www.Crossover-agm.de MELNIZA: Alchimija
von rls

MELNIZA: Alchimija   (Digital Records)

Sich als russische Folkband den Namen Till Eulenspiegel zu geben verrät einen gewissen Sinn für Humor. Selbige Formation bildete die Keimzelle für eine weitere, die sich unter dem Namen Melniza (Windmühle) um die Jahrtausendwende formierte und sich trotz struktureller Schwierigkeiten als ziemlich langlebig erwiesen hat: Das 2015er Album "Alchimija" stellt das sechste volle Studioalbum dar, dazu kommen diverse EPs, Singles und eine Livescheibe, und anno 2016 ist auch schon der Studioalbumnachfolger "Chimera" erschienen, der dem Rezensenten allerdings noch nicht vorliegt (eine Coverscheibe der gleichnamigen 2001er Arija-Platte wird es wohl nicht sein, wenngleich diese Vorstellung einen nicht zu unterschätzenden Reiz ausübt). Die besagten strukturellen Schwierigkeiten bestehen darin, daß Bandchefin/Sängerin/Harfenistin/Hauptsongwriterin Natalja O'Shea einen Iren geheiratet hat, der in der irischen Botschaft in Moskau beschäftigt war, mit selbigem mittlerweile aber nach Irland umgezogen ist, während der Rest der Band weiter in der russischen Hauptstadt ansässig ist, was die kontinuierliche Bandarbeit zu einer gewissen Herausforderung macht, zumal die Chefin mittlerweile auch noch zweifache Mutter ist. Aber offensichtlich funktioniert das Ganze trotzdem, wie die regelmäßige Releasefolge der letzten Jahre unter Beweis stellt, und nimmt man allein "Alchimija" zum Maßstab (in diesem Falle zwangsweise, da es das einzige im Besitz des Rezensenten befindliche Album der Band ist - er hat es im Sommer 2016 in Pjatigorsk sozusagen blind gekauft), so leidet auch die Qualität des musikalischen Resultats nicht unter der räumlichen Trennung. Man wundert sich beim ersten Hineinhören nur, wieso die Scheibe unter "Rock" einsortiert war, erklingt doch zunächst mit "Gaudete" eine reine Folknummer mit wechselnd russischem und lateinischem Text, und auch das folgende "Anestesija" hebt balladesk an, bevor sich nach einer gewissen Zeit aber doch noch Rockelemente einschleichen und das Gros der Platte dann tatsächlich am besten als Folkrock zu beschreiben ist, mal mit stärkerem Ausschlag in die eine und mal in die andere Richtung und generell eher bedächtig und ohne flotte Tanzbarkeit, aber beide Strömungen prinzipiell geschickt verknüpfend. Man nehme nur mal "Nikogda" her, mit 5:19 Minuten zweitlängster Song der Scheibe - das wäre eigentlich purer Melodic Rock, würde die Hauptmelodie der instrumentalen Fraktion nicht von einem Cello übernommen. Selbiges spielt Alexej Orlow, der zur festen Bandbesetzung gehört, während das unter dem seltsamen Namen Universal Music Band firmierende Streichquartett, das drei der zwölf Songs bereichert, Gastmusikerstatus hat. Aber die instrumentale Vielfalt ist auch schon im Stammpersonal beeindruckend: Neben der üblichen Rockbesetzung aus Gitarre, Baß und Drums sowie dem erwähnten Cellisten gehört noch ein Flötist zur Band, und dann wäre ja auch noch Natalja, die wie erwähnt nicht nur singt, sondern auch Harfe spielt (an diesem Instrument ist sie auf der Rückseite der simplen Covercard auch abgebildet) und sich zudem mit Gitarrist Sergej Wischnjakow in die Bedienung der allerdings nur sporadisch eingesetzten Keyboards hineinteilt. Dazu kommen als weitere Gastmusiker noch ein Uileaan-Pipes-Spieler, ein Gesangstrio für die Chorparts in "Gaudete" sowie ein Mann, der kurioserweise auf der Bandhomepage nicht erwähnt wird, aber in der Tracklist: ein gewisser S. Schkljarskij, der im schnellsten Song der Scheibe, "Radost Moja", mitwirkt, und es gehört wenig Phantasie dazu, um sich vorzustellen, daß das wohl der männliche Gastsänger ist, der in dieser Nummer mitwirkt. Gemäß dem Songtitel "Meine Fröhlichkeit" sind diese dreieinhalb Minuten tatsächlich mal zum flotten Im-Dreieck-Springen geeignet, auch wenn die Snare auf die 1 kommt und daher ein Stakkato-Effekt erzielt wird, der das Tempo langsamer wirken läßt, als es eigentlich ist. Andere Nummern wie der wiegende "St. Exupery Blues" eignen sich eher, um bedächtig ein Bein neben das andere zu setzen oder gleich im Sessel vor der Stereoanlage zu verweilen, um die musikalische Vielfalt zu analysieren, die hier wie auch sonst in den 50 Minuten nie zum Selbstzweck eingesetzt wird, sondern logisch und intelligent arrangiert wirkt. Antoine de Saint-Exupery stellt als Songthema übrigens eher eine Ausnahme dar, denn das Gros der Texte verortet die studierte Mediävistin Natalja etliche Jahrhunderte früher, wobei sie sich allerdings nicht limitieren läßt, wie "Marsianskij Ekspress" unter Beweis stellt. Auch die albuminterne Tempodynamik legt die Chefin geschickt fest: Die schnelleren Passagen, zu denen neben den erwähnten in "Radost Moja" auch noch Teile von "Proschtschai" zählen (allerdings dort schon deutlich langsamer), kommen immer dann, wenn man beim Hören sich wünscht, jetzt müsse aber endlich mal was Schnelleres kommen. Und der erwähnte treibendere Teil von "Proschtschai" kontrastiert dann wirkungsvoll mit dem zunächst zwischen Halbballade und Hymne pendelnden "Woina", mit sechseinhalb Minuten die längste Nummer des Albums, die aber relativ überraschend nach drei Minuten auch einen flotten Zwischenteil eingepflanzt bekommen hat, bevor sie wieder in den balladesken Gestus zurückfällt, der allerdings mit militärkompatiblen Trommeln und einigen Elektronikeffekten angereichert wird und sich diesbezüglich steigert, bis nach Minute viereinhalb einer dieser klassischen Folkrock-Tanzbodenfeger entsteht, diesmal mit versetzter Snare. Damit beweisen Melniza also, daß sie auch diesen Stil beherrschen - ob sie ihn auf den anderen Alben eventuell in stärkerem Maße einsetzen, müssen Kenner derselben beantworten, zu denen der Rezensent wie erwähnt (noch) nicht zählt. Die Akustikballade "Dreadnought" schließt ein interessantes und gut produziertes Folkrockalbum ab, dem alle, die diese Mixtur nicht nur zum wilden Herumpogen schätzen, ein Ohr leihen sollten.
Kontakt: www.melnitsa.net

Tracklist:
Gaudete
Anestesija
Marsianskij Ekspress
Nikogda
Soloto Tumana
Ob Ustroistwje Njewjesnowo Swoda
Radost Moja
St. Exupery Blues
Tristan
Proschtschai
Woina
Dreadnought
 




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