www.Crossover-agm.de
4. Sinfoniekonzert   10.12.2015   Chemnitz, Stadthalle
von rls

Ein Orchesterkonzertprogramm ausschließlich mit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Werken russischer bzw. sowjetischer Komponisten zu bestücken wäre in der DDR nicht ungewöhnlich gewesen - heute aber besitzt diese Planungsvariante eher Seltenheitswert. Noch außergewöhnlicher wird die Lage, wenn man weiß, daß die Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz sich seit geraumer Zeit intensiv den Werken von Aram Chatschaturjan widmet, die ersten beiden Sinfonien bereits in zurückliegenden Programmen (die der Rezensent leider nicht miterlebt hat) gespielt hat und zudem mit einer Gesamteinspielung der drei Chatschaturjan-Sinfonien und weiterer seiner Orchesterwerke beschäftigt ist, was nach Vollendung der Edition dann die erste "Gesamteinspielung" eines nichtarmenischen Orchesters darstellt.
Nun gilt Chatschaturjan in breiten Hörerkreisen als eine Art One-Hit-Wonder, hat sich im kollektiven Musikgedächtnis doch lediglich sein Säbeltanz aus dem Ballett "Gajaneh" verankert (obwohl im DDR-Musikunterricht auch weitere Teile dieses Balletts behandelt wurden). Aber immer noch besser One-Hit-Wonder als No-Hit-Wonder, hat ein Mitglied der Band Mr. Big mal in einem Interview gesagt (die hatten auch immer das Problem, auf die Akustikballade "To Be With You" reduziert zu werden, die noch nicht mal halbwegs repräsentativ für ihr Schaffen ist) - und auch Chatschaturjan war sich des Fluchs wie des Segens dieses Stückchens Musik durchaus bewußt. Aus der Ballettmusik stellte er mehrere Orchestersuiten zusammen, und deren dritte bildet den Auftakt des 4. Sinfoniekonzertes der Robert-Schumann-Philharmonie. Die beginnt mit der "Baumwollernte": Die Baumwolle wächst langsam, aber die Ernte wird letztlich doch gut. Das Feld liegt allerdings an diesem Abend relativ weit weg - Dirigent Frank Beermann nimmt das Orchester relativ weit zurück, und die Bauweise der Stadthalle bedingt, daß der Klang in die räumliche Breite geht und beim Publikum daher noch distanzierter ankommt, als es in der gleichen Interpretation, aber in einem schlauchförmigeren Saal der Fall wäre. Selbst die Hornsignale kommen ziemlich aus der Ferne, und erst der Satzschluß trifft den Hörer etwas direkter. Ob der "Tanz der jungen Kurden" an Position 2 auf authentische Vorbilder zurückgeht oder sich der in Georgien geborene armenisch-sowjetische Komponist mehr künstlerische Freiheit herausgenommen hat (1943 hätte das eh niemand nachprüfen können), können vielleicht die anwesenden Flüchtlinge besser beurteilen. Der Tanz gerät jedenfalls recht flott, wird von den Holzbläsern dominiert und schiebt sich in einem klassischen Uffta-Uffta-Rhythmus nach vorn, wird allerdings auch von diversen Breaks durchzogen, bevor am Ende alle k.o. sind. Aber nicht lange: "Einleitung und Tanz der alten Männer" heißt der dritte Suitensatz, und der Grundbeat der Einleitung fällt erstaunlich flott aus, aber als die alten Männer nach einem Bombasteinwurf und einer Soloklarinettenpassage dann zur Tat schreiten, entwickelt sich eine würdevolle Altersbewegung mit interessanten rhythmischen Figuren, sobald das (fünffach bemannte) Schlagwerk ins Geschehen eingreift und alles auf ein fast cineastisches Finale zusteuert. Satz 4 zeigt die "Teppichstickerei", ein filigranes, aber monotones Handwerk, und genau so gestalten Chatschaturjan, Beermann und die Soloklarinettistin die Musik auch. Dann kommt der besagte Hit - und Beermann wählt ein extrem flottes Tempo, das am Anfang geradezu den Eindruck erweckt, als überschlage sich die Musik. Aber alles bleibt unter Kontrolle, und so darf der Xylophonist hinten links fleißig zaubern. Der abschließende "Gopak" nimmt nach bedächtigerem Beginn gleichfalls Fahrt auf, noch einmal tanzen sich alle ins Nirwana, auch wenn der Dynamikgipfel hier schon im Mittelteil des blechdominierten Satzes erreicht ist und das Exzelsior nach hinten heraus keine richtige Steigerungsmöglichkeit mehr findet. Macht aber nichts - die gut gefüllte Stadthalle applaudiert trotzdem (und zu Recht) enthusiastisch.
Sergej Prokofjews 1. Klavierkonzert ist das einzige Werk des Abends, das noch aus präsowjetischer Zeit datiert; es wurde 1912 uraufgeführt und stieß sowohl auf Begeisterung als auch auf Ablehnung, wobei letztere sich auf eine gewisse Neuartigkeit fokussierte, wobei die Ablehner noch nicht ahnten, was ihnen im Verlaufe des 20. Jahrhunderts noch so alles an Musik vorgesetzt bzw. zugemutet werden würde. Das Konzert überrascht mit seiner nur einsätzigen Form, aber die Viertelstunde ist trotzdem ungefähr in die tradierte Schnell-Langsam-Schnell-Form gegossen. Nach einer kurzen tiefgründigen Bombasteinleitung nimmt Pianist Herbert Schuch schnell eine enorme Grundgeschwindigkeit auf, rast aber nicht durch das Material, sondern beweist durchaus ein Händchen für die impressionistisch angehauchte Farbgebung und die Gestaltung der Kleinteiligkeit. Beermann wiederum stellt eine gekonnte Balance zum Orchester her - Schuch ist jederzeit deutlich zu vernehmen, ohne zu vordergründig zu agieren. Auch der Spielwitz kommt nicht zu kurz, wenn ein ulkiger Übergang aus glockenspieldominierter Hochgeschwindigkeit in großen Bombast überleitet. Den Andante-assai-Part nimmt Schuch sehr weit zurück und landet kurz vor dem Stillstand, so daß der Übergang ins finale Allegro scherzando den gewünschten Kontrasteffekt erzeugt. Freilich bleibt dieses nicht in seiner Eröffnungsgeschwindigkeit, aber auch so hat Schuch enorm viel zu tun, gestaltet auch den fordernden kadenzähnlichen Part (den Beermann übrigens weiterdirigiert) in bester Manier und bekommt auch noch ein gelungenes Schlußexzelsior gebacken, auch wenn der Schlußwitz irgendwie leicht verpufft.
Schuch ist nach der Pause gleich wieder gefragt, denn es steht das 1. Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester von Dmitri Schostakowitsch auf dem Programm, und von den beiden Solisten spielt das Klavier eindeutig die Führungsrolle, während die Trompete, obwohl oder auch weil Thomas Irmen die ersten drei Töne spielen darf, mehr eine Art Signal- oder Gliederungsfunktion ausübt. Das Ganze geht im Allegro vivace teils ziemlich jazzig über die Bühne - das Konzert entstand noch vor der ersten Maßregelung Schostakowitschs durch Stalin, als der Komponist sich solche Freiheiten noch nehmen konnte, ohne gleich die Guillotine über sich spüren zu müssen. Der Lento-Satz an zweiter Stelle wird mit Harmoniefolgen eingeleitet, die über ein halbes Jahrhundert später eine gewisse Band namens Metallica in ähnlicher Form in "Nothing Else Matters" einbastelte; das Ganze gerät zwar melancholisch, aber noch ohne die abgrundtiefe Düsternis späterer Werke. Beermann fährt die Dynamik so, daß sowohl eine ironische als auch eine ironiefreie Deutung möglich sind, und alle Beteiligten bekommen ziemlich viel Spannung in den stillstandsnahen Schlußteil. Der Moderato-Satz ist nur extrem kurz, beweist aber viel Formungswillen, bevor der Übergang ins abschließende Allegro con brio wie aus dem Ärmel geschüttelt daherkommt. Dort macht sich in den schnellen Passagen bisweilen etwas Unordnung bemerkbar, aber das verfliegt bald wieder. Irmen fällt die Rolle zu, jetzt doch eindeutig das große Ironiefüllhorn auszuschütten, und der Schluß entwickelt sich abermals mit großem Formungswillen sowohl Schostakowitschs als auch Beermanns über einen ausgedehnten Orgelpunkt.
Letztes Werk des Abends ist die 3. Sinfonie von Aram Chatschaturjan, ein hochinteressantes Werk gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen erwartete man offenbar von Chatschaturjan nach dem Triumph über Hitlers Armeen, daß er die große Siegessinfonie schriebe, die Schostakowitsch mit seiner Neunten gerade nicht geliefert hatte. Zum anderen, aber direkt daraus folgend überrascht die Besetzung: Zur großen Orchesterbesetzung kommen eine Orgel und 15 (!) Trompeten - da auch in der regulären Orchesterbesetzung drei Trompeter agieren, braucht man also 18 hochgradig fähige Bediener dieses Instrumentes, was ein Grund dafür sein mag, daß das Werk eher selten aufgeführt wird, denn eine Orgel angemessener Größe und Durchschlagskraft braucht man ja auch noch. Im anschwellenden Allegro moderato (auch diese Sinfonie hat nur einen Satz, der aber dreigeteilt ist) geben die Orchestertrompeter gewissermaßen den Einsatz für ihre 15 hinten quer aufgereihten Solokollegen (die fünf Schlagwerker sind an die linke bzw. rechte Seite gerückt), und das versammelte Blech fungiert als eine Art Fanfarenzug, allerdings atonal genug, um einen direkten Triumphcharakter erfolgreich zu vermeiden. Aber auch Einzeleinsätze, gern fugiert, kommen zum Zuge, bevor Martin Sander an der Orgel erstmal ein langes Solo mit pausenlosen Läufen in irrwitziger Geschwindigkeit spielen darf und sich schließlich alle Elemente in riesigen Crescendobombastwalzen vereinen. Der Andante-Teil ist durchaus vielschichtig arrangiert, geht klanglich durchaus auch in die Breite und bleibt nur mäßig düster, auch der zentrale Ausbruch hält sich in maßvollen Grenzen. Dann schlägt wieder die Stunde für Soloklarinettistin Regine Müller, die mit einem exzellenten Solo in Richtung des abschließenden Maestoso überleitet, das sich immer weiter verdichtet, aber auch den Blick für Details nicht verliert (interessanter Klanglaufeffekt von links nach rechts in den Trompeten!). Je weiter man sich dem Schluß nähert, umso intensiver wird das Gefühl, daß alle um ihr Leben spielen, und als Sander die Schwellkästen der Orgel wieder öffnet, bricht sich das monströse Schlußgewitter endgültig Bahn, das in einem engeren Raum den Hörer ähnlich angreifen dürfte wie etwa das Finale von Mahlers Auferstehungssinfonie und in dem Chatschaturjan ganz zum Schluß interessanterweise die atonalen Fanfarenelemente in klassische Tonalität wandelt. Genützt hat's ihm nichts - er wurde im zweiten Komponistentribunal 1948 trotzdem mit auf die virtuelle Anklagebank gesetzt und des Formalismus beschuldigt. Ja, diese Sinfonie ist formalistisch, hochgradig formalistisch sogar - aber sie ist eben auch klasse. Krach, natürlich - aber genialer Krach, zu hören an diesem Abend in einer exzellenten Ausführung, die gerne in gleicher Weise auf Tonträger gebannt werden darf (und in der Liveübertragung auf Deutschlandradio Kultur vermutlich einige ungläubige Ohren hinterlassen hat).



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver