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von ta

ARCTURUS: Sideshow Symphonies   (Season of Mist)

Die skandinavische Weltraumfähre Arcturus macht sich auf eine weitere Reise, welche direkt in die Sonnensysteme Progmetallon und Bombasticus und damit auch noch in die Top Ten der gelungensten musikalischen Exkursionen 2005 führt. "Sideshow Symphonies" ist ein Album, das streckenweise das Prädikat "kongenial" verdient und wenn nicht dieses, dann wenigstens das Prädikat "wunderbar". Arcturus 2005, das hat überhaupt nichts mehr mit Avantgarde Black Metal zu tun, ist aber 2005 immer noch Musik, die fern vieler Standards passiert, die innovativ, neuartig, progressiv ist. Und dabei zu keinem Moment sperrig, streckenweise stattdessen beinahe kitschig. Beinahe - aber dazu später.
Was hat sich getan im Hause Arcturus? Bekanntermaßen nahm Sänger Kristoffer "Garm" Rygg vor geraumer Zeit seine Astronautenkappe und der vakante Sängerposten wurde mit Simen Hestnęs neu besetzt. Diesen kennt man als Vortex von Dimmu Borgir und Borknagar her, aber das heroische Pathos, welches bei Dimmu Borgir und Borknagar den Gesang Hestnęs' prägt, fehlt auf "Sideshow Symphonies" völlig. Hestnęs schmettert zwar auch für Arcturus immer noch beeindruckend hoch, aber mit einem sehr natürlichen, unverfälschten Timbre, das so liebreizend und verlockend wie Pans Flöte tönt. Kein Hass, keine Wut in dieser Stimme und nur in einem einzigen Song lässt sich der Mann kurz zu schwarzmetallischem Kreischgesang herab ("Hibernation Sickness Complete"), was als Ergebnis den härtesten Track des ganzen Albums zeitigt, der folgerichtig an den Anfang des Albums gestellt wurde. Ansonsten ist "Sideshow Symphonies" überraschend soft ausgefallen, denn neben dem sanften Gesang von Hestnęs besticht es vor allem durch die Dominanz der Synthesizerklänge, Klänge, die sich um jedes Gitarrenriff weben und für eine immer leicht melancholische und weiträumige, ja man mag noch metaphorischer sagen: kosmische Atmosphäre sorgen. "Sideshow Symphonies" lässt sich unter dem Kopfhörer genießen, mit ausgeschalteten Sinnen, außer dem akustischen, ohne dass man dabei etwas verpasste, um das es schade wäre. Nix Tanz, nix Mosh, nix Gröl, nur stiller Genuss. Und "Sideshow Symphonies" besticht stimmungsmäßig vor allem durch Trübsal und weiterhin durch Bombast und hier ordnet sich die gesamte Instrumentalgestaltung unter. Frickeleien, Geschwindigkeitswettbewerbe, verschrobene Rhythmusspielereien oder was sonst man erwarten könnte, wenn man von Arcturus' Wandel zum Prog-Metal-Act hört, werden fast komplett ausgeblendet. Das verwundert umso mehr, wenn man weiß, welch fabelhafte Instrumentalisten hier am Werke sind, bedient doch bspw. weiterhin von Blomberg, manchem vielleicht besser unter dem Pseudonym Hellhammer von Mayhem, Winds oder einem der fünfhunderttausend anderen Projekte, an denen der Mann beteiligt ist, her bekannt, das Drumset. Von Blomberg, der sicherlich zu den schnellsten und technisch versiertesten Black Metal-Drummern überhaupt gehört, hält sich oberflächlich betrachtet auf "Sideshow Symphonies" angenehm zurück (gut, der Doppelfuß rollt des Öfteren und "White Noise Monster" hält sogar ein paar Sekunden Blastbeat bereit), entpuppt sich aber bei genauerem Hinhören einmal mehr als verspielter Techniker, auf dessen Drums man sich ein ganzes Album lang ohne Anfälle von Langeweile konzentrieren kann. Besonders die lockere Beckenarbeit sorgt beinahe für entspanntes Jazz-Feeling im Kosmos Arcturus und wird lediglich dadurch etwas in ihrer Wirkung gebremst, dass sämtliche Schlagzeugfelle von Blombergs wie gewohnt durch die neuste auf dem Markt erhältliche Triggerapparatur gejagt wurden, welche dann auch für einen enorm maschinenhaften Schlagzeugklang sorgt. Dieser Klang wiederum harmoniert wunderbar mit der Atmosphäre, welche durch die vielen Synthiesounds entworfen wird und fügt sich hierbei besonders gut in die weiten Klangteppiche der Marke Marillion ein. Ein Monstertrack wie das kleine Epos "Shipwrecked Space Pioneer" etwa lässt einen nach dem zweiten Hördurchgang niemals wieder los, weil die Dramatik des Themas, die der Titel bereits andeutet (Kosmonaut xy ist im Weltraum verloren gegangen und hadert nun mit der Welt), musikalisch brilliant auf alle Beteiligten verteilt wurde, sei es im gehetzten, gepressten Gesang von Hestnęs, dem treibenden Drumgewitter von von Blomberg, in spacigen Synthieklängen oder flott angeschlagenen Gitarren. Apropos: Die Gitarren sind nun generell das Unauffälligste an "Sideshow Symphonies", nehmen oft reine Harmoniefunktion ein und brechen nur selten aus, um ein autonomes Riff oder ein klingelndes Solo in die Weite des Universums zu schleudern. Wo liegt hierbei der Haken? Nun, es gibt keinen. Das homogene Ergebnis spricht für sich und dafür, dass auch im Metal die Gitarre nicht zwingend Basis eines Songs sein muss. Im Falle "Sideshow Symphonies" offeriert sie Harmoniefolgen, auf denen Hestnęs perfekt seine Hooklines einfügt, die direkt ins Ohr gehen und sich lediglich bei Mitsing-Versuchen des Hörers ihrer nicht unbeträchtlichen Höhe wegen gelegentlich zu überschlagen drohen (was Hestnęs selbst freilich auch passiert). Akustische Passagen werden perfekt eingewoben und sorgen für Arrangements, die tatsächlich Gänsehaut hervorrufen. Zweifler mögen den in sich völlig homogenen, aber dabei erstaunlich vielschichtigen Space-Doomer "Deamonpainter" konsumieren. Gut, bei diesem mag sich mancher daran stören, dass zur Einleitung des Strophenthemas ein niedlicher, rülpsähnlicher Laut durch den Weltraum klingt, aber solche ironischen Brechungen gehören zum Arcturus-Konzept und sind auch dringend notwendig. Deswegen eine Fußnote zum Konzept:
Wer sich ein paar Minuten länger mit der Band beschäftigt, wird unweigerlich auf die Erkenntnis stoßen, dass diese stetig eine zweite ironische Ebene in ihr Erscheinungsbild einflechtet, betreffe dies Musik, Texte oder Booklet-Gestaltung. Es ist dies eine Ebene, die immer genau dann als Rückzugsfeld dient, wenn das Ergebnis zu Kitsch zu werden droht. Da gibt es etwa den zweiten Teil von "Evacuation Code Deciphered": Ein Duett von Mann und Frau, hingebungsvoll und elegisch gesungen von Hestnęs und Gastsängerin Silje Wergeland (keine Ahnung, woher man diese kennen könnte), unterlegt mit einfachen Akkorden in tiefstem Moll, kurz: da gibt es einen tragischen Musikmoment, der beinahe die Grenze zum Kitsch zu überschreiten droht (wie sie bei 80% der Mann/Frau-Balladen-Kollaborationen im Power Metal bereits überschritten ist), eine Grenze, welche aber genau dadurch auf Hörerseite erst gar nicht mitgedacht wird, weil das gesamte Drumherum völlig freakig und untragisch ausfällt: Der Text des Songs über eine Flucht aus der von Aliens infizierten Erde ist schön geschrieben, aber kaum ernsthaft zu lesen, die Klapsmühloutfits der im Booklet abgebildeten Musiker sorgen für den grauen und grünen Star gleichzeitig und die aus anderen Songs bekannten Einfälle wie hysterisches Gelächter, schräge Presswurstgesangspassagen oder eben der genannte Gutturallaut in "Deamonpainter" reißen die ganze Tragik endgültig darnieder. Diese Form ironischer Brechung nimmt nicht das Traurige des ganzen Tracks, sondern relativiert es. Ergebnis: Die Passage aus "Evacuation Code Deciphered" ist immer noch ergreifend, aber nicht mehr kitschig. Prädikat: Wertvoll. Oder wahlweise auch: Genial. Exkursende.
Dieses Album nimmt einen auf völlig kluge Art und Weise gefangen. Es ist einerseits - nicht nur für Arcturus-Verhältnisse - überraschend eingängig und leicht zugänglich, andererseits aber immer ein wenig unernst. Und diesen Unernst könnten höchstens Kosmologen oder ausgefuchste Science Fiction-Fans bestreiten. Ein Wort deshalb noch - um auch diese Kosmologen oder Science Fiction-Fans zu widerlegen - zu den Texten: Inhaltlich dreht sich "Sideshow Symphonies" um die Erforschung des Weltraums und damit verbundene Erlebnisse einsamer Kosmonauten. Und wenn nicht wenigstens die die Textlektüre optisch begleitenden Musiker-Outfits so auffällig auf Belustigung zielen würden, kann man durchaus poetische Texte wie die vom erwähnten "Deamonpainter" oder dem Übertrack "White Noise Monster" als bedrückend empfinden (besonders die wunderbare letzte Strophe des letztgenannten Tracks ist an Resignation kaum zu überbieten). Aber das wäre eben ein Eindruck, der noch nicht durch die Arcturus-Ironie gebrochen wurde. Ist er es, bleibt der Text bedrückend, aber nur noch relativ bedrückend, nämlich relativ auf die Akzeptanz der Situation, welche der Song beschreibt. Und das ist eine Akzeptanz, die eben gerade ironisch in Frage gestellt wurde. - Ist klar, was der Rezensent meint? Er meint folgendes: Wenn ich 2005 oder 2006 sagen will, dass die Welt ein schlechter Ort ist, kann ich mich heulend auf ein Podest stellen und schreien, dass die Welt ein schlechter Ort sei. Ich kann freilich auch die Narrenkappe aufsetzen und dasselbe schreien. Arcturus machen (auf ihre Art und jetzt mal unabhängig von den mitgeteilten Inhalten) das zweite.
Abgesehen davon ist es natürlich bemerkenswert, wie die Band den Weltraum - Witz hin oder her - musikalisch-textlich an den Hörer trägt, ohne der "Star Wars"-Schlachtenepik zu verfallen. Hier wurde nachgedacht.
Und nein, Arcturus sind - der Rezensent wiederholt sich - kein Standard, auch keine Ware für die Masse, aber eigentlich doch irgendwie für jeden da. "Sideshow Symphonies" ist ein kleines, schlaues Referenzwerk im Prog Metal, von dem nur zu befürchten ist, dass der primäre Hörerkreis, nämlich eben die Prog-Gemeinde, kaum Notiz davon nehmen wird, weil doch scheinbar Black Metal-Blut am Bandnamen klebt. An dieselbe Gemeinde sei daher der Aufruf gerichtet: Tut euch etwas Gutes und klingelt mindestens bei www.season-of-mist.com auf einen Kauf vorbei. Ihr werdet es nicht bereuen.

Tracklist:
1. Hibernation Sickness Complete
2. Shipwrecked Frontier Pioneer
3. Deamonpainter
4. Nocturnal Vision Revisited
5. Evacuation Code Deciphered
6. Moonshine Delirium
7. White Noise Monster
8. Reflections (Instrumental)
9. Hufsa



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