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Landesjugendorchester Sachsen, Nora Gomringer   16.10.2015   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Stellt die tradierte Konzertform im klassischen Bereich ein Auslaufmodell dar? Skeptiker wie Fortschrittsgläubige werden dazu neigen, diese Frage zu bejahen, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Andererseits findet die Erprobung erweiterter Konzertformen durchaus nicht erst seit gestern statt, und das reguläre klassische Konzert ist trotzdem noch nicht ausgestorben. Auch das Landesjugendorchester Sachsen ist durchaus beiden Formen gewachsen, wobei allerdings beide Projekte des Jahres 2015 der strukturell eher außergewöhnlichen Konzeption huldigten - im Frühjahr die Kooperation mit Cristin Claas und ihrer Jazztruppe, jetzt im Herbst die Einbeziehung der Schriftstellerin Nora Gomringer, die rechts hinten auf der Bühne sitzt und zwischen den einzelnen Musikbeiträgen Prosatexte liest, wobei sich schnell herausstellt, daß die im Programmheft abgedruckte Reihenfolge bzw. Textverteilung allenfalls als grobe Orientierung taugt. Ungewöhnlicherweise werden die Texte nicht nur zwischen den einzelnen Werken, sondern auch zwischen deren einzelnen Sätzen postiert, auch im Falle einer großen romantischen Sinfonie - ungewöhnlich ist das freilich nur für uns heutige Konzertgeher, während die Wiedergabe einzelner Sätze aus größeren Werken vor 100 oder 200 Jahren Usus war. Und Gomringer trifft die Atmosphäre der umliegenden Stücke oftmals ziemlich genau, so daß die neue Reihenfolge in dieser Hinsicht durchaus Sinn ergibt.
Das Programm ist mit "In Memoriam" überschrieben und widmet sich zunächst der Erinnerung an den weitgehend vergessenen, vor 60 Jahren verstorbenen Dresdner Komponisten, Pianisten und Konzertorganisator Paul Aron, der, wie man anhand seines Namens bereits mutmaßt, im Nationalsozialismus keine guten Karten hatte. Dabei beweisen seine von Dirigent Milko Kersten orchestrierten Vier Ostinatos, daß er durchaus Ahnung von der musikalischen Stimmungserzeugung hatte (und Kersten ebensolche von der Übertragung ebenjener auf die Orchesterfassung), wie die glockenartigen Einwürfe (sphärisch, aber schwer - liest sich wie ein Oxymoron, geht aber) in "Chimes", das trotz einiger harmonischer Merkwürdigkeiten schön verträumte "Lullaby", der freche Midtempogroove in "Blue Arabesque" (wer denkt da an Willi Schwabes Zuckerfee auf der Treppe?) oder der fast maschinelle "Little Boogie-Woogie" mit seiner förmlich penetranten Ostinatostruktur allesamt zeigen. Dazwischen lagert außer den Gomringer-Beiträgen auch noch der erste von Arons "In Memoriam" überschriebenen Drei Songs für hohe Stimme und Orchester, nämlich "Though You Are In Your Shining Days...", in dem man nicht nur einmal an Britten denkt. Die hohe Stimme gehört Salome Kammer, die einen angenehm unschrillen Sopran ins Feld führt, aber trotzdem gut durchzuhören ist. Nur ihre Wanderung durchs Orchester hat etwas von Aktionismus, der überflüssig wirkt.
Mit Uraufführungen hat das Landesjugendorchester durchaus bereits Erfahrung, und auch an diesem Abend gibt es wieder eine solche: Iris ter Schiphorst, Jahrgang 1956 und selbst anwesend, setzt in "An den Stränden der Ruhe ... 'wo die Sonne untergeht'" die Leiden der nordafrikanischen Flüchtlinge auf dem Weg nach Lampedusa in Töne. Auch das geht nicht ohne Schauspieleinlagen: Alle Musiker maskieren sich auf Kommando, zischen, lachen, weinen, erzeugen beliebige Geräusche und stellen quasi unterschiedliche Massen dar. Salome Kammer wiederum läßt Getreide in eine Schüssel rieseln, einige Orchestermitglieder telefonieren im Publikum, und generell hat das Stück phasenweise eher was von Aktionskunst als von Musik. Erstgenannte entzieht sich noch stärker einem Urteil als letztere, die gegen Ende hin dann doch noch ein paar richtig eindringliche Momente liefert, wenn da ein ultrafinsterer Trauermarsch erklingt, der beweist, was aus diesem zwar programmgemäß schreckenerregenden, aber (Nörgler schreiben "und") überambitioniert wirkenden Stück hätte werden können.
Da der ergreifendste Part am Ende steht, ist es emotional enorm schwer, hier ein Stück direkt dranzusetzen, und der Rezensent ist anfangs der Meinung, es wäre besser gewesen, hier gleich die Pause dranzusetzen. Aber das zweite der "In Memoriam"-Lieder paßt erstaunlich gut dran, obwohl oder gerade weil "Had I The Heaven's" fast fröhlich daherkommt. Nach "Unerwartet", einem weiteren Gomringer-Text, folgt noch der dritte Song, "How Many Loved", fast romantisch gehalten und nur die Frage aufwerfend, ob die Mißtöne im Finale kompositorische Absicht waren oder nicht.
Die eingangs erwähnte große romantische Sinfonie ist die 1. Sinfonie von Robert Schumann, auch Frühlingssinfonie genannt, und das Intro von deren ersten Satz bildet bekanntlich das gewandhausinterne Signal, daß die Konzertpause vorbei ist und sich das Publikum bitte wieder zu seinen Sitzen bewegen möge. Von daher kann man an diesem Trompetensignal schön abschätzen, in welche Richtung eine Interpretation dieser Sinfonie gehen könnte. Kersten nimmt es viel langsamer als die eingespielte Fanfare, und das Orchester muß sich in dieser Andante-Einleitung auch erst finden, bevor ein lehrbuchkompatibler Übergang in den Allegro-Part des Satzes gelingt. In dem besticht besonders die Lieblichkeit des Seitenthemas, und Kersten meißelt den großen langsamen Teil förmlich aus dem Gestein heraus. Daß die Stärken an diesem Abend hauptsächlich in den langsamen Teilen liegen, macht das Larghetto an zweiter Satzposition deutlich: Kersten zieht die Klanglandschaft in die Breite, läßt den Satz fließen und macht die Höhepunktarmut damit mehr als wett. Und den gekonnt zurückgenommenen Schluß nach den wunderbar weichen Posaunen muß ein Profiorchester erstmal nachmachen. Selbiges würde aber vielleicht ein bißchen mehr Pep ins Scherzo bekommen - hier mäandern die jungen Sachsen dann doch vielleicht ein bißchen zu sehr vor sich hin, obwohl sie durchaus locker (wenn auch wiederum nicht unbedingt molto vivace) zu Werke gehen. Vielleicht waren sie noch erschrocken vom davor eingeschobenen Gomringer-Text "Questioning the artist", dem einzigen des Programms, der in Englisch gehalten ist, was hier überhaupt nicht passen will. Immerhin blasen die Hornisten im vierten Satz dann doch noch frühlingsfrisch zum Sammeln, Kersten wählt ein gesundes Tempo, das aber trotzdem noch problemlose Spielsicherheit zuläßt, und relativiert die obenstehende Aussage mit der Verortung der Stärken ein bißchen. Folgerichtig bekommt das Orchester vom vielleicht halbvollen Auditorium viel verdienten Applaus.



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