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Karl-Heinz Göttert, Eckhard Isenberg: Orgelführer Europa
von rls anno 2002
Nach dem Muster des „Orgelführer
Deutschland“, erschienen 1998, jedoch bisher nicht in meinen Bücherschrank
vorgedrungen, folgt nun der neue buchtechnische Streich des Autorenduos
Karl-Heinz Göttert (Germanistikprofessor sowie ehrenamtlicher Organist
und Chorleiter) & Eckhard Isenberg (hauptamtlicher Kantor, A-Kirchenmusiker),
dessen inhaltliche Vorgehensweise sich nach Aussage der Autoren nicht vom
„Orgelführer Deutschland“ unterscheidet und im Kapitel „Vorbemerkung“
so trefflich beschrieben ist, daß ich mir das Finden eigener Worte
sparen und die betreffende Passage einfach zitieren kann: „Die Anlage ist
Reiseführern entlehnt. Wir gehen die Regionen durch und stellen bedeutende
Zeugnisse der Orgelbaukunst vor, ohne letzte Prinzipien wie ‚Schönheit‘
oder bestimmte Stile wie ‚Barock‘ oder ‚Romantik‘ zu bevorzugen. Allerdings
haben wir uns bemüht, bei der Auswahl den Landestypus hervortreten
zu lassen: die ‚französische‘ Orgel neben der ‚italienischen‘ oder
‚niederländischen‘. Gewiss ist das Interessanteste und letztlich einzig
Greifbare an einem Instrument seine klangliche Individualität. Aber
es reizt, Einzelnes in Zusammenhänge zu stellen, Vielfalt auf Muster
hin zu durchschauen. Die Orgel bestätigt dabei etwas, was uns auf
anderen Gebieten ebenfalls vertraut ist: Europa besteht aus Regionen (früher
hätte man gesagt: aus Vaterländern) mit eigener Kontur, mit eigenem
Charme.“ In acht Regionen haben die Autoren Europa untergliedert und stellen
insgesamt 82 Instrumente ausführlich vor. Daß Osteuropa fast
völlig außen vor bleibt (Kapitel 3 mit „Lettland, Polen, Tschechien“
wagt sich am weitesten in diese Himmelsrichtung vor, Finnland mal außer
acht gelassen, das die Akerman & Lund-Orgel in der Kallio-Kirche Helsinki
zum „Skandinavien“-Kapitel beisteuern darf), stellt in diesem Falle mal
kein Politikum dar, sondern ist der Tatsache geschuldet, daß die
orthodoxen Kirchen in ihrer Kirchenmusiktradition die „Königin der
Instrumente“ lange Zeit mit Nichtachtung bedachten.
Die Spanne der behandelten
Instrumente reicht vom einmanualigen 8-Register-Winzling in der Valeria-Burgkirche
zu Sitten/Sion in der Schweiz (1435 von einem unbekannten Meister errichtet)
bis zum 1926 erbauten monströsen Instrument in der Anglican Cathedral
zu Liverpool, dessen 146 Register auf fünf Manuale plus Pedal verteilt
sind und mit dem „Resultant Bass“ im Pedal ein 64‘-Register beinhalten,
dessen tiefste Töne schon fast außerhalb des Hörspektrums
des Menschen liegen. Jedes Instrument wird zunächst mit einigen statistischen
Daten vorgestellt, bevor die eigentliche Geschichte beginnt, wo dann Götterts
Erfahrung als Germanistikprofessor und Rhetoriker deutlich hervortritt,
da es sich hierbei nicht um eine trockene Aufzählung von Registern,
Klangvarianten und Reparaturdetails handelt, sondern um angenehm zu lesende
und meist in für das Sujet „Ernste Musik“ recht lockerem Tonfall gehaltene
short stories, in denen natürlich trotzdem alles fachlich Wissenswerte
zu finden ist und denen größtenteils farbige Abbildungen (in
leider wechselvoller Aufnahme- und/oder Reproqualität) zur Illustration
des Geschriebenen beigegeben wurden, die man auch zuordnen kann, wenn man
sich einmal an das eigenartige System der Bildlegenden gewöhnt hat
(diese tauchen bei bestimmten Konstellationen beispielsweise in der Kolumnenzeile
auf).
Generell erweisen sich die
Autoren als Anhänger der orgelbaulichen bzw. restauratorischen Bewegung,
die dem originalen Klang- und Optikbild möglichst nahe kommen möchte,
beziehen in Einzelfällen aber durchaus divergente Positionen, wenn
es um Instrumente geht, bei denen man vor der Frage steht, welches Klangbild
von den in der Vergangenheit im Einsatz gewesenen denn nun das erhaltungs-
bzw. wiederherstellungswürdigste sei. An unterschwelliger Kritik (manchmal
gar offener) sparen Göttert und Isenberg dabei ebensowenig wie mit
Lob für ihrer Meinung nach wirklich gelungene Exempel der Erhaltung
oder auch des Orgelneubaus (man straft neue Instrumente ja nicht selten
mit dem Stigma eben ihres geringen Alters gemäß dem Motto „Früher
war alles besser“ – nichts falscher als das!), sprengen aber nie den in
ihrer Vorbemerkung genannten Rahmen und polemisieren nicht wild in der
Gegend herum. Für die Organologen gibt’s als Anhang schließlich
die kompletten Dispositionen der ausführlich behandelten Instrumente
(im Text werden natürlich noch eine Reihe weiterer genannt, aber das
hätte den Rahmen endgültig gesprengt, wenn man deren Dispositionen
auch noch hätte mit unterbringen wollen).
Reizvoll wäre die Idee
gewesen, dem Buch noch eine CD mit Aufnahmen an natürlich nicht allen
82, aber doch etlichen ausgewählten Instrumenten beizufügen,
damit der Leser auch einen akustischen Voreindruck gewinnen und sein nächstes
Kulturreiseprogramm noch etwas genauer vorplanen kann. Letzteres Ziel ist
aber auch mit dem Führer in seiner vorliegenden Form erreichbar, der
selbstverständlich nur eine subjektive Auswahl an Instrumenten beinhalten
kann und in dem somit jeder Leser irgendeine Orgel vermissen wird – dafür
entdeckt er aber, wenn er nicht gerade selbst vielbeschäftigter Konzertorganist
sein sollte, unter Garantie noch etliche interessante Instrumente, die
er bisher nicht kannte. Und damit erfüllt das Buch seinen Zweck. Bleibt
zu hoffen, daß in zukünftigen Buchprojekten auch noch die anderen
Kontinente Beachtung finden. Zumindest in Amerika stehen ja etliche interessante
Instrumente, wenn auch nicht mit dem weit zurückreichenden historischen
Background wie in Europa – als die erwähnte Orgel in Sitten/Sion gebaut
wurde, war Kolumbus noch nicht mal geboren.
Karl-Heinz Göttert,
Eckhard Isenberg: Orgelführer Europa. Kassel et al: Bärenreiter 2000. 280 Seiten. ISBN 3-7618-1475-5. 24,90 Euro
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