www.Crossover-agm.de
THE SHIN: Extraordinary Exhibition
von rls

THE SHIN: Extraordinary Exhibition   (Bravo Records)

Gia Kancheli ist so etwas wie der Nationalheilige der georgischen Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und neben seinem eigenständigen Schaffen (z.B. sieben Sinfonien) genießt er vor allem für seine Film- und Theaterkompositionen eine große Popularität. The Shin wiederum sind vermutlich Georgiens populärste Jazzband, die aufgrund der Tatsache, daß sie sich ausgerechnet in Deutschland gegründet hat und auch einige Alben auf hiesigen Labels veröffentlichen konnte (u.a. gleich das Debüt bei den Spürnasen von Acoustic Music Records), auch hierzulande zumindest einen gewissen Bekanntheitsgrad aufweist. Und das neue Album "Extraordinary Exhibition" besitzt wieder mal das Zeug dazu, als kultureller Brückenschlag zu dienen, nicht nur gen Deutschland übrigens, sondern auch in diverse andere kulturelle Areale. Kollege Thomas, der vor einer Dekade das "Manytimer"-Album für sehr interessant befand, erwähnte bereits damals Parallelen des Gitarrenspiels von Zaza Miminoshvili zu dem des späten Paco de Lucia, und diesmal wird dem Hörer das Erkennen der kulturellen "Gegenstücke" besonders leicht gemacht, denn im Booklet findet sich auf einer Doppelseite eine Übersicht mit Informationen zu den elf Stücken des Albums samt Angaben, auf welchen Themen die Stücke jeweils beruhen. Grundkonzept der Scheibe ist die Verarbeitung von Themen aus Gia Kanchelis Film- und Theatermusikschaffen. Selbige dienen dann als Grundlage fürs Songwriting oder auch für ausgiebige Improvisationen, sie werden mal in der Besetzung des Grundtrios (neben Gitarrist Miminoshvili noch Bassist/Sänger Zurab Gagnidze und Sänger/Percussionist Mamuka Ghaghanidze), mal mit einem der vier solistisch arbeitenden Gastmusiker (die Flöte, Oboe, Klavier und Drums beisteuern), mit einem Vokalsextett vom Konservatorium Tbilissi oder mit dem Sinfonieorchester der Stadt unter dem Dirigat von Vakhtang Kakhidze umgesetzt, und es ergibt sich ein äußerst farbenreiches Bild, das zwar grundsätzlich irgendwo im Jazzbereich anzusiedeln ist, aber vom Folk bis zum Progrock reicht und im Gesangsbereich noch einen zusätzlichen Reiz entfaltet, da beispielsweise im Titeltrack die traditionelle und noch vor die europäische zurückreichende georgische Vokalpolyphonie eingesetzt wird, was ein ebenso fremdartiges wie interessantes Klangerlebnis ermöglicht. "Iberia Forever!", in das neben dem aus dem Film "Earth, This Is Your Son" stammenden Hauptthema auch noch das "Concierto de Aranjuez" von Joaquin Rodrigo und "Spain" von Chick Corea eingewoben sind, schlägt kulturell ganz besonders interessante Brücken, nämlich musikalisch, wie man anhand der Aufzählung bereits vermuten konnte, auf die iberische Halbinsel, und da horcht der Kulturwissenschaftler dann doch auf: Das Gebiet des heutigen Aserbaidshan und auch Teile des östlichen Georgien gehörten vor weit über 1000 Jahren nämlich zu einem Reich namens Iberien, und noch heute sind sich die Altertumsforscher nicht einig, ob bzw. in welchem Rahmen im Rahmen der Völkerwanderung auch ein Transfer von dort ins heutige Spanien stattgefunden hat, zumal die georgische Sprache heutzutage völlig allein dasteht und sein nächster, allerdings auch schon relativ entfernter Verwandter ausgerechnet das Baskische ist. Aber über solche theoretischen Erörterungen hinaus hat Georgien auch für den Magen enorm viel zu bieten, beispielsweise die verschiedensten Sorten von Khachapuri (für Nichtkalorienzählenmüsser besonders zu empfehlen: das adscharische mit einem Spiegelei oben auf dem auch schon sehr gehaltvollen Käsebrot), über das wir im dramatischen "Rajkapuri's Khachapuri" mehr erfahren. Das ist erst Lied 9 auf der CD, das knapp 14minütige Gipfelwerk "Meeting (G.K. va. J.McL.)" folgt erst noch, nämlich an Position 11, und hier sei die Beschreibung im Booklet zitiert: "When two real masters meet in a duel, neither can lose! In our case music is victorious." Wer die beiden Meister sind, sollte anhand der Kürzel im Titel keiner näheren Erläuterung bedürfen, und der eine steuert ein Thema aus der Schauspielmusik zu Brechts "Kaukasischer Kreidekreis", der andere eins aus dem Mahavishnu-Orchestra-Album "The Inner Mounting Flame" bei. Die Pressung von Bravo Records, die der Rezensent in Batumi in einer kleinen Buchhandlung erworben hat, enthält alle Booklettexte zweisprachig in Georgisch und Englisch, wobei man auf die gesungenen Texte aber verzichten muß. Dafür kann man sich diverse Grußworte zu Gemüte führen - The Shin bekommen Unterstützung aus dem georgischen Ministerium für Kultur und Denkmalpflege sowie vom Zentrum für Kulturveranstaltungen, das dem Bürgermeister von Tbilissi untersteht, und sie haben es außerdem geschafft, Natakhtari als Projektpräsentator dieser CD hinter sich zu bringen - das ist eine der größten Brauereien des Landes, die außerdem auch diverse Limonaden herstellt, allen voran die vom Rezensenten sehr geschätzte giftgrüne Estragonlimonade. Bevor jemand investigativ wird: Nein, der Rezensent ist nicht durch eine Sonderlieferung dieses in Deutschland leider nicht regulär erhältlichen Getränks bestochen worden ... Und so lange sich dieser Zustand nicht ändert, so lange muß man sich hierzulande mit anderen Zeugnissen der georgischen Kultur bescheiden, etwa mit den 78 Minuten von "Extraordinary Exhibition", das in der Bravo-Pressung in einem hübschen Digipack geliefert wird und dem Kenner schon verrät, wer hier der große Themengeber ist, denn dessen Konterfei prangt groß auf dem Gitarrenkoffer, der auf dem Cover in Richtung des Gartentores des Protagonisten getragen wird. Wem der gängige Mainstream-Jazz nur noch ein Gähnen entlockt, der könnte hier reichhaltig belohnt werden, ohne seine Hörerfahrungen gänzlich über Bord werfen zu müssen.
Kontakt: www.the-shin.com, www.bravorecords.ge

Tracklist:
Introduction "Karlen"
Extraordinary Exhibition
Twelfth Night
The Crucible
Time And My Father
Is Aq Aris (Waltz Of The Eccentrics)
Oath Of A High School Student: So What?
Iberia Forever!
Rajkapuri's Khachapuri
Khanum-Djan (Eternal Dialogue)
Meeting (G.K. vs. J.McL.)



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver