www.Crossover-agm.de QUIDAM: Quidam
von rls

QUIDAM: Quidam   (Rock-Serwis)

Anno 1990 gründete sich in Polen eine Band namens Deep River, die fortan einen wichtigen Baustein der vitalen Progrockszene in unserem östlichen Nachbarland bilden sollte - allerdings nicht unter diesem Namen: Man legte sich, nachdem man bereits einige Meriten hatte einheimsen können (gut angenommene Konzerte, diverse Wettbewerbserfolge ...), anno 1995 den neuen Namen Quidam zu, immerhin noch rechtzeitig vor dem Release des selbstbetitelten Debütalbums, so daß wenigstens keine diskographische Verwirrung aufkommen konnte. Die Besetzung war vom anfänglichen Trio bis zum Sextett gewachsen: Zu Drummer Rafal Jermakow, Bassist Radek Scholl und Gitarrist Maciek Meller stieß zunächst Keyboarder Zbyszek Florek, der sich schnell zur zentralen Figur der Band entwickeln sollte. Die beiden späteren Neuzugänge waren weiblich: Ewa Smarzynska spielte hauptsächlich Flöte, aber auch Gitarre (zumindest sieht man sie auf einem Foto das tun), und nachdem Deep River zunächst eine Instrumentalband gewesen waren, besetzte Emila Derkowska schließlich das Frontmikrofon, wobei auch sie noch diverse Instrumente beisteuerte. Daß Quidam nicht auf Dauer auf eine weibliche Stimme festgelegt waren, sollte die Zukunft zeigen - derzeit steht jedenfalls mit Bartek Kossowicz ein Mann am Mikrofon. Aber wir befinden uns im Jahr 1996, und in ebenjenem kam nach dem Namenswechsel zu Quidam das selbstbetitelte Debütalbum auf den Markt, das nun wiederum als Re-Release in Doppel-CD-Form vorliegt, wobei die neun Songs (Spieldauer: 65 Minuten) identisch geblieben zu sein scheinen und auf der ersten CD lediglich das Video zu "Warkocze" (ein Mix aus "Band spielt in Fabrikhalle" und Naturaufnahmen aus der Hohen Tatra mit Emila als Bachelfe) hinzugefügt worden ist. Geändert hatte sich in den sechs zurückliegenden Jahren der Musikstil: Das Gründungstrio hatte mit Bluesrock-Covers angefangen, aber mit Floreks Einstieg begann der Wandel, und der führte in den Neoprog. Daß der Quidam-Sound vom Keyboarder und den Flöten geprägt sein würde, war ja durchaus logisch, aber alle Instrumente bekommen genügend Freiraum eingeräumt, und Emilas vielschichtige Stimme rief förmlich nach einer entsprechend vielschichtigen Berücksichtigung, die ihr die Arrangementfraktion auch prompt gönnte, auch wenn die Vocals manchem Hörer vielleicht einen Tick zu "weich" ausgefallen sind. Aber Emila konnte durchaus auch die "Kratzbürste" ausfahren, wenn es der betreffende Song verlangte, und generell ist das Material zwar bisweilen verträumt, aber bisweilen auch ziemlich zupackend ausgefallen. In den reichlich sieben Minuten von "Nocne Widziadla" findet man quasi alle diesbezüglichen Elemente vereint, wobei noch ein Keyboardthema, das ganz deutlich in den Achtzigern verwurzelt ist, hinzutritt und ein hochspannender Mittelteil, der sich immer weiter steigert, bevor er überraschend von einem ganz simplen Flöten-Akustikgitarren-Teil "geerdet" wird, dem Hörer so manche Schweißperle auf die Stirn steigen läßt. Daß gleich der Opener "Sanktuarium" mit einer Hammondorgel anhebt, die einen erstmal an Deep Purples "Knocking At Your Back Door" erinnert, könnte, aber muß kein Zufall sein - gelegentlich bauten Quidam durchaus geradlinige Hardrockpassagen in ihre Songs ein, und man erinnere sich auch an die Wurzeln des Gründungstrios! "Niespelnienie" wiederum, mit knapp zehn Minuten der zweitlängste Song hier, läßt in den ersten vier Minuten große Bilder von Pink Floyd vor dem inneren Auge des Hörers vorbeiziehen, zumal Meller hier auch noch eine klassische Gilmour-Gitarre dazupackt, und "Deep River" hat zwar nicht als Bandname, aber zumindest als Songtitel überlebt. Im polnischen Original heißt er "Gleboka Rzeka", wobei das Booklet des vorliegenden Re-Releases in vorbildlichster Manier nicht nur bei den Songtiteln, sondern auch bei den Lyrics dem polnischen Original jeweils eine englische Übersetzung danebenstellt und auch alle Liner Notes, Produktionsinformationen etc. jeweils zweisprachig abgedruckt sind. Da freut sich der nichtpolnische Hörer, denn er kann hier eine Fülle von Informationen gewinnen und viel über die Hintergründe des Bandschaffens erfahren. Selbiges wurde auf besagtem Debütalbum mit Hilfe einiger Mitglieder der Band Collage umgesetzt (Wojtek Szadkowski als Co-Produzent, Krzysiek Palczewski als Engineer und Mixer, Mirek Gil als Gastgitarrist in "Chocbym"), während eine andere Gastmusikerin gleich in "Sanktuarium" mit der Tür ins Haus fällt: Monika Margielewskas Oboe fügt sowohl hier als auch in "Warkocze" eine interessante Klangfarbe hinzu. Letztgenannter Song mag manchem Hörer etwas zu "kommerziell" vorkommen, aber erstens ist er trotz alledem keinesfalls eine Ballade von der Stange (seine Rhythmuswechsel hätten die üblichen Chartbands auf mindestens fünf Songs verteilt), und zweitens kann der Zweifler ja immer noch seinen CD-Player so programmieren, daß er die kürzeren und zugänglicheren Songs ausläßt und nur die großen Epen spielt. Von denen gibt's insgesamt sechs auf dem Album, und das größte, das dramatische vierzehnminütige "Plone" (was für Gitarrenmelodien um Minute 5 herum!), steht dramaturgisch geschickt am Ende eines Albums, das die Basis für Quidams mit einer kurzen Pause nach dem Jahrtausendwechsel bis heute andauernde Karriere darstellen sollte, wenngleich dem Debüt bis heute nur fünf weitere Studioalben gefolgt sind, was für knapp 20 Jahre nicht wirklich viel ist. Aber andererseits ist die Detaildichte in der Musik hoch genug, daß man trotz einer grundsätzlichen Zugänglichkeit des Materials doch eine ganze Menge Durchläufe starten kann und immer noch neue oder bisher nicht so wahrgenommene Details entdeckt.
Wer besagtes Debütalbum schon in seiner Sammlung stehen hat, weiß natürlich um dessen Qualitäten, und nur wegen des hinzugefügten Videos wird er wohl keinen Gedanken daran verschwenden, das Werk noch ein zweites Mal zu erwerben. Aber die zweite CD dieses Re-Releases könnte dann doch die Entscheidung bringen, denn sie versammelt in knapp 52 Minuten zehn Raritäten, und hier bringt das zweite Booklet des Packages in abermals vorbildlicher Weise Liner Notes zu jedem Song und erhellt damit weitere Hintergründe zum Bandschaffen. Es geht los mit "Irish Air", einer Demoaufnahme eines gälischen Traditionals, das Camel als Intro für ihr "Harbour Of Tears"-Album verwendet hatten und das Emila und Ewa dann 1997 bei den ersten Polen-Konzerten Camels mit der Band live spielten. "Szukajac Szczescia" ist ein alter Deep-River-Song, den die Band als Preis für einen Wettbewerbssieg beim Gitariada-Festival aufnehmen durfte - wer das Debütalbum kennt, dem dürfte der Song bekannt vorkommen: Es handelt sich um eine Frühform von "Chocbym". "Koleda Nocka", "Los" und "Snilem" stammen vom 1997 posthum erschienenen "Apokryf"-Tape einer von 1991 bis 1997 aktiv gewesenen Band namens Ogrodnicy (übersetzt: Die Gärtner), in der ab 1993 drei Quidam-Mitglieder zusammen mit fünf anderen Musikern, darunter einem festen Trompeter, eine Art Progrock light mit gewissem jazzigem Touch fabrizierten (wobei "Los" eine reine Akustikballade ist) und sich später den Drummer Maciej Wróblewski "borgten", der noch heute bei Quidam spielt. 1996 gaben Quidam ein denkwürdiges Konzert in Kraków, bei dem die nächsten beiden auf der CD zu hörenden Tracks mitgeschnitten wurden, zwei Coverversionen: zunächst "Horizons", ein Sologitarreninstrumental von Steve Hackett, das Quidam-Gitarrist Meller nur an diesem einen Abend spielte, und dann "White Rider", einer von zwei Camel-Songs, die seinerzeit fest zum Liverepertoire Quidams gehörten. "Molitwa (Czyli Krzyk Oblakanego)" ist auch kein Quidam-Song - er stammt von Talath Dirnen, und Emila ist hier als Gastsängerin zu hören. Entstanden ist so eine Art Lounge-Prog, was man zunächst auch von "Czas" vermutet, einem Song vom gleichnamigen Album der Band Belgrad, der aber dann plötzlich doch noch in Bombast mündet, der schrittweise immer größer wird. Auch hier wirkten zwei Quidam-Mitglieder gasthalber mit, und analog zu Ogrodnicy wechselte auch hier später ein Bandmitglied, nämlich Flötist Jacek Zasada, zu Quidam. Im letzten Song der CD, "Rzeka Wspomnien", ist er bereits zu hören - dieser stammt aus den Sessions zum Album-Drittling "Pod Niebem Czas", schaffte es aber nicht auf die CD. An der Qualität kann's nicht gelegen haben - es handelt sich um Quidam-typischen Neoprogrock, der in fast gospeliten Shoutings gipfelt und einen würdigen Abschluß dieser Raritätencompilation darstellt, die allerdings damit noch nicht zu Ende ist, denn auch ihr sind noch drei Videos beigegeben. "Perly Z Lamusa" ist dabei der älteste Track des hier zu hörenden Materials: 1991 als Instrumental konzipiert, wurde er nach Emilas Einstieg in eine Version mit Gesang umgewandelt und fällt rein stilistisch absolut nicht aus dem Rahmen - ein langer ruhiger Teil mündet in ein zupackenderes Finale. Liner Notes und Tracklist sind sich hier übrigens nicht einig, ob der Mitschnitt beim Gitariada Festival 1993 oder 1994 getätigt worden ist. Die Herkunft des anderen Livetracks dagegen ist eindeutig: "Sanktuarium", der Opener des Studioalbums, stammt vom Day Of Dreams Festival im niederländischen Zwolle, wo die Band anno 1997 ihren ersten Gig außerhalb Polens spielte, sehr gut ankam und auch Kontakt zum Musea-Label herstellte, das dann dafür sorgte, daß ihre späteren Alben auch außerhalb Polens regulär erhältlich waren. Die Liveversion macht dem starken Studio-Original keine Schande, ist sogar etwas länger ausgefallen als dieses und wird vom Publikum eifrig beklatscht. Dritter im Bunde ist "Beznogi Maly Ptak" als Videoclip, ein Song vom zweiten Studioalbum "Sny Aniolow", auf dem nicht mehr Ewa flötete, sondern der bereits erwähnte Jacek, der bei der Hörbarmachung des Titelhelden (übersetzt: "Kleiner Vogel ohne Beine") natürlich unabdingbar ist, aber wiederum eine Oboe als zweite Stimme an die Seite gestellt bekommt. Die Ausblendung am Ende läßt vermuten, daß der Song länger ist als die reichlich dreieinhalb u.a. in den Kalkfelsen von Murownia bei Kraków verfilmten Minuten (der Rezensent besitzt besagtes Album bisher nicht), aber auch so bildet er einen interessanten musikalischen Beitrag. Bleibt die editorische Frage, ob "Rzeka Wspomnien", so der Titel der Raritäten-CD, auch als eigenständiger Release erhältlich ist. Wenn ja, sollte sein Erwerb für Besitzer des originalen Studioalbums genügen - wenn nein, stehen jene vor einer schweren Entscheidung ... Wer das Studioalbum noch nicht besitzt, bekommt hier aber eine großartige Möglichkeit, diese Sammlungslücke zu schließen.
Kontakt: www.quidam.pl, www.rockserwis.pl

Tracklist:
CD 1
Sanktuarium
Chocbym
Bajkowy
Gleboka Rzeka
Nocne Widziadla
Niespelnienie
Warkocze
Bijace Serca
Plone

CD 2
Irish Air
Szukajac Szczescia
Koleda Nocka
Los
Snilem
Horizons
White Rider
Molitwa (Czyli Krzyk Oblakanego)
Czas
Rzeka Wspomnien



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