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Saverio Lamacchia: Der wahre Figaro oder das falsche Faktotum. Neubewertung des "Barbiere di Siviglia" von Rossini
von rls anno 2012

Saverio Lamacchia: Der wahre Figaro oder das falsche Faktotum. Neubewertung des

Manchmal schließt das Leben doch merkwürdige Kreise. Anno 2005 steht im Rahmen des alljährlichen Opernprojektes der Hochschule für Musik und Theater Leipzig "Il Barbiere di Siviglia" auf dem Spielplan, der Rezensent sieht eine der Vorstellungen und läßt sich in seiner Rezension unter anderem über den Umstand aus, daß der Friseur eigentlich gar nicht der Hauptheld des Stückes ist und der Originaltitel der Oper "Almaviva, o sia L'inutile Precauzione" ("Almaviva, oder Die unnütze Vorsicht") lautet, damit den Haupthelden, nämlich den Grafen Almaviva nennend. Im gleichen Jahr reicht Saverio Lamacchia seine Doktorarbeit an der Universität Bologna ein und behandelt darin ausführlich ebenjenen Themenkomplex, womit er bei der Deutschen Rossini Gesellschaft offene Türen einrennt, die das Werk in deutscher Übersetzung als Band 7 ihrer Schriftenreihe veröffentlicht. Und nach der Lektüre des Buches steht fest: Ohne daß einer vom anderen wußte, sind beide zu ähnlichen Ergebnissen gekommen - der Italiener logischerweise auf seinen 344 Seiten in viel größerer Detailfülle als der Rezensent in seiner kleinen Abhandlung, und zudem hat Lamacchia auch einen großen Stapel an Originalquellen neu oder erstmals ausgewertet und beleuchtet auch die Hintergründe der Entstehungszeit der Oper anno 1816 in Rom.
Und diese Hintergründe geben dann auch Auskunft darüber, wieso die Oper eigentlich einen anderen Titel hatte: Manuel García, der Sänger des Almaviva, war der Star der Theatertruppe, für die die Oper original bestimmt gewesen war, und er sollte titel- wie auch handlungsseitig im Mittelpunkt stehen. Bekanntlich ist der Friseur eigentlich nur eine hilflose Nebenfigur - es siegt der Graf mit der Macht seines Geldes quasi im Alleingang, auch wenn ihm der Friseur mit gut gemeinten, aber verpuffenden Ratschlägen zu helfen versucht. Letztlich setzte sich allerdings doch der heute geläufige Titel mit der Nennung des Friseurs durch - ähnlicher Stoff war ja beispielsweise schon von Mozart vertont worden, und Lamacchia arbeitet zudem den großen Vorbildcharakter des Schauspiels "Le Barbier de Séville" von Beaumarchais heraus und vergleicht im zentralen Kapitel 3 des Buches dieses Schauspiel und weitere potentielle oder reale Quellen für Rossini und seinen Librettisten Cesare Sterbini mit deren endgültiger Fassung. Die beiden Einleitungskapitel befassen sich sehr kenntnisreich mit dem Opernbetrieb im Italien des frühen 19. Jahrhunderts und speziell der Karnevalssaison 1815/1816 in Rom (ein ultrahartes Geschäft mit schon nach heutigen Maßstäben kaum schaffbaren Zeitplänen - und damals konnte man noch keine Noten im Computerprogramm mit zwei Mausklicks um einen Halbton transponieren!), mit der Entwicklung der Tenorrolle im 18. und 19. Jahrhundert sowie mit dem Leben und Wirken Manuel Garcías, des erwähnten ersten Darstellers und Sängers des Grafen Almaviva. Diese ersten drei Kapitel lesen sich enorm flüssig und angenehm, auch wenn man nur Grundkenntnisse über diese Oper und ihr originales Umfeld hat - für das Verständnis des vierten Kapitels, das mit zahlreichen Notenbeispielen bestimmte Aspekte der Figuren und ihrer Vorbilder näher beleuchtet, sind detailliertere Kenntnisse oder eine entsprechende Tonkonserve in greifbarer Nähe dann aber doch nützlich. Der Epilog schließlich geht nochmals detailliert auf die Figur des Figaro und dessen Entwicklung und Deutung ein, bevor ein umfangreicher Anhangs- und Registerapparat die wissenschaftliche Nutzbarkeit sicherstellt (Lamacchia hat durchaus auch nicht mit Fußnoten gespart). Aber trotz dieses wissenschaftlichen Charakters, der ja auch das Grundziel der Arbeit bildete, liest sich das Buch für den interessierten Opernfreund oder auch für denjenigen, der detaillierte Einblicke in die Kulturgeschichte Italiens des 18. und 19. Jahrhunderts anhand eines praktischen Beispiels haben möchte, äußerst interessant, wozu auch die sehr lebendige Übersetzung von Marcus Köhler ihren Beitrag leistet (der Rezensent kennt das italienische Original nicht und könnte mangels Sprachkenntnissen dessen Semantik auch gar nicht bewerten, aber die deutsche Übersetzung ist für sich betrachtet klasse). Im Ergebnis treffen sich der Autor und der Rezensent dann wieder: Der Friseur macht überwiegend eine unglückliche Figur. Daß sich das Kulturradio des MDR ausgerechnet nach dieser benannt hat, ist ein Treppenwitz der Geschichte ...

Saverio Lamacchia: Der wahre Figaro oder das falsche Faktotum. Neubewertung des "Barbiere di Siviglia" von Rossini. Schriftenreihe der Deutschen Rossini Gesellschaft, Band 7. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009. 344 Seiten, 15 Euro. ISBN 978-3-86583-395-2
 






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