www.Crossover-agm.de
8. Sinfoniekonzert   14.04.2016   Chemnitz, Stadthalle
von rls

"Neun Jahre lang habe ich mich nicht wiederholt in der Wahl der von mir dirigierten Werke - das werde ich jetzt ein einziges Mal anders halten. Gustav Mahlers 2. Sinfonie ist für mich das sinfonische Schlüsselwerk überhaupt und steht für mich wie kein anderes Werk für die ungeheure Kraft der Musik, für all das, was Musik auszudrücken vermag, diesseits und jenseits von bloßer Unterhaltung und Schönklang. Sie beschreibt und beinhaltet die ganze Welt, das ganze Leben und fließt über von visionärer Kraft. Deshalb freue ich mich sehr, diese Sinfonie noch einmal mit Ihnen gemeinsam zu erleben." So begründet Frank Beermann im Programmheft, warum er sich ein weiteres Mal diesem Riesenwerk widmet - da der Rezensent die erste Aufführung vor einer knappen Dekade allerdings nicht erlebt hat, kann er keine Direktvergleiche ziehen. Fakt aber ist: Das Interesse der Chemnitzer an diesem Werk ist hoch, was in einer deutlich volleren Stadthalle als bei den letzten vom Rezensenten erlebten Konzerten an gleicher Stelle seinen Ausdruck findet - und allein schon das bildet eine erste Bejahung der Korrektheit von Beermanns Entscheidung.
Den ersten Satz, der als "Totenfeier" auch ein eigenständiges Konzertleben führt, geht Beermann zunächst recht langsam, allerdings stark rhythmusbetont an, was einen etwas zerklüfteten Eindruck hinterläßt, den riesigen Orchesterapparat samt Dirigent aber nicht daran hindert, einen gekonnten und schon ziemlich spannenden Dynamikaufbau hinzulegen. Schon hier wird aber deutlich, daß die Bauweise der Stadthalle den Klang in die Breite gehen läßt, ihm also trotz der riesigen Besetzung in den Tutti die umwerfende Wucht nimmt, was aber wiederum etwa für die Auswalzung des Seitenthemas schön viel Breite ermöglicht. Und die verträumten Klangflächen nach dem Harfensolo muß man erstmal so hinbekommen. Zudem schafft Beermann das Kunststück, die Ausbrüche trotz der mäßig bleibenden transportierten Energie relativ dramatisch zu gestalten. Dramatik ohne Druck? Ja, das geht durchaus, wenngleich dem Schluß des Satzes ein wenig die Spannung fehlt und die Trompeten auch nicht ganz auf der Höhe des Geschehens sind.
Die fünf Minuten Pause, die sich Mahler zwischen dem ersten und zweiten Satz gewünscht hat, unterschreitet Beermann etwas, und die Untertitel "Sehr gemächlich. Nicht eilen" des zweiten Satzes nimmt er scheinbar auch nicht hundertprozentig ernst. Aber die Wirkung seines flüssigen, vielleicht einen Deut zu flüssigen Tempos ist verblüffend: Der Tanzcharakter bleibt erhalten, aber Eleganz und Witzigkeit nehmen höhere Werte an, und so entsteht praktisch Kammermusik mit einem riesigen Orchester. Wie Beermann die Zupfpassage quasi aus dem Stillstand entwickelt, das verrät Meisterschaft, auch wenn hier wenig Spannung aufkommt - die gibt es dafür im Satzschluß in höherer Dosierung. Den attacca angehängten dritten Satz nimmt Beermann abermals recht flott, aber auch hier leidet die Eleganz unter dem Tempo nicht, und für den großen Tempoausbruch bleiben trotzdem noch genügend Reserven erhalten. Für den Rest des Satzes kann man sich wiederholen: Dramatik ohne Druck, das ist auch hier die Maßgabe. Der Urlicht-Satz an vierter Position steht und fällt zunächst mit der Qualität des Blechchorals - die ist an diesem Abend als gut (nicht sehr gut!) zu bezeichnen. Altistin Marina Prudenskaya besitzt eine sehr angenehme, aber trotzdem durchsetzungsfähige Stimme - daß sie wie das Gesamtklangbild eher distanziert wird, dafür kann sie nichts. Zunächst in der Höhe noch leicht wackelnd, gelingt der hohe Satzschluß problemlos und läßt nur den Wunsch offen, das Deutsch der immerhin seit mehr als einer Dekade in Deutschland reüssierenden Opernsängerin möge noch etwas akzentfreier werden.
Falls jemand im Publikum gehofft hatte, Beermann habe sich die großen Energieschübe für den Finalsatz aufgehoben, so irrt der: Auch hier machen die Tutti nur in relativer Hinsicht viel Druck. Dafür klappt die Abstimmung mit dem Fernorchester prima und erzeugt interessante, von Beginn an spannende Klangwirkungen. Das Tiefblech setzt mit einem exzellenten Choral dem vierten Satz auch noch zwei Qualitätsstufen drauf, und wie Beermann das Orchester von Stillstandsnähe zum großen Schlagzeugausbruch führt, das gehört ins Dirigentenlehrbuch. Sogar das Fernorchester muß toben, aber wenn es mit den Flöten duettiert, dann ist auch gleich die Spannung wieder da. Sopranistin Julia Bauer agiert überwiegend sehr linienhaft, kann sich akustisch aber gegen das Orchester behaupten, was der Altistin hier nicht mehr gelingt und zum Schluß in den Duettpassagen dann beiden nicht mehr (wobei dort auch eher ein Neben- als ein Miteinander herrscht). Der Chor besteht aus den Mitgliedern des Dresdner Philharmonischen Chores und der Kantorei der Chemnitzer Kreuzkirche, und obwohl die Einstudierung von den jeweiligen Leitern getätigt wurde, gelingt die Verschmelzung zu einem homogenen Klangkörper doch in guter Weise: Zwar kommen die Zischlaute anfangs etwas zu breit, aber das schärft sich während des Finales schrittweise noch. Und gegen Ende hin wird die Aufführung immer emotional ergreifender - nicht in dem Sinne wie 2011 im Leipziger Gewandhaus, daß sie einen förmlich gegen die Sitzlehne drückt und man vor Überwältigung kaum zu atmen wagt, sondern subtiler, rührender und natürlich noch einmal hochspannend. Da vergißt man die einzelnen kleinen Probleme gern und hätte sich die Spannung zum Schluß auch noch länger stehend gewünscht, aber einige Anwesende halten es offenbar nicht aus und beginnen sehr früh mit dem Applaus, von dem es dann verdientermaßen sehr viel gibt. Hat Beermann also mit der Wiederholung eine gute Wahl getroffen? Definitiv.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver