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Martin Breutigam: Genies in Schwarzweiß - Die Schachweltmeister im Porträt
von rls anno 2016

Martin Breutigam: Genies in Schwarzweiß - Die Schachweltmeister im Porträt

Die Frage, wer denn nun der weltbeste Schachspieler sei, hat schon jahrhundertelang die Anhänger des königlichen Spiels umgetrieben, aber die logistischen Möglichkeiten erlaubten erst im 19. Jahrhundert das Austragen von Wettkämpfen und Turnieren im größeren Stil und mit überregionaler Ausstrahlung bzw. Bedeutung. Das große Turnier von London 1851 markierte diesbezüglich eine Art Startpunkt und wurde überraschend nicht von einem der Favoriten wie etwa dem Briten Howard Staunton, sondern von dem Deutschen Adolf Anderssen gewonnen. Trotzdem dauerte es noch ein reichliches Vierteljahrhundert, bis Wilhelm Steinitz und Johannes Hermann Zukertort den ersten offiziellen Weltmeisterschaftskampf austrugen, den Steinitz gewann und damit seinen selbsternannten Ruf als inoffizieller Weltmeister, den er seit einem Wettkampfsieg 1866 gegen Anderssen pflegte, auf eine gerechtfertigte Basis stellte. Freilich blieb auch in den Folgejahrzehnten die Ermittlung des Weltmeisters ein eher unstrukturiertes und nicht selten von puren pekuniären Faktoren diktiertes Szenario, wenngleich sicherlich niemand das schachliche Genie von Emanuel Lasker, José Raoul Capablanca, Alexander Aljechin und Max Euwe, die Steinitz in der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg "beerbten", in Zweifel ziehen will.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam Struktur ins Geschehen. Der Weltschachverband FIDE sah sich veranlaßt, nach Aljechins Tod 1946 (er hatte 1937 den zwei Jahre zuvor an Euwe verlorenen Titel zurückerobert) einen Modus für zukünftige Weltmeisterschaftswettkämpfe zu entwickeln, und nachdem die Sowjetunion mit ihrem riesigen Potential von Weltklassespielern Verbandsmitglied geworden war, hatte er auch die nötige Autorität dazu, nachdem Jefim Bogoljubows "Amateurweltmeistertitel", den die ganz junge FIDE anderthalb Jahrzehnte zuvor hatte ausspielen lassen, in der Schachwelt eher wenig Bedeutung beigemessen worden war. Freilich machten dann ab 1948 die sowjetischen Spieler fast ein halbes Jahrhundert die Titelträger quasi unter sich aus, und nur dem Amerikaner Robert James "Bobby" Fischer gelang es 1972, sich in die Folge aus Michail Botwinnik, Wassili Smyslow, Michail Tal, Tigran Petrosjan und Boris Spasski durch einen Sieg gegen den Letztgenannten hineinzudrängen - er trat 1975 zur Titelverteidigung gegen Anatoli Karpow aber nicht an, bekam den Titel aberkannt, und die sowjetische Serie ging weiter. Vielen Schachfreunden wird der Mammutkampf zwischen Karpow und Garri Kasparow anno 1984 noch in Erinnerung sein, der nach 48 Partien und beispiellosen Remisserien abgebrochen und als auf 24 Partien begrenzter Kampf neu angesetzt wurde (die Junge Welt brachte seinerzeit eine Karikatur, die Karpow und Kasparow als steinalte bärtige Männer zeigte und eine Unterhaltung im Publikum wiedergab: "Ob es wieder nur ein Remis gibt?"). Kasparow gewann die Neuauflage und blieb bis 1993 Champion, als er sich im Streit von der FIDE trennte und einen eigenen Verband gründete, der natürlich auch eigene Weltmeisterschaften ausrichtete. Erst 2006 gelang es, beide Systeme wieder zu vereinigen, und in jüngster Vergangenheit sind zwei weitere Nationen zu Weltmeisterehren gelangt: Indien mit Viswanathan Anand und aktuell Norwegen mit Magnus Carlsen, der justament zu der Zeit, da dieses Review erscheint, seinen Titel gegen den russischen Herausforderer Sergej Karjakin zu verteidigen hat.
Diese Geschichte (oder zumindest Teile von ihr) ist Thema des neuesten Buches von Martin Breutigam, dessen Vorgängerwerk "Himmlische Züge" auf diesen Seiten gleichfalls rezensiert ist. "Genies in Schwarzweiß" ist als Folge von Einzelbiographien derjenigen Menschen angelegt, die in den vergangenen knapp anderthalb Jahrhunderten den Schachweltmeistertitel trugen, ergo nicht streng chronologisch, da auch das Spätschaffen der entthronten Weltmeister in ihren jeweiligen Kapiteln behandelt wird und der Entthronungstitelkampf im Regelfall im Kapitel des Siegers, nicht dem des Verlierers genauer beleuchtet wird. Das hat den Vorteil, daß man bei kapitelweiser Lektüre kompakte Überblicke über die einzelnen Menschen geboten bekommt, aber den Nachteil, daß man sich bestimmte Aspekte aus anderen Kapiteln "dazuholen" muß und das Buch somit auch keine Sachchronik der Weltmeisterschaftskampfgeschichte darstellt (was es, wie spätestens der Untertitel verrät, auch nicht sein will). Dafür überzeugt Breutigam mit historischem Fachwissen und zumeist logischer Argumentation, auch wenn ebenjene in drei Fällen dann doch auf der Strecke bleibt. Zum ersten werden die frühen "Amateurweltmeisterschaften" nur am Rande erwähnt, und zum zweiten fehlen aus der Spaltungsperiode 1993-2006 die FIDE-Weltmeister völlig (es sei denn, sie gewannen auch noch einen Titel nach der Wiedervereinigung, was Viswanathan Anand gelang). Zwar lautet die Begründung, der seltsame und diversen Wandlungen unterworfene Modus, nach denen die FIDE während der Spaltungsperiode ihre Weltmeister bestimmte, sei für die Nichtbehandlung ausschlaggebend, aber der PCA-Modus während dieser Zeit war bisweilen nicht weniger merkwürdig, und auch die Kämpfe der Frühzeit, in denen sich der Weltmeister seine Herausforderer praktisch nach pekuniären Aspekten heraussuchte, sind ganz selbstverständlich im Buch in den entsprechenden Kapiteln vertreten. Das Buch um einen kleinen Chronikteil mit den Paarungen und Endresultaten aller WM-Kämpfe (gleich welchen Kontextes) zu erweitern hätte diese beiden Probleme zwar nicht gelöst (aufgrund der Umstände sind sie auch praktisch unlösbar), aber zumindest umgangen.
Das dritte Problem weitet sich zu einem ganzen Problemkomplex aus. Seit 1927 gibt es getrennt von den Männer- auch Frauenweltmeisterschaften. Anstatt auch hier wenigstens eine kleine, über die simple Namensübersicht auf S. 54 hinausgehende Chronik der Wettkämpfe zu geben (die übrigens aktuell nach einem skurrilen Modus ausgetragen werden, wonach im Wechsel Wettkampf- und K.o.-Turniere durchgeführt werden, wobei auch die Weltmeisterin schon in frühen K.o.-Runden antreten muß und daher in viel größerer Verlustgefahr steht als im Wettkampfmodus gegen eine qualifizierte Herausforderin), verbrät Breutigam das Gros dieses Kapitels mit der Fragestellung, warum es überhaupt gesonderte Frauenturniere gibt, wobei die nur bedingte Sinnhaftigkeit dieser Überlegungen (die keineswegs nur von ihm selber angestellt werden - er gibt Meinungen aus der halben Schachwelt wieder) konterkariert werden, indem zwei entscheidende Faktoren gar nicht oder nur in einem Nebensatz angeführt werden: der sozialpolitische (man erinnere sich, daß etwa die letzten Kantone der Schweiz erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts das Frauenwahlrecht einführten, und man überlege vor dem Hintergrund der Stellung der Frau im Sozialismus mal, warum die sowjetische Dominanz im Frauenschach noch viel deutlicher ausgeprägt war als bei den Männern) und der biologische (schachspielende Männer müssen weder mit Schwangerschaften noch - im Regelfall - mit Pausen wegen Babybetreuung klarkommen). Die neurophysiologischen wie -psychologischen Erörterungen müssen zwangsweise vage bleiben, die Genderforschung hilft nicht weiter, solange sie die beiden genannten Aspekte nicht wahrnimmt oder nicht wahrnehmen will, und so bleibt dieses ganze Kapitel eher schwammig, wenngleich sich auch hier diverse interessante Fakten und Aspekte zum Weiterdenken finden.
Natürlich ist Breutigam nicht der erste Autor, der auf die Idee kommt, ein Buch in der beschriebenen Art aufzubauen - mancher Leser könnte etwa Garri Kasparows Abhandlung über seine berühmten Vorgänger oder auch Rolf Volands "Schach - ernst und heiter" im Schrank stehen haben, wobei ersteres naturgemäß stark aus der persönlichen Sicht des langjährigen Titelträgers geschrieben ist und zweiteres, in der DDR publiziert, mancherlei politische Vorgänge entweder ganz ausspart oder auf sozialistische Art und Weise interpretiert, auch wenn sich der Autor um Sachlichkeit und Differenzierung bemüht (in frühen Auflagen so sehr, daß er offenbar Ärger bekam und spätere Auflagen bestimmte Wertungen in anderer Weise bzw. Gewichtung enthalten - wer das Buch nicht kennt, sollte mal antiquarisch nachschauen, ob er eine frühe, z.B. die 2. von 1981, und eine späte Auflage, z.B. die 4. von 1986 als erste neugefaßte, bekommen kann, und er wird dort hochinteressante Unterschiede feststellen). Beide genannten Bücher haben schon etliche Jahrzehnte auf dem Buckel, so daß die jüngere Vergangenheit logischerweise fehlt. Die bekommt man bei Breutigam, dazu wie erwähnt einen ganzen Haufen Fakten, auch einige Anekdoten und eine gute Zahl von Partiebeispielen und Analysen, das Ganze in gut lesbarer Weise, mit den genannten Schwächen, aber auch vielen Stärken, so daß man das Buch bedenkenlos neben die beiden erwähnten "Vorkämpfer" ins Regal stellen kann. Daß das Werk, sobald der derzeit laufende WM-Kampf zwischen Carlsen und Karjakin beendet sein wird, strenggenommen schon wieder veraltet ist, liegt in der Natur des Sujets ...

Martin Breutigam: Genies in Schwarzweiß. Die Schachweltmeister im Porträt. Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2016. Paperback, 208 Seiten. ISBN 978-3-7307-0287-1. 14,90 Euro. www.werkstatt-verlag.de
 






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