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Karl-Heinz Göttert / Eckhard Isenberg: Orgeln! Orgeln!
von rls anno 2004

Karl-Heinz Göttert / Eckhard Isenberg: Orgeln! Orgeln!

Deutschland - Europa - Welt. Eigentlich eine logische Exzelsior-Entwicklung, welche das bewährte Autorenteam Germanistiker Göttert plus Kantor Isenberg in seinen drei Orgelreiseführern vollzogen hat und die Mitte 2002, als ich in meiner Rezension des Europa-Buches die Behandlung der anderen Kontinente anregte, schon längst festgestanden haben dürfte. "Konzepte, Kuriositäten, Kontinente" heißt der Untertitel dieses neuen Buches, beschreibt zumindest im regionalen Aspekt den Inhalt aber ungenügend, denn die vier Hauptabschnitte des Buches gliedern sich in USA, Europa, Deutschland und Asien/Australien. Soll heißen: Der nicht-US-amerikanische Teil des Doppelkontinents bleibt ebenso außen vor wie Afrika (wo ja zumindest in Südafrika auch das eine oder andere interessante Instrument steht). Hätte man das Konzept entsprechend erweitert und zugleich das Format des Buches auf das des Europa-Bandes gebracht, wäre mit den drei Bänden ein natürlich nicht durch Vollständigkeit, wohl aber durch Komplettheit (der Leser achte auf den feinen Bedeutungsunterschied) glänzendes Gesamtopus entstanden. So fällt der dritte Band aber doch ein wenig aus der Reihe, nicht nur durch seine geringere Größe und Umfänglichkeit, sondern auch in der Bebilderung, in der sich der Farbfototeil diesmal auf einen Sonderbogen zurückzieht und ansonsten nur schwarz-weiße Bilder prangen (in der vom Vorgänger bereits bekannten, mitunter schwankungsanfälligen Reproqualität).
Aber das hier ist ja kein Bildband; was also fahren die Autoren inhaltlich auf? In der bekannten gleichermaßen informativen wie flüssigen und unterhaltsamen Schreibstilistik widmen sie sich ganz besonderen Orgeln in den genannten Regionen. Da gibt es in den USA beispielsweise die Freiluftorgel in San Diego im Balboa Park, welche so klangstark disponiert wurde, daß man sie drei Meilen weit hören kann. Im Kaufhaus Lord&Taylor in Philadelphia steht die größte Orgel der Welt (wenn man von den Registerzahlen ausgeht: 357 Register zählt dieses Monster - zum Vergleich: die Silbermann-Orgel im Freiberger Dom hat 44!), in der Convention Hall in Atlantic City eine mit sieben Manualen, für deren gleichzeitige Bedienung man einen Kraken als Organisten benötigen würde. Die Europäer hatten es da nicht ganz so mit der Größe, aber sie überzeugten durch Einfälle größter Kunstfeinsinnigkeit: In der Kathedrale von Oliwa bei Gdansk in Polen steht eine Orgel, die zwar nach ihrer Fertigstellung 1793 auch mal ein halbes Jahrhundert lang die größte der Welt war, aber ihren Reiz speziell dadurch bezieht, daß am Prospekt Figuren angebracht sind, die sich zur Musik bewegen (manche Putten setzen also ihre Fanfaren an, andere beginnen mit Glöckchen zu bimmeln usw.). Völlig unglaublich dagegen der Nachbau einer Orgel, die nur anhand eines Gemäldes von Jan van Eyck aus dem 15. Jahrhundert auf einer Genter Altartafel überliefert ist - auf solche Ideen können wirklich fast nur die Deutschen kommen. Die wußten sich auch in anderen Dingen zu helfen: Als für die Open air-Konzerte des Thüringer Orgelsommers eine Orgel gebraucht wurde, baute man kurzerhand eine komplette solche auf einen LKW. Daß die erste Orgel mit Porzellanpfeifen aus Sachsen kommen mußte, war angesichts der Meißener Porzellantradition und des gleichermaßen traditionsreichen sächsischen Orgelbaus klar. Das völlig verrückte Projekt, das John Cage-Werk "Organ 2/ASLSP" in einem Zeitraum von 639 Jahren an einer extra dafür erbauten Orgel in Halberstadt aufzuführen, hätte man dagegen eher im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" verortet, wenn, ja wenn man dort derart jahrhundertbezogene Denkweisen schon so verinnerlicht hätte wie im "alten Europa". Auch ein gerne totgeschwiegenes Kapitel deutscher Orgelbaugeschichte sparen die Autoren nicht aus: Zahlreiche NSDAP-Parteigrößen waren Orgelfreunde und lösten in ihrer Herrschaftszeit viele Bauaufträge aus, vom Kleininstrument in ländlichen HJ-Heimen bis zur Großorgel der Kongreßhalle auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Die Reise um die Welt endet auf den Philippinen (mit einer Orgel mit Bambuspfeifen), in Japan (mit einer kompletten tabellarischen Auflistung der Orgelbauten in Tokio, die immerhin mehr als vier Seiten füllt) und letztlich in Australien, wo in der Town Hall in Sydney das am organischsten ins Gesamtklangbild eingefügte 64-Fuß-Register der Welt steht (dessen tiefste Pfeife ist ausgerollt ungefähr 20 Meter lang). Auf ausführliche Dispositionsangaben haben die Autoren diesmal aber verzichtet (was bei den US-Orgeln allein schon mehrere Seiten umfaßt hätte). Dafür gibt's zumindest teilweise auch wieder strukturelle Angaben und Kontaktmöglichkeiten, so daß sich der interessierte Kulturtourist bei passender Gelegenheit selbst ein Bild machen kann.

Karl-Heinz Göttert / Eckhard Isenberg: Orgeln! Orgeln! Konzepte, Kuriositäten, Kontinente. Kassel et al: Bärenreiter 2002. ISBN 3-7618-1566-2. 180 Seiten. 20,95 Euro



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