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Grosses Concert IV/5   21.05.2015   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Konzerte mit dem Gewandhausorchester sind für Michael Sanderling nichts Neues, schließlich war der Mann als Solocellist einst selbst Mitglied des Orchesters. Als Dirigent aber hat er "seinem" ehemaligen Orchester noch nicht vorgestanden - ergo bilden die Grossen Concerte der Vorpfingstwoche in dieser Hinsicht eine Premiere, die mit Beethovens "Egmont"-Ouvertüre eröffnet wird, einem jener Stücke, dessen Behandlung im DDR-Schulunterricht so manchem die Freude am eigenständigen Hören verhagelt haben mag, so auch dem Rezensenten, der sich dafür über die Darbietung an diesem Abend umso mehr freut, auch wenn beileibe nicht alles so klappt wie intendiert. Bis die Bläser in den Gesamtklang integriert sind, dauert es beispielsweise arg lange, aber wer dann letztlich so einen düsteren, aber immer transparenten Gesamtklang hinbekommt, dem gesteht man eine gewisse Formungszeit gerne zu, auch wenn gerade vor der Hinrichtung Egmonts ein wenig zu viel ungeplante Nervosität im Spiel ist. Obwohl Sanderling die anschließenden Tumulte nicht sonderlich weit herunternimmt, gelingt ihm doch eine prächtige Steigerung, wenngleich mit indifferentem Ende, und als der letzte Ton verklungen ist, staunt man, wie schnell doch neun Minuten vergehen können.
Bernd Frankes Violinkonzert "Myo", das an diesem Abend seine Uraufführung erlebt, dauert rein numerisch ungefähr dreimal so lange, gefühlt aber viel, viel länger. Das siebenteilige Werk besteht aus fünf Hauptteilen plus Pro- und Epilog, die aber alle attacca ineinander übergehen, und am Ende bemerkt man, daß das Ganze ähnlich indifferent und schwammig klingt, wie sich der Text im Programmheft liest. Dabei erlaubt die räumliche Konstellation durchaus reizvolle Wirkungen: Ein Bratscher (Vincent Aucante) und ein Cellist (Christian Giger) stehen bzw. sitzen jeweils auf einer Seitenempore und finden sich mit Soloviolinist Sebastian Breuninger, der anfangs ebenfalls im Zuschauerraum postiert ist, bis er sich nach etlichen Minuten auf die Bühne bewegt, zu interessanten kammermusikalischen, teils fast fugierten Einwürfen über Orchesterteppichen. Diese Momente bilden aber auch schon die einzigen, in denen man das Gefühl hat, der Solist spiele mit den anderen Musikern zusammen. In den (seltenen) voluminöseren Tutti muß man sich sowieso sehr anstrengen, um Breuninger überhaupt herauszuhören, und irgendwann beginnt man, von der Sammlung an Spieltechniken der fünf Schlagzeuger begeistert zu sein und im gleichen Atemzug sich 50 Jahre zurückversetzt zu fühlen, als wildeste Neue Musik en vogue war und man sich zugleich für asiatische Einflüsse zu begeistern begann. Wie Franke gegen Ende die Ahnung eines Triumphes ironisch bricht, das steht in einem interessanten Widerspruch zur eher lahmen (scheinbaren oder tatsächlichen) Aleatorik, die sich in den Mix aus Düsternis und soloviolinistischem Aktionismus im Epilog einmogelt. Letzterer Mix erzeugt dann erst- und letztmals im Stück so etwas wie Spannung, und diese steht auch am Schluß und sorgt dafür, daß sich für ein derart unzugängliches Werk doch recht viel Applaus entfaltet, in den sich allerdings - das ist im Gewandhaus äußerst selten - auch einige Stimmen des Mißfallens mischen.
Michael Sanderling hat mit Bernd Frankes Werken durchaus schon einige Interpretationserfahrung - aber es ist ein anderer Komponist, bei dem seine Stärken liegen: Dmitri Schostakowitsch. Der Rezensent erinnert sich gern an die Siebente mit der Dresdner Philharmonie im Kulturpalast anno 2012, mit der Sanderling, anstatt den Hörer wie üblich mit einem Panzer zu überrollen, mit einer Laserwaffe in Scheiben schnitt. Und diese Fähigkeit, Schostakowitschs Sinfonien mit einer bisweilen fast schon schmerzhaften Transparenz wiedergeben zu lassen, kommt auch in der 15. und letzten Schostakowitsch-Sinfonie voll und ganz zum Tragen, selbst unter den völlig anderen akustischen Verhältnissen des Gewandhauses, die Sanderling aber natürlich aus seinen eigenen Orchesterzeiten genau kennt. Und das ist der Trumpf, der an diesem Abend sticht, selbst wenn das unruhige Publikum die ruhige Einleitung des ersten Allegretto-Satzes noch verhagelt. Die Rossini-Zitate nimmt Sanderling mit einer sehr starken Echowirkung, und obwohl er selbst in die fröhlich lärmenden Tutti dieses ersten Satzes die besagte Transparenz legt, so bereitet ihm die Abdeckung eines enormen dynamischen Spektrums trotzdem keinerlei Schwierigkeiten.
Trotzdem werden die langsamen Sätze zu den richtigen Highlights - und obwohl sich die Blechbläser in den choralartigen Passagen des ersten Adagio-Satzes etliche Einsatzwackler leisten, so tut das der überwältigenden düsteren Stimmung keinerlei Abbruch, zumal Sanderling auch das Tempo sehr niedrig hält. Die ultrafinsteren Solocellopassagen hätte Sanderling selbst wohl auch nicht besser spielen können, aber die exzellente dynamische Mikroentwicklung in den Duetten aus Posaune und Tuba beweist sein glückliches Dirigierhändchen für die Gestaltung dieser Art Musik. Der Ausbruch gegen Satzende muß demgemäß auch gar nicht so weit nach oben geführt werden, um seine Kontrastwirkung zu entfalten, und im Satzschluß herrscht derart viel Spannung, daß man sich kaum noch zu atmen traut.
Da ist es gut, daß der zweite Allegretto-Satz gleich attacca anhängt. Er beinhaltet quasi freche Kammermusik und kommt rhythmisch nie aus dem Knick, aber das ist natürlich gestalterische Absicht des Komponisten, und Sanderling fragmentiert diesen Witz mit förmlich spitzbübischem Gestus, bevor alles wie aus dem Nichts endet und dem zweiten Adagio Platz macht. In dessen Trübsal wird nun auch das Blech sicherer, die Wechsel zum lieblichen Seitenthema gelingen ebenso exemplarisch wie die Rückführung in die Melancholie, die Sanderling erneut äußerst verschleppt nimmt. Generell ist dieser Satz aber viel tempovariabler als der andere Adagiosatz, was dem Dirigenten mehr Möglichkeiten gibt, aber ihm auch mehr abverlangt. Daß Sanderling diese Herausforderung meistert, steht nach allem vorher Gehörten außer Frage, und die Orchestermusiker gehen gern aus sich heraus, wenn es der Dirigent möchte (der Pauker!). Und wie die ersten Violinen von Frank-Michael Erben bis Chiara Astore aus der Düsternis nochmals in die liebliche Seitenthemawelt überleiten, das gehört sowohl kompositorisch wie auch interpretatorisch ins Lehrbuch. Wenn dann zum Schluß die Schlagzeuger einen klappernden Teppich ausrollen, dann ist sie wieder da, die Spannung - zwar nicht ganz so atemlos wie am Ende des zweiten Satzes, aber immer noch so intensiv, daß es einige im Publikum nicht aushalten, bis der Dirigent am Pult zusammensinkt. Der Applaus ist befreiend und hinterläßt nur das Kuriosum, daß Erben die Versammlung auf der Bühne wohl einen Vorhang zu früh beendet, während er nach dem Franke-Werk gefühlt einen Durchgang zu lange sitzengeblieben war.



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