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von ta

FATES WARNING: FWX   (Metal Blade)

Den Vorschlag von Boris Kaiser aus Rock Hard 210 übernehmend, will ich die Discographie von Fates Warning in vier Phasen teilen: John Arch (I), "No Exit"/"Perfect Symmetry" (II), "Parallels"/"Inside Out" (III) und "A Pleasant Shade Of Grey"/"Disconnected" (IV). Veranschaulichen lässt sich diese grobe Einteilung auch an etwas anderem, nämlich dem Konsumierverhalten (modellhaft dargestellt). War es zu (I)-Zeiten noch möglich, beim Hören die Faust in die Luft zu strecken und mitzuträllern, wurde daraus in (II) bereits ein beschwingtes Mitwippen, welches bei Phase (III) einem verzückten Vor-den-Boxen-Knien-und-Lauschen Platz machte und schließlich in die Konzentration mündete, welche nur unter dem Kopfhörer, im Liegezustand und mit beinahe völlig ausgeschalteten Sinnen möglich ist (IV). "A Pleasant Shade Of Grey" und "Disconnected" waren vergleichsweise schwer zugängliche Alben, denen man sich mit geschlossenen Augen hingeben musste, um sie wirklich greifbar (und ergreifend) machen zu können. Meine Sympathie für diese Phase der FW-Discographie und die Bevorzugung der entsprechenden Alben gegenüber allen anderen der Band will und kann ich nicht verhehlen. In gewissem Sinne wird die Linie 4 (von Phase IV) nun auch bei "FWX" beibehalten, in einem anderen Sinne nicht. Was das genau heißt, muss eine Einzelbetrachtung der enthaltenen Songs zeigen.
"Left Here" ist als Opener aus zweierlei Gründen bemerkenswert: Zum einen markiert die Stimme von Ray Alder definitiv das Zentrum des Songs. Das ist, man erlaube mir den Allgemeinschwenk, ein relativ typisches Zeichen der IV-Ära, welches sich auch durch das ganze Album zieht. Dass damit einher eine eher spartanische Instrumentierung geht, muss akzeptiert werden und kommt nur der mit einfachsten Mitteln - man höre auf das vollkommene, sofort als solches identifizierbare Matheos-Akustikriff - erzeugten anmutig-befremdlichen Atmosphäre zugute. Zweitens lässt sich "Left Here" als eine Art Bindegliedsong zwischen "Inside Out" und "A Pleasant ..." begreifen. In dem Sinne liegt sogar ein Schritt zurück vor, was bei Fates Warning eigentlich eher eine Seltenheit ist.
"Simple Human" fällt in die Sparte "FW-Feger". Ein aggressives Riff, verzerrter Gesang, treibender Groove, Single-kompatible Kürze. Aber irgendetwas fehlt. Das gleiche Schicksal wird an hinterer Stelle "Stranger (With A Familiar Face)" (beinahe Uptempo, mit Megadeth-artigem Gitarrensolo) treffen. Auf dem Vorgänger stand mit "Pieces Of Me" auch so ein treibender Song. Damals wurde durch Drumloops und ansatzweise Rammstein-Gitarren Spannung erzeugt. Ein solches Element fehlt hier. "Simple Human" und "Stranger" wirken daher etwas zu sehr hoch (bzw. hart) hinaus gewollt, ohne entsprechend beflügelt zu sein. Vielleicht liege ich mit dieser Einschätzung ja völlig falsch, aber m.E. braucht "FWX" diese Songs nicht zwingend.
Einige Überraschungen liefert "River Wide Ocean Deep" an dritter Stelle. Mit wiederum einfachen Mitteln, einem spacigen Gitarrensolo und elektronisch-synthetischer Verstärkung, wird eine beklemmende Stimmung hervorgerufen, die immer tiefer gräbt. "River ..." hat weder einen Refrain noch überhaupt eine konventionelle Songstruktur, aber die FW-Melancholie, die man als Hörer der jüngsten Platten nur zu gut kennt, wird hier beinahe plastisch, mit den Händen greifbar. Und schon steckt man drin in diesem sanften Maelstrom, den schon "Disconnected" öffnete.
"Another Perfect Day" laviert einen aus selbigem vorerst hinaus, gibt sich nachvollziehbar, besonders kurzatmig, im Refrain schmusig-trübsinnig, dabei eingängig. Ganz klar, dass hieraus die Single des Albums werden musste. "A Perfect Day" ist gut, aber nicht unbedingt sehr viel mehr.
Auf "Disconnected" hätte auch das sich anschließende "Heal Me" stehen können und ist so etwas wie der jüngere Zwilling zum Jahrhundertsong "Something From Nothing", das Strophenriff im zweiten Teil ist in Bezug auf die Akkordführung sogar beinahe identisch. Trotz partiell beachtlich pfundigen Gitarren wird eine Sphärik mit latent fernöstlichen Einflüssen aufgebaut, über die sich im Kontext der letzten FW-Veröffentlichungen ohnehin eine musikwissenschaftliche Dissertation schreiben ließe. Mit siebeneinhalb Minuten gehört "Heal Me" außerdem zu den längsten Songs auf "FWX".
Das kurze, düstere Intermezzo "Sequence", ebenfalls "Disconnected"-kompatibel, bereitet schließlich den Boden für "Crawl". "Crawl" fällt vor allem in einer Hinsicht aus der Reihe: Synthesizer spielen keine Rolle. Während sie in den restlichen Songs zu den eminent wichtigen, weil für eine beständig entrückte Atmosphäre sorgenden Bestandteilen gehören (was schon ab "A Pleasant ..." der Fall war), wird hier noch einmal dick aufgetragen: Hart, schwer, kurzweilig. Aber auch konventionell und sehr einfach. Die neueren FW fallen ja gerade dadurch auf, dass sie progressiv sind, obwohl sie auf ausufernde Spielereien völlig verzichten. Diese Einfachheit wird hier allerdings etwas ins - Entschuldigung - Triviale gezogen, weil ihr keine entsprechende Gegenkraft entgegengestellt wurde (wie etwa die bedrückende Atmosphäre in vielen anderen neueren Stücken).
"A Handful Of Doubt" macht hernach aber alle Zweifel vergessen, die sich voreilig in Blickrichtung "leichte Enttäuschung" wandten. Sich kontinuierlich aufbauend, in eine alles umfassende Schwebe geratend und schließlich in einer Melodie, wie sie nur von dieser Band kommen kann, kulminierend, entsteht eine kleine, düstere Welt, die viel zu schnell wieder vergeht, um sie richtig zu erleben. Auf "Disconnected" hätte ein solcher Song fünfzehn Minuten gedauert, hier packt man ebensoviele Ideen in fünf Minuten. Das muss nicht zwingend besser sein! Höre: Manche Ideen brauchen Zeit. Ich mutmaße, dass auch "A Handful Of Doubt" mehr als eine Handvoll Fates Warning hätte werden können. Trotzdem: Diese Handvoll ist wundervoll.
"Wish" steht in einer Tradition, die seit "A Pleasant ..." konventionalisiert wurde, denn es basiert als Ausklang des Albums im Wesentlichen auf einem einzigen, akustischen Gitarrenriff (wie schon "A Pleasant Shade Of Grey XII" und "Disconnected Part 2"). Das zieht dich an sich und mit sich und lässt dich nicht los, auch im harten Mittelteil, und sorgt noch einmal für eine letzte Drehung im sanften Maelstrom. Danach versiegt dieser.
Was sagt die Gesamtschau? "FWX" ist in seiner atmosphärischen Weiterführung von den stimmungstragenden Elementen der letzten zwei Alben ebenfalls ein Album, das in die oben skizzierte Phase (IV) gehören mag. "FWX" unterscheidet sich aber auch in nicht unwesentlichen Maßen von seinen Vorgängern dadurch, dass es weitaus kompakter ausgefallen ist. Das sorgt für ein Plus an Zugänglichkeit, aber ein Minus an jener Atmosphäre, die einen bei dieser Band in sich saugt. Um die oben angeführten Konsumierexempel weiterzuführen: "FWX" kann man unter dem Kopfhörer verstehen, aber auch beim Knien vor den Boxen, beim einfachen Zuhören. In dem Sinne mag man das Album als geglückte Gratwanderung beschreiben. Aber "A Pleasant Shade Of Grey" und "Disconnected" waren wirkungsvoller.
Diese Klassifizierung klingt möglicherweise wie eine Degradierung. In gewissem Sinne ist sie das auch und ich will nicht verhehlen, dass ich die Stärke von FW bereits in komprimierterer Form erlebt habe als auf "FWX" und darum etwas enttäuscht bin, aber das liegt nur an den Standards, welche sich die Band selbst gesetzt hat. Fates Warning bleiben auch mit ihrem zehnten Album eine schlicht tolle Band. Hier wird Prog Metal gespielt, der ohne Gefrickel und inzwischen weitestgehend ohne vertrackte Rhythmen auskommt. Dieser hier setzt die Betonung anders, reduziert sich selbst auf essenzielle Bestandteile, um etwas Großes, Magisches, Anziehendes zu schaffen, einen sanften Maelstrom. Fates Warning bestehen aus Musikern, die allesamt ihren eigenen Stil pflegen, ohne sich selbstgefällig zu präsentieren (einmal mehr muss auch auf das akzentuierte Drumming von Mark Zonder hingewiesen werden) und sind selbst in ihrer minimalistischsten Form sofort erkennbar. Das ist auch für eine Prog-Band ungewöhnlich. Fates Warning bieten in ihrer Entrücktheit und Melancholie etwas, was genug andere Bands in dieser Form nie erreichen werden. Dass das alles schon einmal mehr gefesselt hat, muss dabei gar keine so große Rolle spielen und bezieht sich zuletzt nur auf die aufnehmende Haltung eines Rezensenten. "FWX" ist ein gutes Album von Fates Warning. Das ist wirklich schon sehr viel.
Kontakt: www.metalblade.de

Tracklist:
1. Left Here
2. Simple Human
3. River Wide Ocean Deep
4. Another Perfect Day
5. Heal Me
6. Sequence
7. Crawl
8. A Handful Of Doubt
9. Stranger (With A Familiar Face)
10. Wish



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