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Bernhard Morbach: Die Musikwelt des Mittelalters
von ta anno 2004

Bernhard Morbach: Die Musikwelt des Mittelalters

Ein wahrhaft ambitioniertes Unternehmen legt Bernhard Morbach vor: Wo der Horizont selbst des Standard-Klassikhörers - von Nicht-Klassikern ganz zu schweigen - anfängt (im Regelfall bei J. S. Bach), hat immerhin die Musikwelt des Mittelalters schon eine Weile aufgehört. "Die Musikwelt des Mittelalters" beginnt mit dem ersten schriftlichen Notenmaterial, gregorianischen Chorälen des angehenden zehnten Jahrhunderts, und endet mit dem Beginn der Renaissance (welcher ebenso wie dem Zeitalter des Barock noch ein Band des selben Autors gewidmet werden soll), also dem frühen 15. Jahrhundert. "Die Musikwelt des Mittelalters" ist ein parallel laufendes Doppelunterfangen:
1. Das Buch:
Auf 225 Seiten (inkl. Sach-/Namensregister und Plattentipps) versucht Morbach, hauptamtlich Rundfunkmoderator auf Kanal Berlin-Brandenburg, die Welt des Mittelalters von ihrer musikalischen Seite zu beleuchten. (Wer hätte auch anderes gedacht?) Gregorianische Gesänge sind ja neuerdings von der Plattenindustrie wiederentdeckt worden, seit festgestellt wurde, dass man die sogar mit HIM, Abba oder den No Angels kreuzen kann, aber dass damit mittelalterliche Musizierkunst nicht einmal ansatzweise gestreift wird, beweist nicht zuletzt dieses Buch: Die Chronologie der Ereignisse als (nachvollziehbaren) Gliederungszusammenhang genommen, durchstreift Morbach Märkte, Küchenstuben, Herrenhäuser, Burgen, Kirchen und Klöster, fördert dabei allerlei Buntes von Chanson über Motette über den Beginn der Polyphony bis zu den englischen Vorläufern der Renaissance-Musik hervor. Hierbei gehen speziellen Vorstellungen einzelner musikalisch Tätiger (sofern nicht der mittelaltertypischen Anonymität anheim gefallen), von denen Hildegard von Bingen und Guillaume de Machaut noch die bekannteren darstellen, meistens historische Abrisse über musikalische Entwicklungen und Erklärungen zu einzelnen Kompositionskonzepten oder instrumentellen Möglichkeiten voraus, was völlig sinnvoll ist und einen Blick auf Intentionen und Hintergründe eines heute oft genug befremdlich erscheinenden Musikstils offenbart. Dem hermeneutischen Ansatz des Autors, den Willen, Musik nicht vor der Folie der Gegenwart zu bewerten, sondern wenigstens imaginär ihren einstigen Welthorizont wieder aufleben zu lassen, trägt bereits der Umstand Rechnung, dass die ersten inhaltlichen (nicht, wie 1 und 2, propädeutischen) Kapitel sich mit den antiken Vorläufern und frühmittelalterlichen Theoretikern der mittelalterlichen Musikphilosophie beschäftigen, wobei der weite, sich aus der harmonischen Stimmigkeit der Welt herleitende Musikbegriff exponiert wird. Leider greift Morbach auf diese Erörterungen im Verlauf des Buches nur selten zurück. Eine Veranschaulichung an konkreten Beispielen aus Musik, Text, Kultur usf. täte der Abstraktheit der präsentierten Thesen sicherlich ein Stück weit Abbruch. Außerdem würden Rückgriffe der partiellen Bruckstückhaftigkeit der einzelnen Kapitel entgegenwirken können, was schon dadurch jedoch problematisch werden könnte, weil Morbach sein Vorhaben überaus induktiv konzipiert hat, ein methodologisches Faktum, was mir nicht unbedingt behagt. So zitiert der Autor gerne, oft und im Regelfall auch gleich lange Passagen. Eine nachträgliche (oder meinetwegen auch vorausgehende) Kommentierung des zitierten Materials findet aber ebenso regelmäßig nur selten statt. Das ist zum Einen ärgerlich, weil man sich vom Autor eines (musik-)wissenschaftlichen Buches etwas mehr Positionencharakterisierung, Abgrenzung, spezifische Bewertung, sprich: Deduktion wünscht und nicht eine Anhäufung von bereits Gesagtem. Auch ein historisch motiviertes Buch sollte doch daran interessiert sein, Kriterien an die Hand zu geben, nach denen Aussagen geordnet werden können und nicht selbige Aussagen bloß wiederholen. Zum zweiten sind nicht alle Zitate, gerade wenn sie einem Lebenshorizont entstammen, der dem des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht entspricht - etwa dem eines Iamblichos oder Augustinus -, ad hoc verständlich und bedürften erläuternder Maßnahmen eines Fachkenners, die hier aber nur grob stattfinden. Ein Zitat spricht selten für sich. Weiterhin muss man ja annehmen, dass ein Autor, der kommentarlos zitiert, die dargestellten Positionen entweder als repräsentativ für eine These (etwa über eine historische Auffassung von "Musik" o.Ä.) erachtet oder als solche bejaht. Zweiteres dürfte aber mindestens schwierig werden, wenn sich zwei Positionen (wenigstens in einem Zug) eklatant widersprechen. Im Rahmen der Diskussion um die Möglichkeit einer Vergegenwärtigung des Sujets "mittelalterliche Musik" (die Morbach fast völlig auf Zitatebene bestreitet) im zweiten Kapitel etwa stehen sich mit V. Mertens (S. 21) und M. Elste (S. 24) zwei wissenschaftliche Meinungen gegenüber, die aus der gleichen Prämisse (Mittelalterliches Musikverständnis braucht einen Kontext, den wir nicht mehr haben) unterschiedliche Konklusionen ziehen (Mertens: Kontext wiederherzustellen versuchen; Elste: Mittelalter Mittelalter sein lassen und den Anspruch auf historische Treue gar nicht erst intentional ins Auge fassen). Hier wäre etwas mehr Feinarbeit von einem andere Aussagen als Sprachrohr für die eigene Attitüde gebrauchenden Autor zu erwarten. Grundsätzlich wäre ein deduktiveres Vorgehen, wie bereits erwähnt, nicht nur in solchen Fragen sinnvoll, sondern würde auch den etwas spröden, geschichtstreuen Ablauf etwas auflockern (wobei die empfundene Spröde selbstverständlich mdst. z.T. auf meiner subjektiven Sachunkenntnis beruht). Unzweifelbar klar werden muss auch, dass ein völliges Verständnis der mittelalterlichen Musikwelt zusätzlicher Informationen bedürfte. Morbach selbst weist gelegentlich auf die Wichtigkeit tiefergehender Erörterungen aus der Mediävistik (s. z.B. Kap. 9 zum Minnesang) und anderen Bereichen hin und man kann ihm auch nur schwerlich zum Vorwurf machen, dass sein Bild mittelalterlichen Musikerlebens unvollständig bleiben muss, weil es andere kulturelle (höfische Literatur, Ependichtung, ...) oder auch religiös-politische Aspekte (Musik in der Bibel, Ordo-Legitimation feudaler Ordnungen, ...) auslässt oder nur anschneidet. Vielmehr sollte "Die Musikwelt des Mittelalters" sensibilisieren für einen Musikbereich, der nur darum fremd erscheint, weil die Brille, mit der er betrachtet wird, die falsche Stärke hat. Das ist gelungen, weiterführende Literatur ist aber zu empfehlen, einiges findet sich ja bereits in den Anmerkungen des Autors angeführt.
2. Die CD (ROM):
Eine feine Angelegenheit ist das beiliegende Digitaldokument geworden. Noten und Texte zu einigen im Buch besprochenen Stücken warten im Pdf-Format auf das Studium/den Selbstmusiziertest von Interessierten, was als Einstieg eine tolle Idee ist. Gleichfalls einverstanden erkläre ich mich mit der Maßnahme, 50 ebenfalls sämtlich im Buch besprochene Stücke, selten länger als anderthalb Minuten, digital erzeugt auf Tonträger (per CD-Player abspielbar) zu bannen. Als Ersatz für den Klang mittelalterlicher Instrumente kann zwar keine Computerdatei hinhalten, aber um Melodieverlauf und harmonische Struktur eines einfachen Minnesangs, eines monophonen Chorals oder eines avantgardistischen Chansons von hoher rhythmischer Komplexität zu betrachten oder um einfach einen Einblick in neue alte Musikwelten zu erlangen, ist diese CD gedacht und reicht aus, zumal Morbach das Gebotene kompetent kommentiert. Wer danach angebissen hat, sei auf die anfangs erwähnte Special-Tipps-Liste des Autors verwiesen oder schwinge das Gemächt ins nächste Fachgeschäft. Vorher kann "Die Musikwelt des Mittelalters", übrigens hübsch illustriert, unter ISBN 3-7618-1529-8 gegen eine Gebühr von 24,95 Euro geordert werden.

Bernhard Morbach: Die Musikwelt des Mittelalters. Kassel et al: Bärenreiter Verlag 2004. ISBN 3-7618-1529-8. 24,95 Euro



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