www.Crossover-agm.de
Reinhard Amon: Lexikon der musikalischen Form. Nachschlagewerk und Fachbuch zur musikalischen Form und Formung vom Mittelalter bis zur Gegenwart
von ta anno 2014

Reinhard Amon: Lexikon der musikalischen Form. Nachschlagewerk und Fachbuch zur musikalischen Form und Formung vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Reinhard Amons "Lexikon der Harmonielehre" könne zu einem Standardwerk der Musiktheorie werden, habe ich anno 2005 gemunkelt, zu überzeugend war das Buch in Ordnung und Aufbereitung seines umfangreichen Sujets. Auch aus der Musikwelt hagelte es Lob und im Jahr 2006 wurde das Lexikon mit dem Deutschen Musikeditionspreis BEST EDITION des Deutschen Musikverleger-Verbandes geadelt. Nun habe ich anno 2005 allerdings auch großspurig behauptet, "dieses monumentale Lexikon ist vermutlich der Gipfel seines [Amons] Lebenswerks" und mich damit in die Bredouille manövriert. Denn im Jahr 2011 legte der Autor - inzwischen vom Extraordinarius zum Professor für Tonsatz an der Uni Wien avanciert - das Lexikon der musikalischen Form vor, welches mit 639 Seiten sogar noch umfangreicher als sein 416-seitiger Vorgänger ausfällt.
Der Vergleich beider Werke offenbart eine Menge positiver Gemeinsamkeiten. Erstens die anschauliche Verzweigung von Theorie und Praxis durch über 600 Notenbeispiele, anhand derer die bisweilen komplexen Begriffe erklärt werden. Amon folgt hierbei kontinuierlich dem Dreischritt aus Definition, Illustration und Beispielanalyse. Zweitens das hohe Maß an Systematik durch eine Fülle an Querverweisen auf (je nach Lexikoneintrag) allgemeine Kontexte eines Formmerkmals, Unterarten einer Form, Gegensätze zu einer Form etc. Drittens die kontinuierliche Einbindung von Grafiken und Tabellen, die a) häufig viel angemessener das analysierte musikalische Geschehen abbilden als ein linearer Text, damit b) den Text einzelner Einträge verkürzen, ohne dass Inhalt verlorengeht und deshalb c) das Lexikon angenehm von akademischem Ballast entschlacken und auch für Laien gut lesbar machen. Insgesamt ein super Service, von dem viele andere Lexika sich etwas abschauen können und sollten!
Der Vergleich zeigt allerdings auch Unterschiede. Der markanteste hierbei ist sicherlich, dass der theoretische Überbau, der in Form der Funktionstheorie dem "Lexikon der Harmonielehre" zugrunde lag, hier (thematisch bedingt natürlich) nicht mehr die Analyse dominiert. Das "Lexikon der musikalischen Form" ist ganz im Gegenteil erfreulich offen, was die theoretischen Grundlagen angeht. Das betrifft die grundsätzlich weite Zielvorgabe, eine "Zusammenschau der Möglichkeiten aus der Summe innerer Formungskräfte" vorzulegen (Vorwort, S. 8) ebenso wie die Durchführung, in der systematische und historische Erläuterungen hervorragend in Balance gehalten werden. Relativiert werden muss indes der Anspruch, die "Individualität des jeweiligen Werks [zum ersten Ansatz] jede[r] Analyse" zu machen (S. 9). Das, bei allem Respekt, kann Amon schon deshalb nicht gelingen, weil natürlich jedes Beispiel primär aufgrund seiner Eigenschaft, ein allgemeines und keineswegs singuläres Formmerkmal zu illustrieren, überhaupt nur im Lexikontext auftaucht. Was Amons Lexikon jedoch zeigt, ist die unglaubliche Vielfalt in der Ausprägung musikalischer Formen ebenso wie das Innovative einzelner Stücke, etwa einer Bach-Fuge, in ihrer jeweiligen Zeit.
Das Kernstück des Lexikons ist - wenig überraschend - der Lexikonteil, der auf 430 Seiten über 3000 Einträge zu Formen im engeren Sinn vom Bossa Nova bis zur Sonate ansammelt wie auch zu allem, was drum herum eben so anfällt: formübergreifende Grundbegriffe ("Bearbeitung", "Pause" etc.), formspezifische Grundbegriffe, Epochenmerkmale, Spielmerkmale etc. Der Blick für Kontexte reicht bisweilen ein Stück über das Sujet der Musik hinaus, doch der Haupttext bleibt insgesamt sehr konzentriert und fokussiert.
Im zweiten Teil des Lexikons wird dann etwas weiter ausgeholt. Weitere 130 Seiten geben Raum für größere Kapitel zu allgemeineren Hintergründen rund um das Thema "musikalische Form". Bauprinzipien, Definitionsversuche und die "Krise der Form" im 20. Jahrhundert sowie Formen in der Popularmusik und im Jazz - mal ehrlich, welche/-r CrossOver-Leser/-in hat gewusst, dass das Riff keine Metal-Innovation, sondern typisch für den Bigband-Sound ist? - gehören hierbei noch zu den konventionellen Themen, während die Ausführungen zu Symmetrie, Form überhaupt, Wahrnehmung, Zeit oder Zahlen allerlei Wissenswertes aus anderen Bereichen wie Mathematik, Architektur, Psychologie und Physiologie versammeln, natürlich stets mit dem Hakenschlag in die Musiktheorie verbunden. Positive Erwähnung verdient zuletzt die knapp zweiseitige und theoretisch angenehm unbelastete Anleitung zur Formanalyse im Anhang des Lexikons.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Das "Lexikon der musikalischen Form" ist der ebenbürtige Zwilling zum "Lexikon der Harmonielehre", genauso überzeugend, genauso informativ, genauso hervorragend aufbereitet und deshalb genauso wärmstens allen Lehrenden und Studierenden jedweden musikalischen Fachs ebenso wie theoretisch unbeschlagenen Ausführenden zu empfehlen. Mit anderen Worten: Der anno 2005 von mir behauptete Gipfel von Amons Lebenswerk hat sich mit diesem Buch als Zwillingsgipfel entpuppt.

Reinhard Amon: Lexikon der musikalischen Form. Nachschlagewerk und Fachbuch zur musikalischen Form und Formung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. ISBN: 978-3-476-02407-7; 49,95 Euro; www.doblinger-musikverlag.at, www.metzlerverlag.de, personal.mdw.ac.at/amon



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver