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Dong Singers   14.05.2015   Leipzig, Evangelisch-Reformierte Kirche
von rls

Die "Weltmusik-Reihe" innerhalb des A-Cappella-Festivals hat schon Künstler aus aller Herren Länder in die Evangelisch-Reformierte Kirche am Leipziger Tröndlinring geführt, chinesische waren aber bisher noch nicht vertreten gewesen. Das ändert sich an diesem Abend, wobei es sich allerdings nicht etwa um eine "offizielle" Abordnung der Han-Chinesen handelt. Die Entdeckungsfreude der A-Cappella-Macher spült vielmehr wieder eine Art Nischenprogramm ans Tageslicht, auch wenn diese Nische mittlerweile durchaus auch anderweitig international beleuchtet wird: Die historische und bis heute im wesentlichen nur mündlich weitergegebene Polyphonie der Dong steht seit 2009 in der Liste des UNESCO-Welterbes. Die Dong bewohnen gebirgige Areale im Süden Chinas, und ihre Gesangstradition wird noch heute gepflegt und mündlich tradiert, soweit das in der heutigen Gesellschaft noch möglich ist - wie andere Bewohner entlegener gebirgiger Regionen wandert auch die Dong-Jugend zunehmend in die industriellen Zentren Chinas an der Ostküste ab, ist dabei dann aber nicht etwa ein paar Dutzend oder Hundert Kilometer entfernt wie etwa ein Bewohner des Erzgebirges, sondern etliche Tausend. Und so steht die Traditionspflege vor unverkennbaren Problemen.
Von solchen ist an diesem Abend in Leipzig aber nicht die Rede - die Dong Singers konzentrieren sich erstmal darauf, dem Publikum in der gut ge-, aber nicht überfüllten Kirche ihre musikalische Tradition als solche bekanntzumachen. Das Sextett stammt aus Liping in der Provinz Guizhou - offenbar eine alte Bergbaugegend, denn ansonsten könnten die traditionellen Trachten der Dong nicht so viele Silberelemente beinhalten, die sich bei den vier weiblichen Ensemblemitgliedern auch im Schmuck des zu einem Dutt hochgesteckten Haars in reichlicher Fülle finden. Die beiden Herren tragen dagegen lederartige Mäntel und ebensolche Mützen mit zwei "Flügelelementen", wobei sich das Material auch im Grundstoff der weiblichen Tracht wiederfindet. Wu Zaifeng, der eine der beiden Herren, übernimmt dann auch die Moderation (entweder in Mandarin oder in der Dong-Sprache - frage einen Sinologen, wer's genau wissen will), wobei er in ausschweifender Form Inhalte und Instrumente erklärt, während der Übersetzer Yannick Borchert all das in ein, zwei Sätze zusammenfaßt, allerdings immer erst im Nachgang erklärt wird, worum es im gerade gehörten Lied eigentlich ging. Hier und da kann man allerdings schon anhand bestimmter lautmalerischer Elemente ergründen, daß Lied X oder Y das im Programmheft angekündigte über die Zikaden oder den Kuckuck sein muß. Die Polyphonie der Dong weist das interessante Merkmal auf, daß sich gegen Ende hin ein Grundton oder Grundakkord entwickelt, aber über diesem einer der Sänger nochmal "Fills" zu singen beginnt. Auch klassische Call-and-response-Strukturen lassen sich finden, allerdings in vielfach variierter Form und zumeist dann, wenn nur die vier weiblichen Mitglieder singen, wobei die Vorsängerrolle durchaus wechselt. Ganz der puren A-Cappella-Lehre huldigen die Dong Singers übrigens nicht, denn in einigen Liedern kommen auch Instrumente zum Einsatz, wobei Wu Zaifeng das kurioseste spielt: Er bläst auf einem Blatt, das er vor der Kirche an einer Pflanze gepflückt hat, und erzeugt damit hochinteressante pfeifende Klänge. Ansonsten kommen zwei Pipas (eine mit vier, eine mit fünf Saiten) und zwei "Kuhbeine" (ein fiedelähnliches Streichinstrument) zum Einsatz, wobei die Pipa in "Ich sehe dich nicht, aber ich vermisse dich" harmonisch finster-schräge Klänge erzeugt, wie man sie vor einem Vierteljahrhundert bei Amphetamine Reptile mit Kußhand genommen hätte, während Wu Liangxian, das zweite männliche Bandmitglied und zumeist für die besagten Instrumente verantwortlich, seine Pipa auch gerne mal so schwenkt, als hätte er klassische Judas-Priest-Livemitschnitte studiert. Übrigens heißen alle sechs Mitglieder Wu - ob sie auch noch alle miteinander verwandt sind, wie das bei kleinen Völkern in entlegenen Bergregionen ja nicht selten der Fall ist, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Stimmlich sind sie jedenfalls prima aufeinander eingespielt, wie nicht zuletzt die witzigen Dialoge im "Liebeslied aus Liudong" unter Beweis stellen. Einige Motive ziehen sich durch verschiedene der insgesamt 19 übrigens nach den behandelten Jahreszeiten angeordneten Lieder - was das zu bedeuten hat, darf bei Gelegenheit die Musikwissenschaft ergründen, falls sie es nicht schon im Vorfeld der UNESCO-Unterschutzstellung getan hat. Das Konzert enthält ungewöhnlicherweise keine Pause, die Stimmung im Publikum ist exzellent, und ohne zwei Zugaben lassen die Leipziger die Chinesen natürlich auch nicht gehen, wobei die erste nochmal besonders aus dem Rahmen fällt: Hatte bisher während der Lieder eher wenig Bewegung auf der "Bühne" geherrscht, so stellt besagte erste Zugabe einen lustigen Ringelreihen um die Altartische dar, in die auch acht Zuschauer aus der ersten Reihe einbezogen werden. So bekommt die Dong-Lehrstunde auch noch einen besonderen unterhaltsamen Aspekt (der rein musikalisch allerdings schon zuvor bisweilen angeklungen war), und nach zwei Stunden zieht das Publikum wieder bereichert nach Hause.

Die Dong Singers bei der ersten Zugabe

Foto: Holger Schneider/Copyright: Dreieck Marketing



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