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Martin Breutigam: Himmlische Züge. Neue Rätsel und Geschichten aus der Welt der Schachgenies
von rls anno 2014

Martin Breutigam: Himmlische Züge. Neue Rätsel und Geschichten aus der Welt der Schachgenies

Offensichtlich hat sich das Konzept des Buches "Todesküsse am Brett" bewährt und zu einer ausreichenden Zahl Käufer geführt: Martin Breutigam baut sein neues Schachbuch "Himmlische Züge" genauso auf wie den Vorgänger. Der Mann ist Internationaler Meister (was der dritthöchsten erreichbaren Stufe im Schach entspricht - darüber gibt es noch den Internationalen Großmeister und schließlich ganz oben den Weltmeister) und zugleich Kolumnist u.a. für den Berliner Tagesspiegel und den Bremer Weser-Kurier, und aus 140 dieser Kolumnen besteht das Buch. Jede umfaßt eine Buchseite und beginnt mit einer riesigen Abbildung eines Schachbrettes, das die zu behandelnde Stellung enthält (auf eine Wiedergabe in Notation als Kontrollstellung wurde verzichtet). Darunter folgt der Kolumnentext, der meist auf ein aktuelles Ereignis aus der Schachwelt zielt. Oft stammt die in der Stellung wiedergegebene Partie dann auch aus diesem Ereignis, aber nicht immer - hier und da bedarf es einiger Winkelzüge des Autors, um vom 100jährigen Jubiläum von Franz Kafkas "Das Urteil" schließlich zu einer Partie zwischen Frantisek Treybal und Karel Hromadka zu kommen, die im gleichen Jahr gespielt wurde, als Kafka "Das Urteil" schrieb. In den meisten Fällen sind es aber aktuelle Partien bzw. Stellungen, die am Schluß der Kolumne jeweils eine Aufgabe abgeben, deren Lösung dann ganz unten auf der Seite kopfstehend nachzulesen ist, wobei neben der Hauptvariante oft auch einige Nebenvarianten oder Irrwege abgedruckt werden, man sich also nicht auf den eigentlichen Lösungszug beschränkt.
Wie man das bei einer Zeitungskolumne erwarten kann, besitzen die zugehörigen Geschichten und Anekdoten durchaus einen gewissen Unterhaltungswert (wenngleich bisweilen auch heiße Eisen angepackt werden, etwa Betrugsvorwürfe gegen einen Spieler, der während einer Partie in der Schach-Bundesliga auffällig oft zur Toilette mußte und ein Smartphone bei sich trug ...), sind aber fachlich fundiert. Zugleich liegt aber im Konzept auch das Problem des Buches: Die Kolumnentexte, die aus den Jahren 2010 bis 2013 stammen und mit Magnus Carlsens Entthronung des Weltmeisters Vishwanathan Anand enden, wurden offenbar unredigiert übernommen. So kommt es einerseits zu diversen Redundanzen, wenn man etwa im Abstand von nur wenigen Seiten gleich zweimal erfährt, daß Peter Swidler sechsmaliger russischer Landesmeister ist, zum anderen aber finden sich Formulierungen wie "Doch manchmal täuschen sich eben auch die Besten, beispielsweise am Montag während der Live-Übertragung der achten WM-Partie in Moskau ...", die der Leser einer Tageszeitung vom Zeitbezug her problemlos entschlüsseln kann, was dem Leser des zwei Jahre später erschienenen Buches ohne externe Recherche natürlich schwerfällt. Zudem hätte die Überarbeitung noch die Möglichkeit der einen oder anderen Ergänzung geboten: Auf S. 13 beispielsweise geht es in einer Kolumne aus dem Jahr 2010 um die rasante Entwicklung des damals 20jährigen Nachwuchstalents Sergej Karjakin, auch im privaten Bereich - mit 19 war er bereits verheiratet, und zwar mit einer ukrainischen Schachmeisterin, die er offenbar bei der Dresdner Schacholympiade in einer Diskothek (!) kennengelernt hatte. Das Buch hätte nun freilich die Möglichkeit geboten, die Information anzufügen, daß die Ehe nach reichlich zwei Jahren schon wieder geschieden wurde ...
Vom Schwierigkeitsgrad her sind die Aufgaben, obwohl es sich häufig um Partien der Weltelite handelt, oft auch für den normalsterblichen Spieler lösbar. Wer beispielsweise auf der Plattform www.chessgames.com regelmäßig Donnerstag-Aufgaben lösen kann und ab und zu auch mal eine Freitags-Aufgabe schafft (es herrscht bei den dortigen Tagesaufgaben ein Wochenrhythmus, der montags mit "Very Easy" beginnt und sonntags mit "Insane" endet), der dürfte auch das Gros der Aufgaben im Breutigam-Buch zumindest in den Grundzügen bewältigen, ohne die Stellungen auf dem Brett aufzubauen. So sichert sich der Autor eine potentielle umfangreiche Leserschaft, ohne diese entweder von vornherein zu unter- oder zu überfordern. Und obwohl es keine systematische Ordnung gibt, erhält man doch wichtige Hinweise und Ideen für die eigene Spielpraxis, was der primäre Wert einer solchen Aufgabensammlung ist. Der Unterhaltungswert als sekundärer Wert kommt hier allerdings noch dazu, und man muß sich schon sehr disziplinieren, das Buch irgendwann mal wegzulegen und nicht auch noch die nächste und übernächste und überübernächste Aufgabe zu lösen zu versuchen ...
Freilich bleibt die Frage, wer sich dieses Buch kaufen soll. Wer schon "Todesküsse am Brett" besitzt und schätzt, kann natürlich blind zugreifen - dem Einsteiger in diese Materie sei allerdings geraten, erstmal antiquarisch nach "Spaß am Kombinieren" von Albin Pötzsch, dem unangefochtenen Meisterwerk in dieser Sparte, Ausschau zu halten, das freilich logischerweise den Nachteil hat, keine Partien aus dem seit seinem Erscheinen vergangenen Vierteljahrhundert zu enthalten, allerdings in puncto Materialfülle und Systematik "Himmlische Züge" klar in den Schatten stellt. Hat man dieses durchgearbeitet und verinnerlicht, ist Breutigams Schaffen allerdings ein ernstzunehmender Kandidat für den nächsten Bucherwerb.

Martin Breutigam: Himmlische Züge. Neue Rätsel und Geschichten aus der Welt der Schachgenies. Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2014. ISBN 978-3-7307-0087-7. 160 Seiten, Paperback, 9,90 Euro. www.werkstatt-verlag.de
 






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