www.Crossover-agm.de
Reto Wehrli: Verteufelter Heavy Metal
von rls anno 2002

Reto Wehrli: Verteufelter Heavy Metal

Eine weitere der unzähligen Streitschriften von Fundamentalisten Marke Bäumer gegen alles, was längere Haare hat und eine Gitarre in der Hand hält? Nein! "Forderungen nach Musikzensur zwischen christlichem Fundamentalismus und staatlichem Jugendschutz" heißt der Untertitel dieses über 400seitigen Werkes, und damit wird schon mal klar, daß es sich nicht um ein Werk der im ersten Satz angeführten Kategorie handeln kann, denn welcher christliche Fundamentalist würde sich selbst als christlichen Fundamentalisten bezeichnen? Vielmehr haben wir hier nach Bettina Roccors "Heavy Metal. Kunst. Kommerz. Ketzerei" eine weitere fundierte wissenschaftliche Abhandlung über Phänomene rings um harte Gitarrenmusik. Im Gegensatz zu Roccor, die volkskundlich-soziologische Studien anstellte, nähert sich der "lizenzierte Psychologe" Reto Wehrli (ich vermute mal, der Titel ist irgendeine spezifisch schweizerische Bezeichnung für einen Diplompsychologen oder sowas Ähnliches) dem Sujet allerdings von einer kulturwissenschaftlichen Seite aus und stellt, wie bereits im Untertitel deutlich wird, die Versuche der repressiven Einwirkung auf das Genre in allen seinen Facetten dar, von denen die fundamentalchristliche "Rockmusik ist satanisch"-Bewegung und die Aktivitäten der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften im Mittelpunkt stehen. Allerdings blickt Wehrli auch über den Tellerrand hinaus und streift einerseits den Comic- und Filmbereich, macht andererseits aber auch Abstecher in die Kunstzensurpraxis der USA und Japans, die beide in einigen Bereichen stark repressiver, in anderen aber wiederum deutlich lockerer zu Werke gehen als die Deutschen. Trotz einer lockeren und verständlichen Sprache bleibt Wehrli bis auf wenige polemische Attacken stets sachlich, gibt mehr Quellen an als alle christlichen Warnschriftautoren in ihren gesammelten Werken zusammen und schafft für seine Theorien somit einen nachvollziehbaren Darlegungsrahmen (ob man sich diesen letztlich anschließt oder nicht, ist eine andere Frage - aber man wird zum selbständigen Nachdenken über das jeweilige Thema animiert). Nach einer einleitenden Abhandlung über kulturphilosophische Elemente (dionysische und chaotische, um genau zu sein) harter Rockmusik (die ich für mich persönlich alles andere als nachvollziehen kann, die aber den Ursprungsideen wahrscheinlich recht nahe kommt, auch wenn man jene heute nur noch selten in Reinform antrifft) stößt Wehrli schnell zum Kern der Sache vor, nimmt von den Beatles bis hin zu Marilyn Manson so ziemlich jede mainstreamorientiertere Band auseinander (der pseudo- bis realböse Underground aus Norwegen, Thüringen etc. kommt ganz zum Schluß zum Zuge), der man in der Hochzeit der "Rockmusik ist gleich Satanismus"-Bewegung teuflisches Gehabe andichtete, und legt in schonungsloser Klarheit Fakten offen (auch wenn er es sich an einigen wenigen Stellen etwas zu einfach macht und manch diskussionswürdiges Element mit einer polemischen Handbewegung abtut). Besonders positiv anzurechnen ist ihm, daß er komplette Songtexte zitiert und diese, sofern sie fremdsprachig sind, auch noch parallel ins Deutsche übersetzt, so daß man seine Aussagen auch nachvollziehen kann. Dann geht's weiter zur Behandlung der religiösen Gegnerschaft des Heavy Metal, wo Wehrli die evangelischen Freikirchler (zumindest, wenn man seine Ausführungen auf die deutschen bezieht) meines Erachtens etwas zu hart anfaßt (gerade besagte Freikirchler taten und tun sich weitreichend, wenn auch nicht allumfassend durch die Akzeptanz und Unterstützung christlich orientierter Rockmusik hervor, wo andere Kreise auch diese Sorte harter Musizierkunst pauschal als Teufelswerk ablehnen) und kein allzugutes Gespür für religiöse Wahrnehmung besitzt (ich habe allerdings wenig Einblick in die christliche Ordnung Amerikas und unterlasse daher weitere Ausführungen an dieser Stelle). Dafür bekommt von Bäumer bis zu Glogauer jeder wichtigere Autor christlicher Streitschriften sein Kapitel ab und wird systematisch zerpflückt, wie ich das auch schon teilweise in "Haarus Longus Satanas?" getan habe, wobei Wehrli - das erkenne ich neidlos an - noch bedeutend tiefgründiger, quellenkenntnisreicher und insgesamt umfassender argumentiert als ich. Diese Attribute kann ich bedenkenlos auch dem Kapitel über Backward Masking attestieren. Dann geht's zum zweiten großen Themenkomplex über, nämlich den Zensurbestrebungen einzelner Staaten. Die Realität der offiziellen und praktisch ausgeübten Zensur findet an zahlreichen Beispielen von Georg Kreisler über die Böhsen Onkelz und die Erste Allgemeine Verunsicherung bis zu Robbie Williams (!) ausgiebige Betrachtung, wobei eine grundsätzlich staats- und autoritätskritische Haltung des noch jungen Autors deutlich wird. Mit der angesprochenen Behandlung der satanofaschistischen Auswüchse aus Norwegen und Thüringen schließt ein hochgradig lesenswertes Buch ab, das eigentlich jedem Rockmusikkritikaster für etliche Zeit den Mund stopfen müßte. Daß dieses Buch in einer Startauflage von 750 Exemplaren erscheinen muß, während "Wir wollen nur deine Seele" mittlerweile locker im sechsstelligen Bereich angekommen sein dürfte, ist eine Schande sondersgleichen.

Reto Wehrli: Verteufelter Heavy Metal. Forderungen nach Musikzensur zwischen christlichem Fundamentalismus und staatlichem Jugendschutz. Münster: Telos-Verlag 2001. 416 Seiten. ISBN 3-933060-04-4. DM 40,00
 






www.Crossover-agm.de
© by CrossOver