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Wolfgang Fuhrmann: Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter
von ta anno 2005

Wolfgang Fuhrmann: Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter

Es existiert ja auf relativ breiter Ebene das Vorurteil, dass Musizieren bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein eine ritualisierte Formel für gefühlsneutrale Gedankenäußerung darstellte. Mönchsgesänge seien betont anti-emotional ausgerichtet, weil Gebet, noch Bach sei ja nicht eigentlich Musiker, sondern Mathematiker und überhaupt gehe es doch im Mittelalter eher um den Text und nicht das Medium, in dem er vermittelt wird. Ästhetiken, die darauf ausgerichtet sind, Musizieren als einen Prozess zu beschreiben, in dem ein nicht in Worten vermittelbarer Inhalt per Gefühl, Affekt oder "Herz" aus einem oder in einen Menschen getragen werden soll, seien eine Erfindung erst empfindsamer Tendenzen im achtzehnten Jahrhundert. Nun, nicht nur einfach lesenswert, weil spannend, sondern wissenschaftlich fundiert und genau, mit scharfem analytischen Blick und völlig seriös streift Wolfgang Fuhrmann durch die Musikwelt des Mittelalters, um das, was man als mittelalterliche Ästhetik bezeichnen könnte (falls es überhaupt angebracht wäre, diesen Begriff auf eine Zeit von mehreren Hundert Jahren vor seiner Einführung in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch anzuwenden) aus dem Quellenbefund zu extrahieren. Das Ergebnis seiner Untersuchung ist zuerst ein negatives: Die oben angedeutete Musikauffassung hat im Mittelalter niemals existiert. Ganz im Gegenteil muss die mittelalterliche Ästhetik als direkter Vorlauf zu der empfindsamen Musikästhetik des achtzehnten Jahrhunderts begriffen werden. Das positive Ergebnis der vorliegenden Untersuchung hingegen ist ein Überblick über die verschiedenen mittelalterlichen Texte zu Sinn und Wirkweise von Musik bzw. besteht in der Interpretationen eben dieser Texte. Damit gewinnt Fuhrmanns Buch eine klar historische, nicht sachlich-systematische Orientierung. "Herz und Stimme" ist eine Quellenaufarbeitung. Parallel setzt sich Fuhrmann mit einer Vielzahl wissenschaftlicher Meinungen auseinander (die Bibliographie umfasst immerhin stolze 41 Seiten), was sein Buch zu einem wirklich guten Einstieg in die Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Musikauffassung macht - und auch zu einem besseren als etwa Bernhard Morbachs ein Jahr früher erschienene "Musikwelt des Mittelalters". Denn wie einige Musikwissenschaftler fällt Morbach dem Irrtum zum Opfer, dass der lateinische Terminus musica und der moderne Begriff "Musik" verrechenbar seien um dann zu dem Ergebnis zu kommen, dass Musik im Mittelalter eine kurios allumfassend-metaphysisch-kosmische Angelegenheit sei. Fuhrmanns erster Schritt ist folgerichtig die Eliminierung des Verwirrung stiftenden Vorurteils, musica dürfe mit "Musik" [cantus] übersetzt werden. Stattdessen untersucht Fuhrmann den Quellenbestand auf Äußerungen zum cantus und trifft dabei auf musiktheoretische Erörterungen, die sich teilweise so sehr ähneln, dass der Erkenntnisgewinn gegen Ende des Buches ein ganzes Stück weit abnimmt. Aber das ist auch nicht weiter schlimm. Fuhrmann fragt bei Boethius, Johannes Cassian, Augustinus, Gregor von Nyssa und vielen Anderen an und er erhält Antwort. Der Grundzug aller im Mittelalter musiktheoretisch versierten Agenten ist gleichzeitig christlich und affektologisch (wenn man das so sagen darf): "Gott soll in [...] Innerlichkeit angebetet werden, und das einzige musikalische Medium, durch das diese innere Anbetung sich äußern, nach außen dringen kann, ist die Stimme. Da ist der Sinn des Topos, Gott sei mit Herz und Stimme, corde et voce, zu verehren." (S. 49) Im Prinzip kann Fuhrmanns Unternehmen als historisch orientierte Deutung dieser seiner eigenen Textpassage verstanden werden. Denn es besteht darin, zu klären, was im Mittelalter als Innerlichkeit, Herz, musikalische Verehrung, ihre Möglichkeiten und Grenzen aufgefasst wurde. Dafür beginnt Fuhrmann in der griechischen Antike (nämlich um eine knappe, aber sehr klare Abgrenzung zwischen griechischem und jüdischem Menschenbild bzw. Bild von der Stellung des "Herzens" im Menschen) und endet tatsächlich dreihundert Seiten später im achtzehnten Jahrhundert (allerdings unter Auslassung der zweihundert Jahre vor 1700). Alles, was dazwischen geschieht, ist präzise und dicht, manchmal zu dicht, und sehr themenorientiert, d.h. Fuhrmann verzichtet weitestgehend auf das Abgrasen anderer am Thema hängender Wissenschaftsproblemsteckenpferde (die klassischen Epochenabgrenzungsprobleme werden etwa in wenigen Zeilen abgehandelt (S. 17)). Das macht das Folgen vergleichsweise einfach, zumal einzelne Kapitel wie "Die beiden Abgründe des Augustinus" (4) oder "Die hochmittelalteriche Wende" (6, bes. 6.1.) beinahe als Gutenachtlektüre taugen würden, wenn sie nicht in so nüchternem Stil geschrieben wären. Griechische und lateinische Textpassagen wurden dankenswerterweise übersetzt, seine Französischkenntnisse muss der Leser selbst bemühen (was selten erfordert wird). Fuhrmanns Werk ist sicherlich kein Neustart auf die Betrachtung mittelalterlicher Musiktheorie, aber eine gute Bündelung von Themensträngen, die einen Topos aufweisen: Die Verästelung von Herz als Repräsentanten subjektiven Empfindens und Stimme als Veräußerungsmöglichkeit dieses Empfindens jenseits von bloßer Wortbedeutung. Fuhrmann arbeitet klar, kohärent und reflektiert (mit Ausnahme einiger Leerstellen; woher etwa kommt das Recht zur Nominaldefinition von "Frömmigkeit" im doch historischen Kontext (S. 50)?), sein Buch ist daher verständlich, sinnvoll und vertrauenswürdig. "Herz und Stimme" werden für 29,95 Silbermünzen unter der Codierung 3-7618-1362-7 bei Bärenreiter feilgeboten. Wer sich auch nur einigermaßen am Mittelalter und seinen musiktheoretischen Säulen abarbeitet, kommt hier nicht drumherum.

Wolfgang Fuhrmann: Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter. Kassel et al: Bärenreiter 2004. ISBN 3-7618-1362-7. 29,95 Euro






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