www.Crossover-agm.de GRÜSSAUGUST: grüßAugust
von rls

GRÜSSAUGUST: grüßAugust   (renitEnte Records)

Es gab da mal eine ostberlinische Kultband namens The Inchtabokatables, die neben dem unaussprechlichen Bandnamen vor allem dadurch auffiel, daß sie zwar Rockmusik spielte, aber auf ein nach Meinung eigentlich fast aller Menschen für das Spielen von Rockmusik unabdingbares Instrument, nämlich die E-Gitarre, verzichtete. (Merke: Zu ihren Gründungszeiten 1991 war an eine Combo namens Apocalyptica noch nicht mal zu denken!) Mit ihrem kompromiß-, aber keineswegs konzeptlosen Stilgemisch aus verschiedenen mehr oder weniger rockaffinen Genres paßten die Unaussprechlichen perfekt in die "Anything goes"-Neunziger, konnten daraus aber nur bedingt Kapital schlagen: Sie waren und blieben eine Kultband, von einigen heiß geliebt, von vielen aber auch links liegengelassen. Der Rezensent reiht sich da irgendwo in der Mitte ein: Er hat die Band damals nie live gesehen und sich auch nicht sonderlich intensiv mit ihr beschäftigt - aber er hat zumindest irgendwo hier eine Kassettenkopie eines ihrer Alben liegen, nämlich des Debütalbums "Inchtomanie". Die Tatsache, daß er diese schon viele, viele Jahre nicht mehr im Kassettendeck hatte und im aktiven Gedächtnis mehr oder weniger nur den dort enthaltenen "Tomatenfisch" abgespeichert hat, ermöglicht ihm allerdings wiederum, an Grüßaugust einigermaßen, aber eben nicht ganz unbeeinflußt heranzugehen.
Hinter Grüßaugust stecken nämlich Drummer Titus Jany und Sänger/Violinist Robert Beckmann, beide ehemalige Mitglieder der Inchtabokatables, die, da der Rat der ehemaligen Bandmitglieder beschlossen hat, trotz durchaus bestehender Nachfrage aktuell keine weiteren Aktivitäten aufzunehmen, momentan genügend Zeit haben, um sich ebenjener neuen Band zu widmen. Die Selbstbetitelung des vorliegenden Albums scheint ein Debüt nahezulegen, aber das stimmt nicht, denn es handelt sich bereits um das dritte Werk nach einer 2010er EP und dem 2012er Debüt "Le Punk C'est Moi", welchselbige der Rezensent aber beide ebenfalls nicht besitzt und somit nicht zu Aussagen bezüglich der Entwicklung des Bandsounds in der Lage ist. Konzentrieren wir uns also auf die 57 Minuten des selbstbetitelten Albums! Die erste Feststellung ist eher struktureller Natur: Grüßaugust setzen tatsächlich das Instrument E-Gitarre ein, und zwar nicht nur zufällig oder gasthalber, sondern mit einem ganz normalen Platz im Bandkader, der aber dennoch ungewöhnlich gefüllt wurde, nämlich mit einer Japanerin namens Tomoko Fujimura, die das Bandinfoblatt eine "Noisegitarristin" nennt. Wer darob erschrickt, braucht sich keine Sorgen zu machen: Große Teile der Gitarrenarbeit sind auch tatsächlich als die Klangfarbe Gitarre zu identifizieren und gehen nicht im Geräuschwall baden, den es hier in der Form auch nicht zu hören gibt, selbst wenn wiederum das Infoblatt zu zitieren wäre, das einen "nicht einzuordnenden Mix aus Noise, Punk, Psycho und Spaß" verspricht. Gut, das mit dem Spaß ist relativ - zur Armee der vordergründigen Schelme zählen Grüßaugust nicht, obwohl allein schon der Bandname klarmacht, daß ihnen der Schalk zumindest an verborgener Stelle im Nacken sitzt. Punk ist da, bezieht sich aber offenbar eher auf den unbekümmerten Ansatz, also eine Haltung und nicht ein musikalisches Genre, wenngleich mancher Hörer auch dazu neigen könnte, Beckmanns hörbar limitierte und teilweise schnoddrige Gesangsleistung, die auch noch zwischen Deutsch, Englisch und (in "Parad") Russisch pendelt, mit dem Adjektiv "punkig" zu belegen (man lasse nicht außer acht, daß er in "Western" wiederum phasenweise fast wie James Hetfield klingt). Noise wiederum assoziiert der Hörer mit Kapellen wie Sonic Youth oder aber mit richtig undurchdringlichen Lärmwällen - mit beidem haben Grüßaugust zumindest auf der Tonkonserve eher wenig zu tun. Bleibt Psycho übrig, und da findet sich zumindest der eine oder andere Ansatz in diese Richtung, wenn man etwa das seltsame Intro von "Listen" hernimmt, das auch in schräge Science-Fiction-Filme passen würde und in dieser Form nicht etwa in ewig langer Tüftelarbeit anhand der Geräuschedatenbank entstanden sein soll - es handelt sich, so sagt das Infoblatt, beim ganzen Album um eine Live-im-Proberaum-Aufnahme auf lediglich 12 Spuren. Aber das jetzt Aufgezählte kann noch nicht alles sein, und tatsächlich ist man geneigt, Grüßaugust in die große Postrock-Schublade zu stecken, zumal sie erstens einen größeren Fokus auf die instrumentale Komponente und einen kleineren auf den Gesang zu legen scheinen und zweitens auch die Kunst des schrittweisen Klangwallbaus perfekt beherrschen, den sie allerdings nicht mit einer abgrenzenden Mauer, sondern mit einer immer noch lockeren Hecke abschließen. Hierzu trägt der Fakt bei, daß Beckmann in solchen Fällen ja nicht etwa zweite Gitarre, sondern eben Geige spielt, also trotz deren gleichfalls elektrischer Verstärkung doch eine andere Klangfarbe mit einwebt. Das verleiht den betreffenden Passagen einen speziellen Reiz und führt dazu, daß der Hörer auch in die Zehnminutenmarke überspringenden Tracks wie etwa dem erwähnten "Listen" nicht zur Ermüdung neigt, sondern sich sogar wünscht, manch anderer Song, der in der konservierten Form ein wenig zur Unauffälligkeit neigt oder aber interessante Ansätze zeigt, diese allerdings nicht weiterverfolgt, wäre auch noch etwas weiter in diese Richtung gelenkt worden, in der Grüßaugusts derzeit größte Stärke liegt. Wer übrigens Tanzbarkeit oder, wie aufgrund des Violineneinsatzes und der musikalischen Vergangenheit ja nicht unlogisch wäre, Folkelemente erwartet, geht in der knappen Stunde weitgehend leer aus, auch wenn Grüßaugust durchaus in der Lage sind, mal zwanzig Sekunden einen simplen Vierviertelbeat geradeaus zu spielen, wie der Mittelteil von "Laufen" beweist, der allerdings auch wieder von eher schwierig tanzbaren Elementen flankiert wird, und das Albumintro "Blue" oder einige Elemente von "Prophecy" durchaus verraten, daß Jany und Beckmann keineswegs komplett mit ihrer folkigen Vergangenheit gebrochen haben. So ist "Prophecy" auch der geeignetste Anspieltip für alte Inchtabokatables-Anhänger, die sich erstmal vorsichtig in den Klangkosmos von Grüßaugust vorarbeiten wollen, gerade weil in diesen sechs Minuten der alte Folkeinfluß mit dem neuen Postrockansatz eine gute Symbiose eingeht. Daß Grüßaugust wie die Inchtabokatables bisher weitgehend ein auf die neuen Bundesländer beschränktes Phänomen bleiben, wird anhand der Spielorte auf der Releasetour im Spätherbst 2013 deutlich, aber mit dem durchaus auch ohne das Wissen um die Vergangenheit funktionierenden neuen Album könnte die Ausweitung der eigenen Homebase durchaus gelingen, auch wenn fürs nächste Album vielleicht noch eine Art Hit zu wünschen wäre. Das hymnische "Western", das tatsächlich nicht nur aufgrund des Gesangs an die Countryphase von Metallica erinnert (aber deren Songwritingergebnisse weitgehend vergessen macht), ist zwar nahe an einem dran, aber mit sechseinhalb Minuten viel zu lang für einen solchen und wegen seines großen Spannungsbogens auch nicht auf Singleformat kürzbar, was den Musikfreund zwar nicht stören sollte, aber angesichts des gängigen Musikmarktschemas eine Popularisierung Grüßaugusts auf diesem Wege doch eher kompliziert macht. Einfach gemacht haben es sich freilich auch die Inchtabokatables damals nicht - das Ergebnis ist bekannt. Schauen wir mal, wohin der Weg Grüßaugust führen wird; ein Schritt nach vorn sollte mit dem selbstbetitelten Album jedenfalls gemacht sein, auch wenn kurioserweise die hintere Albumhälfte spannender ausfällt als die vordere.
Kontakt: www.gruessaugust.com

Tracklist:
Blue
Heja
Parad
Feels Like Being An Angel
Märchen
Execution
Listen
Laufen
Prophecy
Western



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver