise Hannes Waders 1977er Aufnahme in Bierzeltatmosphäre vor einem ohrenscheinlich stark linksorientierten und auch angetrunkenen Publikum sein, wohingegen die Eigenproduktionen des jüdischen Sängers Dany Bober oder gar von Willi Wagener, der selbst zu den Lagerhäftlingen gehörte, bisher keine allzugroße Verbreitung erfahren haben. Zwei Instrumentalversionen runden die erste CD ab: Das Kampfgruppenorchester von Radio DDR intonierte 1962 eine beachtliche Blasorchester-Konzertversion, wohingegen die Variante des Schalmeienorchesters "Fritz Weineck", 20 Jahre später aufgenommen, nur für absolute Liebhaber dieses Instrumentes genießbar sein dürfte.
CD 2 mischt internationale Versionen des Liedes mit Reflexionen aus der Pop- und Rockmusik der 90er Jahre. Dabei steht die meines Erachtens schwächste, da (um einen positiven Begriff zu gebrauchen - es hätten mir auch negative einfallen können) eigenwillige Version von Adriaan Stoet und Tjako van Schie, die Violine und Klavier zu einem angeblich jiddischen Ganzen zusammenfassen wollen, gleich zum Anfang. Nach dem erwähnten Interview mit Rudi Goguel geht's dann wieder eher klassisch weiter, nämlich mit Pete Seeger, dessen schlichte Folkversion, nur mit einem Banjo begleitet und hier in einem Livemitschnitt vom 1986er Festival des politischen Liedes vertreten, auch heute noch ein Highlight darstellt. (Klein-Roland hatte seinerzeit nichts Besseres zu tun, als die täglichen Berichte über das Festival in der Jungen Welt auszuschneiden und zu sammeln. Leider ist die Sammlung verlorengegangen.) Wo Pete Seeger ist, da darf auch Perry Friedman nicht fehlen, und der ist in Gestalt einer viersprachigen Version des Liedes (deutsch, englisch, französisch und italienisch - der Refrain wird in allen Sprachen durcheinander gesungen, was einen wahrhaft babylonischen Eindruck hinterläßt, aber in einem international belegten KZ nicht wesentlich anders geklungen haben dürfte) ebenso mit einem Mitschnitt vom Festival des politischen Liedes vertreten wie die Connolly Group aus Irland, deren Flöteneinsatz dem Lied eine irische Färbung gibt. Kostas Papanastasiou dichtete das Lied um und thematisierte in seinem Text die Insel Jaros, die während des griechischen Bürgerkriegs bis 1949 und in der Zeit der Militärdiktatur 1967-1974 als Gefängnisinsel für politische Häftlinge diente. Natürlich klingt seine Version musikalisch dann auch griechisch. Völlig obskur ist die Version des Chorale du Collège Saint Joseph aus Avignon. Dieser Chor schafft es tatsächlich, das Lied mit französischem Text wie einen spätmittelalterlichen Kirchenchoral klingen zu lassen. Und das klingt nicht mal schlecht. Ondersteboven wiederum steuern eine niederländische Version bei, bei der die fast fröhlichen Zwischenspiele wirkungsvoll mit dem monotonen Grundbeat kontrastieren. Völlige A-Cappella-Versionen des Liedes sind vergleichsweise selten - hier kommt eine von dem Schweizer Chansonier Michael von der Heide, der eine fast androgyne Stimme besitzt und durchaus mal an Marla Glen erinnert. Eine ideenreiche Elektro-Pop-Version von Welle: Erdball folgt, in der lediglich die klinischen Drums etwas stören. Daß es auch Punkversionen des Liedes gibt, war bei der tendenziell eher linksorientierten Punkszene durchaus zu erwarten. Hier vertreten ist erstaunlicherweise aber eine weithin unbekannt gebliebene und mittlerweile nicht mehr existente Band namens Die Einsamen Stinktiere aus Calberlah (wo nebenbei bemerkt auch Seventh Avenue herkommen) mit einer dynamischen und flotten Version. Die fast warme, zurückhaltende spanische Version von Pi de la Serra und Carme Canela leitet über zu Argus. Alle Alt-DDR-Metaller dürfen sich wieder hinsetzen, denn diese Argus hier sind quasi die "Hausband" des DIZ und haben nichts mit der DDR-Kultband gleichen Namens zu tun. Zu hören ist ebenfalls eine A-Cappella-Version mit guter mehrstimmiger Gesangsleistung. Live extrem beliebt dürfte die Folkpunkversion sein, welche Die Schnitter seit einigen Jahren im Repertoire haben. Die Einleitung mit einem Sample, in dem ein SS-Mann "Bewegt euch! Los, schneller!" brüllt, und das Konzertmotto "Widerstand ist tanzbar" stellen ein originelles und diskussionsauslösendes Paradoxon dar. In der heutigen politischen Landschaft besonders wichtig ist eine italienische Version des Liedes, hier von Rosso Maltese beigesteuert, wenngleich bereits 1995 aufgenommen, also in einer Phase, als sich ein gewisser Herr Berlusconi gerade von seinem ersten politischen Fehlschlag erholte. Musikalisch hätte diese Version phasenweise auch in einen Soundtrack von Ennio Morricone gepaßt, geht insgesamt aber etwas jazziger zu Werke. Die extremste Version der hier zu hörenden geht auf das Konto der nicht mehr existenten Reservoir Dogs, die anno 1996 bereits Nu Metal spielten, als den Begriff noch gar niemand kannte. Originell und gut, wenn auch mit der ursprünglichen Melodik nur noch bedingt etwas zu tun habend. Den Schlußpunkt setzt wieder eine Jazz-Adaption, im Gegensatz zu den einleitenden Kölnern aber doppelt so lang, dafür bedeutend traditioneller: Die Radio Jazz Group Stuttgart improvisiert ausgiebig und spielfreudig über das Thema des Liedes.
Eine schlußendliche Erwähnung der Verpackung darf nicht vergessen werden: Die beiden CDs stecken in einer übergroßen Pappbox, die außerdem noch ein 64seitiges A5-Booklet enthält, das alle relevanten Informationen sowohl zu den Versionen als auch zum Lied generell enthält. Diese vorbildliche Aufmachung stellt das letzte kleine Mosaiksteinchen dar, welches diesem Gesamtwerk zum Prädikat "Extrem wertvoll" verhilft. Zwar kostet das Durchhören beider CDs am Stück einiges an starken Nerven, aber der dokumentarische Wert macht dieses (vielleicht auch nur scheinbare) Manko völlig wett. Die Box sollte unbedingt zur Grundausstattung jeder (ich betone: JEDER) Schulbibliothek gehören, da sie umfangreiche Anwendungsmöglichkeiten sowohl im Musik- als auch im Geschichts- und Ethikunterricht bietet. Und auch als Privatmensch kann man beim Hören noch sehr viel lernen, wenn man auch hier und da je nach musikalischer Präferenz zur Skip-Taste greifen wird.
Zu bestellen für 25 Euro (zzgl. P&V) beim Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Emslandlager, PF 1132, 26851 Papenburg, www.diz-emslandlager.de

Tracklist:
CD 1
Kölner Saxophon Mafia: Die Moorsoldaten
Wolfgang Langhoff: Ankunft
Ernst Busch und Chor der 11. Brigade: Lied der Moorsoldaten
Topic Male Singers: The Peatbog Soldiers
Paul Robeson: The Peat-Bog Soldiers
Bertolt Brecht: Moorsoldaten
Hanning Schröder: Musik für vier Instrumente in memoriam: Lied der Moorsoldaten
Eva Busch: Die Moorsoldaten
Rundfunkchor Leipzig: Die Moorsoldaten
Kampfgruppenorchester von Radio DDR: Die Moorsoldaten (Concertanto für Blasorchester)
Hermann Hähnel, Jugendchor Berlin und Orchester des Tanzensembles der DDR: Die Moorsoldaten
Hein und Oss Kröher: Die Moorsoldaten
Hannes Wader: Die Moorsoldaten
Schalmeienorchester "Fritz Weineck": Die Moorsoldaten
Dany Bober: Die Moorsoldaten
Gruppe Carl-von-Ossietzky: Moorsoldatenlied
Willi Wagener: Börgermoorlied

CD 2
Adriaan Stoet und Tjako van Schie: Moorsoldaten
Rudi Goguel: Die Geschichte des Liedes "Die Moorsoldaten"
Pete Seeger: The Peat Bog Soldiers
Kostas Papanastasiou: Jaros
Chorale du Collège Saint Joseph Avignon: Chant Des Marais
The Connolly Group: The Peat Bog Soldiers
Perry Friedman, Don Paulin, Danielle Villière und Janna Carioli: Die Moorsoldaten
Ondersteboven: De Moerbrigade
Michael von der Heide: Chant Des Marais
Welle: Erdball: Die Moorsoldaten
Die Einsamen Stinktiere: Moorsoldaten
Pi de la Serra und Carme Canela: Los Soldados del Pantano
Argus: Lagerlied vom Börgermoor (Die Moorsoldaten)
Die Schnitter: Moorsoldaten
Rosso Maltese: Il Canto Del Deportati
Reservoir Dogs: Die Moorsoldaten
Radio Jazz Group Stuttgart: Die Moorsoldaten
 




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