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Jens Reisloh: Deutschsprachige Popmusik: Zwischen Morgenrot und Hundekot. Von den Anfängen um 1970 bis ins 21. Jahrhundert. Grundlagenwerk - Neues Deutsches Lied (NDL)
von rls anno 2016

Jens Reisloh: Deutschsprachige Popmusik: Zwischen Morgenrot und Hundekot. Von den Anfängen um 1970 bis ins 21. Jahrhundert. Grundlagenwerk - Neues Deutsches Lied (NDL)

Die Theorie klingt spannend: Ein Literaturwissenschaftler beleuchtet die deutschsprachige Popmusik. Hat man sich dann durch die etwas ermüdenden und zum Teil widersprüchlichen Erörterungen zum Liedbegriff an sich gekämpft (Reisloh findet für sein Forschungssujet nur eine negative Abgrenzung, die er bei anderen Autoren aber ablehnt, und allein über seinen Versuch der Liedtypologie ab Seite 20, speziell ab Seite 22 könnte man stundenlang streiten), wird die Lektüre auch in der Praxis spannend: Reisloh schafft es über weite Strecken, sinnvolle und nachvollziehbare Gliederungen (sowohl zeitlich als auch inhaltlich) seines Forschungsgegenstandes zu entwickeln, diese mittels zahlloser Beispiele mit Leben und Anschaulichkeit zu füllen (einige Redundanzen seien ihm in diesem Kontext gern verziehen) und das Ganze trotz wissenschaftlichen Anspruchs (es handelt sich um eine an der Universität Hannover eingereichte Dissertation) auch noch relativ locker und unverkrampft lesbar zu machen. Er gliedert nach der genannten Abgrenzung seines Sujets (gegenüber Jazz, Klassischer Musik, Neuer Musik, Volksliedern und Schlager - alles, was deutsche Texte verwendet, aber nicht einer der genannten fünf Sparten zurechenbar ist, fällt in seinen "Zuständigkeitsbereich") und dessen Neubenennung als Neues Deutsches Lied oder kurz NDL, die sich, soviel kann man fünf Jahre nach Erscheinen des Buches sagen, leider nicht allgemein durchgesetzt hat (selbst der Wikipedia-Eintrag wurde wieder gestrichen), diese Strömung in drei Phasen: die mit Udo Lindenberg, Ihre Kinder etc. anhebende Frühzeit, die NDW-Periode und die ab Ende der 80er einsetzende Stilauffächerung. Neben der reinen Periodisierung und Entwicklungsdarstellung enthält das Buch dann aber auch noch die literaturwissenschaftlicher geprägten Untersuchungen, in die Reisloh neben der Funktionstypologie beispielsweise auch die Kontextforschung nicht nur, aber auch im gesellschaftlichen Sinn einbezieht, um die Grundfrage "Was soll das?" zu beantworten. Hier und da merkt man dem Autor dann auch an, daß er sich in dieser Disziplin eher zu Hause fühlt als im musikwissenschaftlich geprägten Teil der Analyse, aber auch in letztgenannter zieht er sich durchaus achtbar aus der Affäre, und selbst wenn man ihm seine Vorlieben anmerkt, so gerät das Buch doch zu einem interessanten Hybriden, der in bezug auf das Ernstnehmen der deutschsprachigen Popmusik in der Literatur- und der Musikwissenschaft partiell gar Neuland beschreitet. Positiv anzurechnen ist dem aus den Altbundesländern stammenden Autor auch, daß er zumindest die wichtigsten aus der DDR stammenden Protagonisten seines Sujets in seine Untersuchung einbezieht, selbst wenn die sich von der Lage in der damaligen BRD grundlegend unterscheidenden Fakten, daß erstens die Wahl der deutschen Sprache bei den DDR-Musikern keineswegs freiwillig, sondern auf staatliche Anordnung hin zustandekam und zweitens es hier wie auch in anderen sozialistischen Ländern lange Zeit üblich war, daß nicht die Bandsongwriter die Texte schrieben, sondern externe Dichter diesen Teil der kreativen Arbeit übernahmen, noch intensiver hätten herausgearbeitet werden können. Außerdem fehlt im (enorm umfangreichen und daher prinzipiell als Übersichtsbibliographie wertvollen) Literaturverzeichnis Götz Hintzes "Rocklexikon der DDR", wo Reisloh dann zugleich die Information hätte eruieren können, daß die ersten DDR-Rockschallplatten nicht etwa 1973, sondern in Gestalt von "Das Gewitter" der Uve Schikora Combo bereits ein Jahr zuvor herauskamen, wobei das genannte Werk partiell auch noch ein Konzeptalbum (und damit auch im gesamtdeutschen Maßstab ein extrem frühes dieser Sparte) darstellt. Der grundsätzlich linksorientierte Standpunkt des Autors findet seinen Ausdruck im Buch, wenn er den Rechtsrock in wertender (sprich: abwertender) Weise behandelt oder auch nicht behandelt, was in wissenschaftlicher Hinsicht in diesem Kontext eher als problematisch zu werten ist, selbst wenn man als Leser in der Ablehnung von Störkraft & Co. mit dem Autor zweifellos übereinstimmt. Daß in den tabellarischen Übersichten am Ende des Buches auch noch die Böhsen Onkelz als Grundlagenband des auf 1984 datierten Rechtsrocks angeführt werden, ist gleichfalls eher als unglücklich anzusehen (wen's interessiert, der lese mal nach, warum deren in besagtem Jahr veröffentlichtes Debütalbum "Der nette Mann" wirklich indiziert worden ist).
Da der Autor explizit darum bittet, ihn auf Lücken in der Behandlung seines Sujets hinzuweisen (und solche muß es aufgrund von dessen Fülle zwangsläufig geben - da reichen auch 500 Seiten nicht aus), seien neben den bereits genannten noch einige weitere angeführt. Ein Buch dieses Umfangs ohne die Münchener Freiheit geht eigentlich nicht (die gehört nämlich gemäß der Abgrenzungskriterien genau nicht zum Schlager). Nach Österreich richtet Reisloh den Blick zwar bisweilen, übersieht aber zwei absolut einzigartige Herangehensweisen an den Bereich "Popmusik im weitesten Sinne mit deutschen Texten": die im kabarettistischen Umfeld wurzelnde Erste Allgemeine Verunsicherung und den multiplen Grenzensprenger Hubert von Goisern. Schlußendlich kennt sich der Autor im härteren Musikbereich nur punktuell aus - zwar bezieht er Rammstein und zumindest als Gattung auch die Neue Deutsche Härte mit ein, aber der deutschsprachige Streetrock von Lüde & die Astros hätte ebenso eine Behandlung verdient wie die zwar spärlich, aber doch vorhandenen deutschsprachigen Metalbands vor der NDH-Ära, also Doc Eisenhauer, Tanner oder auch die frühen Schweisser. Die frühesten Alben im deutschsprachigen "Black Metall" (so die konsequent falsche Schreibweise) datiert Reisloh auf 2000, obwohl etwa Karsten "Zwerg" Breitung mit Belmez schon ein halbes Jahrzehnt früher seine Jana und den Weltuntergang auf Deutsch besang (man mag die Lyrik bewerten, wie man will). Schlußendlich bekommt auch der Dank an eine ganze Kohorte von Korrekturlesern im Vorwort sein Gschmäckle, wenn etwa das Yes-Album "Tormato" konsequent auf sein r verzichten muß, aber dafür Bob Geldof ebenso konsequent ein r hinzubekommt und folglich zu Bob Geldorf wird. Außerdem hieß Vicki Vomits mehrfach umbenannte Begleitband zu Zeiten des in der Diskographie am Buchende aufgeführten 1994er Debütalbums "Ein Schritt nach vorn" noch nicht Die Misanthropischen Jazz-Schatullen, sondern The Sisters Of Jelzin.
Ungeachtet solcher Schwächen und Lücken ist das Buch aufgrund seines interessanten Ansatzes und der nachvollziehbaren Aufbereitung definitiv lesenswert, auch wenn sein bereits im finalen Untertitel der ellenlangen Titelstruktur postulierter Anspruch als Grundlagenwerk bisher noch keine Früchte getragen hat, obwohl er inhaltlich durchaus verdient wäre. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, und vielleicht gelingt es Reisloh eines Tages auch noch, sein geplantes Forschungszentrum zum NDL zu installieren und es von anderen Institutionen, deren Areale sich partiell mit ihm überschneiden, ausreichend abzugrenzen, so daß seine Einzigartigkeit auch für die entsprechenden kultur- und finanzpolitischen Entscheider außer Frage steht.

Jens Reisloh: Deutschsprachige Popmusik: Zwischen Morgenrot und Hundekot. Von den Anfängen um 1970 bis ins 21. Jahrhundert. Grundlagenwerk - Neues Deutsches Lied (NDL). Münster: Telos-Verlag 2011. 504 Seiten, broschiert. ISBN 978-3-933060-34-1. 39 Euro. www.telos-verlag.de
 






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