www.Crossover-agm.de KARFAGEN: Lost Symphony
von rls

KARFAGEN: Lost Symphony   (Caerllysi Music)

Ein neues Karfagen-Album und doch wieder nicht: Der Titel "Lost Symphony" deutet schon an, daß wir es hier vielmehr mit einer archäologischen Veröffentlichung zu tun haben, und diese Andeutung stellt sich dann auch als weitestgehend korrekt heraus - aber eben nicht vollständig. Denn die Aufnahmen der 64 Minuten Musik, wie sie auf dieser CD nun zu hören ist, stammen aus den Jahren 2007 bis 2011 - aber einige der Songs selbst sind schon deutlich älter und wurden halt nur nie regulär für ein Album eingespielt, wobei einige ihre Ausgangsform auch schon deutlich übertroffen haben: "Salvatore & His Leather Jackets" beispielsweise stammt in seiner Grundfassung bereits aus dem Jahr 2000, aber über die Zeiten hinweg ist der Song doch etwas verändert geworden und bildet jetzt nach dem Intro "Entering The Space Gates" den Auftakt des Albums, der auch gleich die Marschrichtung vorgibt: verträumte instrumentale Rockmusik mit Proganleihen und unter Hinzuziehung zahlreicher rockuntypischer Instrumente. Hier wie auch in etlichen anderen Songs hören wir also zusätzlich noch ein Streichtrio, einen Bajanspieler (das Bajan ist das osteuropäische Knopfakkordeon, das auch in der ukrainischen Folklore eine nicht unmaßgebliche Rolle spielt), eine Oboistin und einen Fagottisten, der besonders im nächsten regulären Song "The Cosmic Frog & The Beast" (das dazwischenliegende "Orgaria [Scene 1]" besitzt nur Zwischenspielcharakter) motivisch eine zentrale Rolle spielt und an die Einsätze dieses Instrumentes in "Peter und der Wolf" denken läßt. Aber ein anderer Einfluß sollte den Leser spätestens anhand der zuletzt genannten Songtitel förmlich angesprungen sein: Die Leipziger von Dice scheinen tatsächlich ein paar Spuren im Schaffen Karfagens hinterlassen zu haben, wenngleich die Ukrainer im Direktvergleich deutlich weniger "vernebelt" zu Werke gehen, sich auch von vordergründigen Spaceelementen weitgehend fernhalten und bis auf ein paar kurze Einwürfe in "Afterwords" und "Symphony Of Sound" auch komplett instrumental arbeiten. Daß auch Karfagen-Chefdenker Antony Kalugin genügend Potential für seltsame Ideen abrufen kann, steht allerdings außer Zweifel. Ob die ersten sechs Stücke auch original schon als Suite gedacht waren, darf angesichts ihrer unterschiedlichen Herkunftsstruktur, die partiell in den Liner Notes beleuchtet wird, bezweifelt werden - aber außer Zweifel steht, daß sie in Suitenform problemlos funktionieren. Als Suitentitel wählte Kalugin übrigens "The Frog, The Beast And The Wizard", und diese Suite ist in der Tracklist zugleich mit "Side 1" übertitelt. Keine Ahnung, ob es "Lost Symphony" auch als LP gibt, aber da fällt dem Musikhistoriker natürlich sofort "III Sides To Every Story" von Extreme ein, das musikalisch hier allerdings keine Spuren hinterlassen hat, sondern allenfalls in Punkten der Ideenvielfalt herangezogen werden könnte. Kalugin trägt auf dem Bandfoto übrigens ein seattlekompatibles Karohemd, aber in den 64 Minuten ist trotzdem kein Deut Grunge vorhanden, und überhaupt bleibt Melancholie komplett aus und wird stimmungsmäßig allenfalls durch eine Art positive Romantik ersetzt. Wer hier die Austragung großer Konflikte sucht, wird eher selten fündig, wenngleich sich nach einigen intensiven Hördurchläufen der Eindruck reiner Entspannungsmusik, den man beim oberflächlichen Hören durchaus gewinnen könnte, schnell verliert. Man höre nur mal die Bombastdynamik in "Journey Through The Looking Glass" um Minute 7 herum, die sich noch in fulminante Crescendi steigert! Selbiger Song ist übrigens auch einer der alten, original 2002 geschrieben und seither länger und länger geworden - und keine der 18 Minuten ist langweilig, man vermißt auch keinen Gesang, freut sich aber trotzdem, wenn kurz vor Minute 10 noch Vokalisen als zusätzliches Stilmittel auftauchen. Wer in den flötendominierten Passagen an Jethro Tull denkt, liegt durchaus auch nicht falsch, wenngleich Renaissance als näherliegender Einfluß zu benennen wären. Besagter Song bildet das Haupt- und zugleich Abschlußstück der zweiten Seite, die ebenfalls als Suite deklariert ist und den Titel "Mysterious Stories From The Kite Town" trägt. "Orgaria (Scene 2)" als Mittelteil der Suite läßt Kalugins Fähigkeiten beim Registrieren einer klassischen Kirchenorgel zutagetreten, der erste Teil "Daydream" wiederum ist eines von zwei Stücken der CD, die nicht Chefdenker Kalugin geschrieben hat, sondern einer der an den Aufnahmen beteiligten Gitarristen (das andere ist das akustikgitarrendominierte "The China Wizard" auf Side 1). Trotzdem passen sich auch diese Stücke bestens in das Gesamtbild der 64 Minuten ein, das natürlich Mastermind Kalugin mit seiner Keyboardarmada schon in gewisser Weise prägt, aber keineswegs zu vordergründig - er weiß um die Stärken seiner Mitmusiker und setzt die instrumentale Vielfalt, über die er verfügen kann, beim Songwriting auch entsprechend gekonnt ein. Daß dann in "Symphony Of Sound", einer eigentlich für das 2000 eingespielte zweite Karfagen-Album vorgesehenen, aber dann doch nicht berücksichtigten Komposition, plötzlich auch noch Blueselemente zum Vorschein kommen, setzt der kreativen Vielfalt, die hier zu entdecken ist, dann noch die Krone auf. Wem beispielsweise Erik Norlanders Soloalben bisweilen ein wenig zu keyboardzentriert vorkommen, der könnte mit Karfagen eine passende Ersatzdroge finden, und Liebhaber von Yes zu "Talk"-Zeiten sollten sich dem Schaffen dieser Ukrainer auch mal etwas genauer widmen. Das mit holzschnittartigen, aber kolorierten Zeichnungen dekorierte Booklet rundet den leicht verschrobenen, aber zugänglichen Charakter dieser reichlich einstündigen CD perfekt ab.
Kontakt: www.antonykalugin.net, www.caerllysimusic.com

Tracklist:
Side 1: The Frog, The Beast And The Wizard
  Entering The Space Gates
  Salvatore & His Leather Jackets
  Orgaria (Scene 1)
  The Cosmic Frog & The Beast
  The China Wizard
  Sylph
Side 2: Mysterious Stories From The Kite Town
  Daydream
  Orgaria (Scene 2)
  Journey Through The Looking Glass
Side 3: Lost Symphony
  Symphony Of Sound
  Afterwords



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver