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von rls

PURGEN: Bog Rabow   (Eigenproduktion)

Schon ewig in der Szene unterwegs sind Purgen: Als Gründungsdatum wird ausgerechnet der 11. September angegeben, allerdings nicht 2001, sondern schon 1990. Prophetische Fähigkeiten sollte man dem Quartett indes nicht unbedingt anrechnen, wenngleich es zweifelsohne im Bereich der politischen Musik unterwegs ist: Zwar war es schon 1990 nicht mehr so und 2010, als das vorliegende Album eingespielt wurde, erst recht nicht mehr, daß man einer hardcorelastigen Punkband mit relativ großer Wahrscheinlichkeit politisches Textgut unterstellen konnte, aber Purgen machen zweifelsohne "Thinking Man's Punk", wobei sich das sowohl auf die Texte als auch auf die Symbolik und letztlich auch auf die Musik beziehen läßt. Ersteres nachzuvollziehen erfordert freilich etwas Mühe und zudem Sprachkenntnis: Alle Texte sind in der Heimatsprache der Band, Russisch, verfaßt und zudem in einer auch für den Teil der Mitteleuropäer, der des kyrillischen Alphabets kundig ist, schwer lesbaren Schriftart abgedruckt, zudem singt Bandkopf Ruslan auch nicht gerade so, daß man jedes Wort auf Anhieb versteht - neben punktypischem Shouting bedient er sich auch tiefem, fast deathmetalkompatiblem Gebrüll und sogar hellem Gekreisch, wie man es sonst eher im Black Metal verorten würde. Die Symbolik wiederum erfordert ebenfalls mehrere Blicke, nicht nur auf dem Cover, wo einen der Maschinenpunk (man beachte die unterschiedliche Augenfarbe!) trotz anderer Ausprägung etwas an das Weltraummonster auf dem Cover des "Igra S Ognjom"-Album der Landsleute Arija erinnert, sondern auch im Booklet selbst, wo die Zierleisten und die Initialen der Songtitel eine derartige Symbolvielfalt aufweisen, daß man da eine Weile Stoff zum Nachdenken und -forschen hat.
Und die Musik? Der dem unbetitelten Intro folgende Opener "Mjaso Dlja Rabow" läßt noch die Möglichkeit einer ganz "normalen" hardcorelastigen Punkscheibe offen, aber wer sich das Cover genau angeschaut hat, wird bemerkt haben, daß der rechte der Silhouettenpunks eine Balalaika in der Hand hält, und das ist kein Zufall und auch nicht nur ein Symbol für die russische Herkunft der Band, wie in Track 3, "Ty W Proschloi Schisni Byl Korowoi", deutlich wird: Hier bestreitet die Balalaika nämlich das Intro und wird dann in den Hauptteil des Songs, als das Grundthema nochmal wiederholt wird, ein weiteres Mal eingebaut und mit der Normalinstrumentierung, die aus einer Gitarre, Baß und Schlagzeug besteht, gekoppelt. Das soll kein Einzelfall bleiben, wie gleich im Anschluß "Kak Prekrasjen Etot Mir" beweist, und in "Rusija" nimmt die Balalaika dann erstmals für längere Zeit in der Themenentwicklung die Rolle ein, die man sonst einer Leadgitarre zuweisen würde, auch wenn die Strophen dann wieder ohne sie auskommen - dafür fungiert ihr Hauptthema als Ersatz für einen Refrain. Auch wenn im Intro dieses Songs noch Naturgeräusche wie Vogelgezwitscher hinzutreten, spielen Purgen aber trotzdem keinen Folkpunk - ihre Basis ist ganz klar der Punk, der über längere Strecken auch ganz klassischer solcher bleibt, aber eben in sehr intensiver Manier mit anderen Elementen angereichert wird, unter denen die vom Gastmusiker Wiktor Olechnowitsch eingespielten Balalaika-Melodien nur das häufigste, aber keineswegs das einzige sind. "Amerikanskij Globalism" etwa baut immer wieder eine hymnische Bridge ein, der nicht viel zum klassischen Hardrock fehlt, "Bogi Spustilis S Njebjes" wird, obwohl es am Anfang wie ein klassischer Midtempopunkrocker mit kleinem numetallischem Einschlag in der Rhythmik wirkt, später noch mit einer Klaviermelodie ausstaffiert. "Mojeg W Strasach" schließlich zeigt sich dann doch als reinrassiger Folkpunk im treibenden, aber noch gut tanzbaren Grundbeat (auch wenn der zwischendurch mal verdoppelt wird), mit dem sich vermutlich auch der müdeste Publikumshaufen in eine feierfreudige Menge verwandeln lassen wird. Damit freilich noch nicht genug: "Aktiwnaja Schisn" entpuppt sich als Mix aus Punk und zwei bombastischen Passagen, mit denen Purgen andeuten, daß sie auch eine reinrassige Epic-Metal-Scheibe einspielen könnten - im Intro und im Hauptsolo koppeln sie Leadgitarren, Klavier und Balalaika. Das mit starker Thrash-Metal-Kante ausgestattete "Transforment" wiederum hätte beispielsweise auch auf eine Scheibe von Assassin oder Sodom gepaßt. Wem das alles zuviel Experimentierfreude ist, der kann immer noch den bereits genannten Opener "Mjaso Dlja Rabow" oder auch "Elo" hören, letztgenanntes ein kurzes straightes Hardcoreknüppelstück von knuffigen 33 Sekunden Dauer. Aber wie bereits erwähnt gibt es auch in den etwas experimentierfreudigeren Songs immer wieder urtümlich anmutende Punkparts, so etwa in "Slyje Pastuchi", das klassischen Ufta-Punk bietet und wo die untypischen Zutaten so weit in den Hintergrund gemischt wurden, daß man sie erst beim zweiten Hören wahrnimmt - und das erwähnte "Aktiwnaja Schisn" ist außerhalb der beiden genannten Passagen auch ein reinrassiges Punkstück, wie man es sich reinrassiger nicht wünschen könnte.
Die drei letzten Tracks scheinen Bonustracks zu sein - in der Tracklist sind sie mit einer Leerzeile vom Rest getrennt, und ihre Lyrics finden sich nicht im Booklet. Des Rätsels Lösung: Es handelt sich um Neueinspielungen dreier Songs aus dem Schaffen der Band im vorigen Jahrtausend. Der Hörer könnte die Vermutung hegen, daß die Moskowiter diese Stücke zum jetzt noch hemmungsloseren Experimentieren nutzen könnten - er liegt nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz daneben: Die drei Tracks reihen sich in die grundsätzliche Linie des Albummaterials ein, auch wenn die Dichte der ungewöhnlichen Elemente trotz des Fehlens der Balalaika noch ein wenig höher zu sein scheint als im Rest der Scheibe. Das Intro von "Tragedija Na Awtomotornoi" (original vom 1999er Album "Toxidermisty Gorodskowo Besumija") weist allerdings mit seiner Leadstruktur und seiner Melodik erstmal in eine ganz andere Richtung, nämlich gen Tote Hosen zu "Hier kommt Alex"-Zeiten, bevor sich wieder ein urtypischer Punkrocksong entwickelt, der freilich mit dem Glockenspielsolo (!!) noch eine völlig unerwartete, aber exzellent passende Zutat bekommt. "Wsje Ljudi - Tschikatily" (die Urfassung steht auf "Transplantazija Mirowossrenija" von 1993) wird mit einigen ungewöhnlichen Gitarrenleads aufgepeppt, und in "Pank Eiforija" (erstmals 1995 auf "Radiazionnaja Aktiwnostj Is Musornowo Baka" eingespielt, wie das 1993er Werk original nur als Tape erschienen, aber mittlerweile auch längst als CD wiederveröffentlicht) kommen neben einem punkigen Kinderchor auch noch Violetta und Valentina Gwosdewy hinzu, die dann noch einen ganz anderen Folkaspekt einbringen, indem sie sich fast in Joik-Manier artikulieren - eine archaische Gesangsform, die neben den Lappen auch noch anderen, heute in Rußland siedelnden Nordvölkern eigen ist. So endet die musikalisch interessanteste Punkscheibe, die der Rezensent in letzter Zeit gehört hat, und es ist schade, daß diese Moskauer Band hierzulande so wenig bekannt ist, obwohl sie in ihrer langen Bandexistenz schon zahlreiche Alben eingespielt hat (die Diskographie ihrer Homepage listet deren 13 auf, worunter sich allerdings auch Livescheiben und eine Remixplatte befinden - sie haben also auch in andere Richtung keine Berührungsängste). Wer sich sonst Punkscheiben aufgrund ihrer drohenden Eindimensionalität und Simplizität nur ungern nähert, für den könnten Purgen mit "Bog Rabow" ein hochgradig interessanter Kandidat sein, der beweist, was man auf einer klaren und nicht verleugneten Punkbasis so alles für originelle Blüten treiben lassen kann. Für den Rezensenten ist diese knapp 52minütige CD die erste akustische Begegnung mit der russischen Band, so daß er nicht sagen kann, ob frühere Alben auch schon so vielschichtig klangen. Aber man kann sich ja schrittweise im Werk vorarbeiten. www.petershop.com ermöglicht auch in Deutschland eine problemlose Bestellung vieler Purgen-CDs (und hat auch noch zahllose andere interessante russische CDs im Sortiment).
Kontakt: www.purgenrecords.ru

Tracklist:
Intro
Mjaso Dlja Rabow
Ty W Proschloi Schisni Byl Korowoi
Kak Prekrasjen Etot Mir
Amerikanskij Globalism
Rusija
Elo
Bogi Spustilis S Njebjes
Ierarchija Bogow
Mojeg W Strasach
Slyje Pastuchi
Aktiwnaja Schisn
Transforment
Tragedija Na Awtomotornoi
Wsje Ljudi - Tschikatily
Pank Eiforija
 




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