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Christian Hentschel, Peter Matzke: Als ich fortging ... Das große DDR-Rock-Buch
von tk anno 2008

Christian Hentschel, Peter Matzke: Als ich fortging ... Das große DDR-Rock-Buch

Was für eine Papierhantel! Nur unwesentlich leichter als ein Brockhaus-Band präsentiert sich dieses überaus interessante Nachschlagewerk der beiden Musikjournalisten und Redakteure Christian Hentschel und Peter Matzke.
Der Buchtitel führt zunächst einmal zu Irritationen. Denn viele Bürger und Musiker der DDR konnten oder wollten gar nicht fortgehen. Der Titel "Als ich fortging ..." geht auf den gleichnamigen Song der Leipziger Band KARUSSELL zurück, die damit die "liedhafte Rockmusik" als ein Selbstverständnis vieler Künstler der DDR beschrieben. In frommen West-Kreisen fiel vor allem der Liedermacher Gerhard Schöne mit seinem nachdenklich stimmenden und eher ruhigen Liedgut auf. Selbiger war regelmäßig in Plattenkatalogen von Abakus und Arno's Bauchladen zu finden. Bands wie SILLY, die PUHDYS und natürlich KARAT waren selbstverständlich auch im Westteil Deutschlands bekannt und geschätzt. Hentschel und Matzke reiten allerdings nicht auf einer verträumten Ostalgie-Welle, sondern gehen kritisch mit dem Agitations- und Repressionsapparat des politischen Systems ins Gericht:
Die einschlägigen Organe entwickelten eine beachtliche Phantasie, wenn es galt, unliebsamen Rockern administrative Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Beliebtester Vorwand, eine Band (...) zu verhindern, war, sie oder ihr Auftreten für alles verantwortlich zu machen, was das Publikum vor, während und nach der Show so anstellte (S. 51).
Auch "das schönste Gesicht des Sozialismus" bekommt sein Fett weg:
Riesenschaffe im Frühsommer 1988 an der Radrennbahn Berlin-Weißensee (...) Neben Rockhaus (ausgebuht) und City (...) kommt Bryan Adams, der gerade auf dem Weg zum Weltruhm ist. Er wiederum wird angesagt von Katarina Witt. (…) Die Vorzeige-Eisprinzessin (...) jauchzt ins Mikro (...) O-Ton: "Ich habe diesen netten, jungen Kanadier bei den Olympischen Winterspielen in Calgary kennengelernt und ..." - der Rest geht in einem gellenden Pfeifkonzert unter (S. 155).
Die Verquickung von Rockmusik und den Repressalien durch die Staatsführung ist allgegenwärtig. Bei manchen Schauergeschichten bleibt einem buchstäblich die Spucke im Hals kleben. Michael Rauhut hat in seinem Buch "Schalmei und Lederjacke" die Brisanz eindrücklich aufgegriffen und dargelegt.
Besonderes Augenmerk gilt aus Rezensenten-Perspektive natürlich dem Ostmetal und damit Bands wie den KLOSTERBRÜDERn (was für ein Name für Heavyrock-Band!) und den Berliner Combos FORMEL I und BLACKOUT. Dass viele Gruppen zunächst einmal Image und Outfit der großen internationalen Stars kopierten, erscheint dabei als ein ganz gewöhnlicher Vorgang, denn anders war es im Westen auch nicht. Der Identifikationsgrad vieler Fans mit ihren Lieblingsbands war ebenso groß wie hierzulande, auch wenn der 80er Ostmetal eher ein Mauerblümchen-Dasein fristete. Gut ausgestattete Tonstudios wie auch Equipment waren kaum erschwinglich. Hentschel und Matzke bemühen sich in ihrer Darstellung um ein möglichst faktennahes und musikhistorisch genaues Bild und verweisen analog sowohl auf die Entwicklung der Rockmusik im Westen als auch auf die in den sozialistisch geprägten Nachbarstaaten Ost- und Südosteuropas. Die Bezeichnung "Bands aus den Bruderstaaten" wirkt dabei aus heutiger Perspektive schon etwas nostalgieverliebt. Dass in der Fakten- und Datensammlung der beiden Autoren ein gewichtiger autobiografischer Anteil enthalten ist, versteht sich quasi von selbst, sind beide mit vielen hier verhandelten Bands und Gruppen groß geworden.
Im Anhang finden sich neben den DDR-Hitparaden-Platzierungen der Jahre 1975-1990 auch chronologisch aufgelistet sämtliche Produktionen der nationalen Plattenfirma Amiga. Ein ausführliches Namensregister gehört selbstredend dazu. Die reichhaltige Bebilderung, bestehend aus Plattencovern, Live- und Pressefotos trägt zu einem entspannten Lesevergnügen bei. Über so manche Frisur und manches schrille Outfit der Siebziger und Achtziger Jahre mag man heute schmunzeln. Kultig waren und sind sie allemal. Interpretennamen sind bewusst in Fettdruck gesetzt, so fällt es nicht ganz so schwer, sich durch das Namensdickicht aus Interpreten, Bands und Ensembles zu kämpfen. Hat man sich erstmal in die detailreichen Geschichten, Anekdoten und Fakten, die die beiden Autoren in mühsamer Kleinarbeit zusammengetragen haben, hinein gelesen, wird man als Alt-Bundi hungrig, nach so mancher Ostrock-Veröffentlichung zu grasen, die man aus verständlichen Gründen verpasst hat. So eine Platte von PRINZIP macht sich doch gut zwischen SEMAJA- und SCORPIONS-Vinyl.

Christian Hentschel, Peter Matzke: Als ich fortging ... Das große DDR-Rock-Buch. Berlin: Verlag Neues Leben 2007. ISBN 978-3-355-01733-6, 320 S., geb., mit 400 Abbildungen, teilweise vierfarbig, 24,90 Euro
 




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