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von ta

PAIN OF SALVATION: Be   (Inside Out)

Pain Of Salvation sind manchmal anders. Es gibt Bands, die nennen sich "Progressive Metal", weil sie gelegentlich das Tempo in einem Song wechseln. Pain Of Salvation im Gegenzug reißen mit jedem Album neue Grenzen zwischen Musikstilen ein (dazu gleich), wehren sich aber konsequent gegen die Etikettierung als "Progressive Metal"-Band. Es gibt Bands, die packen Inhalte in ihren Songs, die sogar zum bloßen Zuhören ohne Mitlesen nicht taugen. Pain Of Salvation packen so viel Inhalt in ihre Texte, dass es schon wieder zuviel sein kann (auch dazu gleich). Es gibt Bands, die den Musikertypus "Kumpel" gegenüber den Fans markieren, obwohl ihnen selbige abzüglich des Faktums, dass es sich um Käufer der eigenen Platten handelt, nur ein paar leere Posen wert sind. Pain Of Salvation stoßen mit einem partiell etwas oberlehrerhaften Auftreten manche Subjekte ab, packen dafür die Stimmen ihrer Fans in ein Stück des neuen Albums (dazu ebenfalls an späterer Stelle). Zuguterletzt: Bands nennen sich die besten, lautesten, härtesten, integersten und sogar meisten der Welt und sind nichts von alledem. Pain Of Salvation gehören zu den Besten und geben es nicht einmal zu (subjektives, hier zugegebenermaßen irrelevantes Urteil, wird im Folgenden nicht weiter begründet oder aufgegriffen werden). Fakt ist: Von Pain Of Salvation hat es noch nie ein Album gegeben, das sich ohne Weiteres kategorisieren oder ohne Weiteres beim Abwasch hören ließe. Auch "Be" reiht sich in der Hinsicht problemlos in die Discographie der Band ein. Trotz dieser klaren Linie im Bandkonzept ist der musikalische Schritt zwischen zwei Platten noch nie so groß gewesen ist wie zwischen "Remedy Lane" und "Be" (das dazwischengeschobene Akustikalbum "12:5" einmal ausgeklammert), was im Falle "Be" darauf zurückzuführen ist, dass die Bandbreite, d.h. die Präsentation verschiedenster stilistischer Ansätze noch nie in so immensem Maße vorhanden war und auch nicht derart offensiv und deutlich gehandhabt wurde, wie es nun der Fall ist.
Der erste "richtige" Song auf "Be" ist das hinter dem spartanischen, düsteren Instrumental "Deus Nova" stehende "Pluvius Aestivus" und versucht sich an reinsten Folk, wobei passenderweise die Sehnsucht nach Natur besungen wird (ich aber auf die Texte erst weiter unten einen Blick werfe). "Imago" enthält in der Quintessenz - sieht man von Daniel Gildenlöws Stimme einmal ab - nichts, was Pain Of Salvation bis Oktober 2004 ausgemacht hat und ist darum ein denkbar irritierender Einstieg in "Be" (was auch gleich dafür sorgt, dass einen das Album beim ersten Hördurchlauf zunächst sehr befremdet). Hintenan folgt mit "Pluvius Aestivus" ein wirklich wundervolles, aber ebenso untypisches klassisches Stück. "Klassisch" meint tatsächlich: mit klassischen Instrumenten gespielt. Zum leichtfüßigen und doch melancholischen Klavierthema in Chopin'scher Tradition, das Fredrik Hermanson vorgibt, gesellt sich ein kleines Kammerorchester, übrigens ein echtes. Besonders die Klarinette zeigt sich dominant und durchzieht "Be" auch weiterhin als stilprägendes, obwohl ganz neues Merkmal. An einem Song wie "Lilium Cruentus", der gleich folgt, lässt sich die Fusion aus Pain Of Salvation und Kammerorchester anschaulich betrachten: Rhythmisches Gitarren/Bassdrum-Doppel trifft auf zarte Melodieläufe von Geigen, ein typischer POS-Refrain lädt zum Abheben in höhere Sphären ein und nur unterschwellige Fremdeinflüsse in der Instrumentierung und ein ruhiger Mittelteil halten davon ab. Die klassische Besetzung macht ein wichtiges Element des Gesamtresultats aus und wurde unmittelbar in das musikalische Grundgerüst, welches die Band vorgibt, gewoben, ist also im Endeffekt unverzichtbar. Die Bandbreite reicht dabei von untermalendem, melodischem Teppich bis zu Stravinsky-artiger Disharmonik (man höre den Anfang vom erwähnten "Deus Nova"). Und trotzdem: Pain Of Salvation gehen weiter. "Nauticus" wird von einem tiefen Männerchor mit Mandolabegleitung geformt und taucht dabei in ein Musikgeschehnis, das ich bei keiner Metalband je auch nur ansatzweise erlebt habe: Gospel. Zufall ist das nicht, es handelt sich hier um ein Gebet.
Mit dem dreigeteilten "Dea Pecinuae" zeigen sich zwei weitere Besonderheiten von "Be": Zum einen sind die Gitarren leiser abgemischt, was dem ohnehin recht weitläufigen Album viel an metallischer Heavyness nimmt. Zum Zweiten zeigt sich erstmals auf einem POS-Album der Einfluss von Pink Floyd, wobei hier weniger ausschlaggebend "The Wall" (immerhin genau wie auch "Be" ein aufwendiges Konzeptalbum), sondern vielmehr das Neunziger-Machwerk "The Division Bell" gewesen sein dürfte. Das Anfangsarrangement aus Bass und Schlagzeug, diverse Gesangsarrangements sowie die (produktionstechnisch etwas untergebutterten) Gitarrensoli in diesem Song, aber auch die Keyboardeinsätze an diversen anderen Stellen des Albums weisen zumindest in diese Richtung. So gewinnt "Dea Pecunia" besonders in seinem ersten Teil "Mr. Money" einen bluerockigen, beinahe funkigen Unterton. Blasiert und leicht ironisch trägt Gildenlöw passenderweise seinen Gesang gegen eine wertmaterialistische Gesellschaft vor, den er sich übrigens mit einer jungen Dame als Verkörperung eben jener Gesellschaft teilt.
Wie ich das sich anschließende "Vocari Dei" finden soll, weiß ich noch nicht genau, werde aber die Kommentierung dieses Songs auf weiter unten verschieben.
"Diffidentia" und "Nihil Morari" sind vielleicht die typischsten POS-Songs von "Be": Ersterer zwar eher einfach gehalten, inkl. endloser Riffschleifen, aber düster-beunruhigend, heavy und mit dem bekannten Gildenlöw-Rap-Gesang, der sich in der schwerfällig-stampfenden Polung von "Diffidentia" ausnahmslos gut macht. Klassische Begleitung sorgt für einen spannungsreichen Kontrast und die sanften Pianostellen rufen Reminiszenzen an "12:5" wach, ein Album, das auch in Bezug auf zweistimmigen Gesang seine Spuren auf "Be" hinterlassen hat. Zweiterer ebenfalls von einer düsteren Grundstimmung getragen, allerdings partiell etwas chaotisch arrangiert und nicht wirklich eingängig. Nicht in diesem Song, aber spätestens an dieser Stelle des Albums dürfte übrigens dem aufmerksamen Hörer auffallen, dass die rhythmische Raffinesse von POS an anderer Stelle (etwa zu "Remedy Lane"-Zeiten) noch größer gewesen ist. "Be" zeigt sich in dieser Hinsicht geradliniger und damit möglicherweise einem breiteren, freilich aufgeschlossenen Personenkreis zugänglicher. Der dürfte auch an dem fast durchgängig rein klassischen Intermezzo "Latericus Valete" und dem kurzen "Omni" Gefallen finden, wobei "Omni" sicherlich eine gesonderte Erwähnung verdient, denn hier stellt Gildenlöw seine klaren, wehmütigen Gesang einer Orgel gegenüber. Das ist, wie so vieles auf "Be", vollkommen neu für POS, wird aber so konsequent umgesetzt, dass man sich beinahe in eine kleine Dorfkirche versetzt fühlt, was sicherlich damit zusammenhängt, dass nicht versucht wurde, eine Keyboardorgel mit viel Hall auf "Kathedrale" zu stimmen, sondern schlicht und einfach ein echtes Instrument zum Einsatz kam. Romantisch-verklärt begibt sich "Be" in sein Ende: "Iter Impius" ist eine hochmelodische und wunderbare Ballade, wie sie nur POS zustandebringen. Hier fügt sich ein Element nahtlos ins nächste, vom Klavierthema bis in den traumhaften Refrain, und besonders die Holzbläserabteilung macht den Eindruck, als ob sie nie gefehlt hätte bei dieser Band.
"Martius/Nauticus II" stellt dann das große Showdown dar: Marschtrommeln kündigen Großes an, aber es bleibt relativ gesetzt, wenngleich detailreich, Gitarren spielen über weite Strecken eine untergeordnete Rolle, die Betonung liegt auf Rhythmik (besonders die Percussions im Ausgang sollten Kenner mit der Zunge schnalzen lassen), Themen werden wieder aufgegriffen, man gibt sich nach hinten immer versöhnlicher und schlägt schließlich den Bogen zu "Imago". Berauschend, aber nur peu a peu erschließbar.
Musikalisch ist "Be" in seinen 76 vielseitig gestalteten Minuten vielleicht das erste Album, das POS-Fans mehr Anlaufschwierigkeiten besorgen könnte als mit der Band Unvertrauten, aber als Kritik kann man diese Feststellung wahrlich nicht gebrauchen, dafür stellt auch "Be" zu sehr dar, was POS noch immer verkörpern: Kreativität, der Wille, Grenzen zu durchbrechen, Komplexität und Emotionalität. Neu ist wieder einmal die Art und Weise, wie das (um diverse Gastmusiker aufgestockte) Quintett bzw. Chefdenker Gildenlöw sich an die konkrete Verwirklichung dieser abstrakten Sujets wagt.
"Chefdenker" ist das Stichwort: Wie allen anderen POS-Alben liegt auch "Be" ein thematisches Konzept zugrunde. Zwar stellte das Vorgängeralbum "Remedy Lane" als wirklich hochpersönliches (und tieftrauriges) Biographiedokument einen Schritt in eine weniger allumfassende Richtung dar (immerhin waren die beiden vorherigen Alben "One Hour By The Concrete Lake" und "The Perfect Element (I)" groß, weil anthropologisch angelegte Sozialstudien), aber "Be" schlägt wieder die Brücke zu den universalen Menschheitsdiagnosen und behandelt die Begegnung von Mensch und Welt. Ein ähnlich angelegtes Projekt ist mir im Metal-Bereich nur von den Österreichern Dornenreich bekannt, die anno 2001 auf "Her von welken Nächten" eine Art Selbstfindungsprozess eines Individuums vertonten. Im Unterschied dazu geht Gildenlöw einen Schritt weiter und beschäftigt sich mit "Menschheit", besser: der Zivilisation und ihren Begleiterscheinungen im Allgemeinen. Problem an einem solch universalen Topos ist m.E., dass man als Hörer den Schritt ins Allgemeine (und damit auch Grobe) vorher ebenfalls gegangen sein muss, um die Tragweite des Gesagten zu erfassen. Soll heißen: Ich sehe hier ein grundsätzliches Rezeptionsproblem: Sobald ein Künstler die persönliche Basis, die er mit seinem Hörer teilt, verlässt, begibt er sich aus dem Reich des Suggestiven, Emotionalen (das ein Album wie "Remedy Lane" so bitter und schwer auch für mich als Hörer machte, obwohl ich die darin geschilderten Erfahrungen nicht selbst in dieser Form gemacht habe) in kognitive, falsifizierbare Aussagen und ist von Hörern abhängig, die sich auf ähnliche Gedankengänge besinnen können. Ist das nicht der Fall, bleibt man als Hörer geneigt, etwas als bloße Meinung abzutun und sich nicht näher damit auseinanderzusetzen. Und die bisherigen Wirkung des Konzepts von "Be" auf die Metalpresse legen diese Reaktion nach meinem Ermessen nahe.
Auch ich tue mich ein wenig schwer mit "Be": Gildenlöw addiert verschiedene Ansätze theologischer und philosophischer Herkunft mit Gedankenbrocken, die bloß als Spekulation zu klassifizieren sind und macht sich damit sein eigentlich schwerwiegendes Konzept zum Spiel. Den Grundzug des Albums bildet dabei ein Doppelgedanke: Entweder muss der Mensch irgendwann gefallen sein und präsentiert sich daher derzeit als unwirscher, unvorsichtiger und verantwortungsloser Kauz - näher bestimmt Gildenlöw diese Eigenschaften etwa in seinem Pamphlet auf Konsumdenken und Egoismus ("Dea Pecunia") und dem die Folgen aufzeigenden "Diffidentia", das die Thematik der Erbsünde unterschwellig mitträgt (mit Textzeilen, die wohl aus dem Greenpeace-Sprüchelager stammen) - oder er ist in seiner Anlage bereits "schlecht". Vielleicht ist sogar Gott als Schöpfer der Gattung des homo sapiens sapiens in Wirklichkeit ein unwirscher, unvorsichtiger und verantwortungsloser Kauz, denn wessen Abbild sollten wir sonst sein? Wie weit einen dieser Ansatz bringt, soll hier nicht diskutiert werden, Gildenlöw verwandelt ihn potenziell, nämlich wenn man den theologischen Ansatz in aller Konsequenz weiterführt, in einen Pantheismus (in "Nauticus II" heißt es etwa: "For I am every forest/I am every tree/I am everything/I am you and me"). Das oben bereits kurz angesprochene "Vocari Dei", musikalisch ein sanftes Akustikgitarrenzwischenspiel in der Tradition von "Dryad Of The Woods" (auf "Remedy Lane"), ist mit verstörenden Samples untermalt. Wie das Booklet mitteilt - Gildenlöw hat einen langen Begleitkommentar zum Konzept verfasst -, handelt es sich hierbei um Artikulationen von POS-Fans, die ihre persönliche Nachricht an Gott auf Band gesprochen und für "Be" zur Verfügung gestellt haben. "Vocari Dei" ist in der Hinsicht sicherlich das authentischste Zeugnis der menschlichen Ungeborgenheit (aber auch Dankbarkeit), das "Be" auszeichnet; manche Beiträge machen den Eindruck, der Sprechende stehe kurz vor dem Suizid, und den Gänsehautschauer, welchen "Vocari Dei" bei jedem Hördurchlauf bei mir auslöst, kann ich nur gutheißen, weil die Beteiligten wussten, worauf sie sich einließen (immerhin auf Vermarktung ihrer Wünsche, Verzweiflungen und Dankesworte, die vermutlich nicht auf dieselbe Art und Weise Inszenierungen sind wie die Kunst - in dem Falle Musik -, in deren Rahmen diese Vermarktung geschieht). "Vocari Dei" lässt einen nicht ganz unbedarft zurück und das ist vermutlich auch der Sinn des Ganzen: Anregen und Anstoßen. Antworten hat ohnehin kaum einer.
Gedanklich also ebenso wie musikalisch ein schwerer Brocken. Immerhin: Eine Erfahrung teilt Gildenlöw mit all seinen Hörern und Lesern und sie soll nicht nur den Abschluss von "Be", sondern auch den dieser Besprechung darstellen, weil sie im Gegensatz zu jener nicht angreifbar, außerdem mit dem bloßen Aussprechen bewahrheitet ist und somit allen streitbaren Positionen einen Grundkonsens gegenüberstellt: I am.
Kontakt: www.painofsalvation.com, www.insideout.de

Tracklist (abzügl. Kapitelgliederung und englische oder lateinische Untertitel):
1. Animae Partus ("I Am")
2. Deus Nova
3. Imago (Homine Partus)
4. Pluvius Aestivus
5. Lilium Cruentus (Deus Nova)
6. Nauticus (Drifting)
7. Deus Pecuniae
  i: Mr. Money
  ii: Permanere
  iii: I Raise My Glass
8. Vocari Dei
9. Diffidentia (Breaching The Core)
10. Nihil Morari
11. Latericus Valete
12. Omni
13. Iter Impius
14. Martius/Nauticus II
15. Animae Partus II



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