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Reinhard Amon: Lexikon der Harmonielehre. Nachschlagewerk zur durmolltonalen Harmonik mit Analysechiffren für Funktionen, Stufen und Jazzakkorde
von ta anno 2005

Reinhard Amon: Lexikon der Harmonielehre. Nachschlagewerk zur durmolltonalen Harmonik mit Analysechiffren für Funktionen, Stufen und Jazzakkorde

Reinhard Amon ist außerordentlicher Professor für Tonsatz an Wiens Universität für Musik und darstellende Kunst und dieses monumentale Lexikon ist vermutlich der Gipfel seines Lebenswerks. Auf 416 großformatigen Seiten führt der Autor durch die Musik mit Blick auf ihre harmonischen Strukturen. Und dieser Blick hat mehrere Facetten.
1) Die Gliederung erfolgt nach dem Muster eines Lexikons. Das heißt im Konkreten: Das "Lexikon der Harmonielehre" unterteilt sich in verschiedene Kapitel, die alphabetisch geordnet sind ("Akkordbildung", "Chromatik", "Hauptdreiklänge" usf.). Innerhalb dieser Kapitel, die sich ggf. in Unterkapitel gliedern, werden dann wiederum einzelne Begriffe erklärt und verwendet, die sich auch singulär per Sachregister aufsuchen lassen, wobei hilfreich hinzukommt, dass in ebendiesem Register nicht einfach alle Stellen angeführt sind, an denen der gesuchte Begriff auftaucht, sondern die Stellen, an denen er definiert wird, durch Fettdruck hervorgehoben wurden. Querverweise in der Randspalte innerhalb eines jeden Kapitels sorgen für die kontinuierliche Einbindung der Einzelphänomene in den ganzen Zusammenhang. Wer im Unterkapitel "Übermäßiger Dreiklang" (S. 62) zum Kapitel "Dreiklang" also die Info erhält, dass Arnold Schönberg gerne übermäßige Dreiklänge mit dem Ziel verwendet hat, Stücken eine festgelegte Dur/Moll-Tonalität zu rauben, wird sogleich per Seitenvermerk auf das Kapitel "Tonalitätsauflösung" verwiesen. Und wenn im Unterkapitel "Künstliche Leittöne" (S. 153f.) zum Kapitel "Leittöne" an einem Notenbeispiel aus W. A. Mozarts Klavierkonzert A-Dur eine unerwartete Leittonauflösung in ihrer Funktion für den Fortgang des Stücks vorgestellt wird, nimmt der aufmerksame Leser im Seitenvermerk den Verweis auf den größeren Kontext, nämlich das Einbinden harmoniefremder Töne überhaupt in ein Musikstück, wahr. Diese Gliederung ermöglicht Übersichtlichkeit (leichte Auffindbarkeit zentraler Begriffe) und Systematik (niemals Begriffe in völlig isolierter, kontextloser Verwendung) zugleich. Dass dieses Darstellungsprinzip das Lexikon zu einer lesetechnisch recht komplexen Angelegenheit machen kann, ist wohl der Natur der Sache geschuldet und darf dem Autor keineswegs zum Vorwurf gemacht werden.
2) Es handelt sich nicht um ein Lexikon der Harmonie, sondern um ein Lexikon der Harmonielehre. Das erklärt zwei Dinge, nämlich erstens den enormen Umfang des Buches, zweitens die praxisbezogene Anlage. Der Umfang des Buches resultiert offenbar ganz einfach aus dem Anspruch, möglichst alle Phänomene der Musikgeschichte auf einen Begriff zu bringen, der sich anschließend verwenden und weitervermitteln lässt. Das vorliegende Lexikon ist keine Stichwortsammlung, sondern ein Kompendium. Deswegen auch - zu zweitens - der Praxisbezug. Unermüdlich zieht Amon Notenbeispiele, Tabellen, Übersichten, Grafiken heran, die dem Leser das Verständnis des sonstigen Textes erleichtern und die Abstraktheit des Gesagten veranschaulichen sollen. Ein Beispiel: Das Kapitel "Quartsextakkord" (S. 211f.) soll ebendiesen Begriff erklären. Dies geschieht in drei Schritten. Der Begriff als solcher wird charakterisiert, anschließend wird die Funktion des Akkords thematisiert, schließlich weiter intern differenziert (Quartsextakkord auf schwerer Taktzeit/auf leichter Taktzeit). Und es folgen in einem vierten Schritt die Illustrationen: In einer Notenübersicht werden die wichtigsten Formen des Akkords aufgeführt, in einem zweiten Notenbeispiel werden die Quartsextakkorde genannt, die innerhalb einer bestimmten Kadenz (C-Dur) von Bedeutung sind, wobei innerhalb des Beispiels wiederum durch verschiedenfarbige Noten die Zugehörigkeit des jeweiligen Tons zu einer bestimmten Kadenzstufe (Tonika usf.) aufgezeigt wird. Gleiches geschieht als Bebilderung der internen Differenzierungen, wobei immer weiter unterschieden wird, bis Amon bei der konkreten Analyse der Schubertschen "Impromptu c-Moll" als Fundstelle eines romantischen Quartsextakkords angelangt ist. Das Kapitel bietet also zugleich abstrakte Definition, handhabbare Illustration (zum Nachspielen oder Weitersagen) und beispielhafte Einzelfallanalyse für einen Begriff. Was für ein Service! Für Musikhistorie- und Sekundärliteraturverweise bieten die - nicht allzu reichlichen - Fußnoten immer noch genug Platz. Beides (die Auseinandersetzung mit Musikgeschichte und die mit Sekundärliteratur) tritt aber im Gesamten des Buches in den Hintergrund, ersteres, weil der systematische Aspekt klar im Vordergrund steht (genug Komponistennamen tauchen natürlich trotzdem auf), zweiteres wohl aus Gründen der Übersichtlichkeit (ein Literaturverzeichnis ist natürlich trotzdem vorhanden).
Dies zum Lehrbuchaspekt. Jener verweist auch auf die anvisierte Zielgruppe, nämlich im Wesentlichen die ohnehin schon seit längerem in diesem Sektor Tätigen. Das führt zur dritten Facette des Amonschen Lexikons:
3) Es handelt sich nicht um eine historische Aufarbeitung, sondern um eine Systematik. Im Vorwort (S. 9 ff.) weist Amon darauf hin, dass es ihm auch darum ginge, die historische und die systematische Perspektive zu relativieren auf eine verbindende hin, aber möglich ist dies nur aufgrund einer schon zugrunde gelegten Systematik. Im Zentrum des Buches steht eine funktionstheoretische Erklärung der musikalischen Phänomene. Dem Verständnis eines Akkords in einem Stück soll also über den Begriff der Funktion ebendieses Akkords innerhalb des Ganzen des Stücks Rechnung getragen werden. Ergänzend werden stufentheoretische Erklärungen (Erklärungen im Rückgang auf den Grundton) herangezogen. Beide Theorien werden natürlich vorgestellt, d.h. nicht einfach verwendet, und ihre Erklärungschiffren - Was bezeichnet in der Sprache einer bestimmten Theorie welches Phänomen in einem Musikstück? - werden in tabellarischer Form im umfangreichen ersten Anhang dargelegt (S. 334 ff.). Da der Autor diese Chiffren logischerweise auch in seinem Text verwendet, ist das Studium dieser Tabellen und der ganz vorne im Buch angeführten Auflösung der häufigsten Analysechiffren zum Verständnis des Lexikons überhaupt dringend notwendig. Das kostet den Leser, der nicht von vorneherein mit eben diesen Chiffren vertraut ist (wie etwa beim Musikstudenten oder -dozenten der Fall), natürlich eine beträchtliche Lese-, Lern- oder Hin-und-Her-Blätter-Arbeit, aber prinzipiell besteht für jeden der Musiktheorie Zugeneigten die Möglichkeit, das Geschriebene nachvollziehen zu können, auch wenn es mit jeweilig verschiedenem Erarbeitungsaufwand verbunden ist. Einen zusätzlichen Anreiz für das Studium des Lexikons sollte die Tatsache bieten, dass der - sicherlich an manchen Stellen streitbare - funktionstheoretische Ansatz des Autors die Musikbetrachtung auch unter wirkungsästhetischer Perspektive interessant macht. Und seiner Herkunft (Wien) gerecht werden, skizziert Amon in einem zweiten Anhang auch noch den Umgang mit Harmonik in verschiedenen Strömungen des 20. Jahrhunderts von der Spätromantik über die Musique Concrète bis zum Neoexpressionismus. Eine Menge Inhalt also, säuberlich geordnet und fein aufgearbeitet.
Amons "Lexikon der Harmonielehre" könnte zu einem Standardwerk der Musiktheorie werden, nicht aufgrund seiner theoretischen Originalität, sondern wegen seines umfassenden, übersichtlichen und ordnenden Charakters. Für Jazzer und Klassiker, Lehrende, Studierende und Ausführende stellt dieses Buch eine Fundgrube dar, deren Ausmaß immens ist und deren Nutzen in Relation zum Aufwand gar nicht hoch genug bemessen werden kann. ISBN: 3-900695-70-9 bzw. M-012-19576-4 für den Musikalienhandel und 3-476-02082-7 für den Buchhandel; Kontakt: www.doblinger-musikverlag.at, www.metzlerverlag.de, personal.mdw.ac.at/amon



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