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Peter Grimes   15.02.2015   Altenburg, Landestheater
von rls

Außenseiter sind seit jeher ein beliebtes Sujet des Kunstschaffens - man denke an so unterschiedliche Exempel wie Spitzwegs "Der arme Poet"-Gemälde, Clint Eastwood in Sergio Leones "Dollar"-Filmtrilogie oder eben auch Benjamin Brittens Oper "Peter Grimes", wobei die zentrale Opernfigur gegenüber der literarischen Vorlage "The Borough" von George Crabbe eine markante Wandlung erfahren hat. Bei Crabbe ist Peter Grimes ein Außenseiter, ein von der Dorfgemeinschaft Gemiedener, wofür es aber auch handfeste Gründe gibt: Der Fischer Grimes ist ein gewissenloser Sadist und mißhandelt seine Lehrjungen, wobei nicht wenige von ihnen zu Tode kommen. Brittens Grimes ist auch ein Außenseiter, ein von der Dorfgemeinschaft Gemiedener - aber hier beruht fast alles, was man ihm vorhält, auf Hörensagen, auf Gerüchten, auf Indizien und auf ein paar eher unglücklichen Zufällen. So wird Brittens Grimes zu einer zwar nicht völlig, aber doch in gewisser Weise anderen Person, eine, die, wie Hansi Kürsch von Blind Guardian es in einem Interview zum "Imaginations From The Other Side"-Album, auf dem mit Mordred ein ähnlich ambivalenter Charakter aus Artus' Welt vorkommt, ausdrückte, nicht grundsätzlich schlecht ist, aber immer Pech hat. Und Brittens Grimes hat eine romantische Seite, die man seinem literarischen Vorbild eher nicht zutraut. Auf der anderen Seite steht die Bevölkerung des Dorfes, in der anstatt einer Gemeinschaft jeder sein eigenes Süppchen kocht, aber, wenn es gegen Schwächere, Außenstehende geht, plötzlich doch alle zusammenstehen und einen hochgradig bedrohlichen Korpus bilden. Kay Kuntzes Inszenierung, die besonders in der Darstellung dieses bedrohlichen Mobs stark zu punkten weiß, hat in Altenburg Mitte Februar 2015 Premiere, also zu einer Zeit, als sich die Gesellschaft mit Phänomenen wie Pegida und besonders Legida auseinanderzusetzen hatte, und man könnte vermuten, daß der Regisseur bei den Massenszenen dieses Phänomen im Hinterkopf hatte - aber die Produktion gab es in prinzipiell identischer Weise schon ein Jahr zuvor in Gera, also zu einer Zeit, wo das Akronym Pegida noch gar nicht erfunden war, so daß man Kuntze keine hellseherischen Fähigkeiten andichten sollte, aber vielleicht ein erstaunlich gutes Händchen für das Erspüren von Problemen der heutigen Gesellschaft, die es in ähnlicher Form auch schon in früheren Jahrzehnten (Brittens Oper wurde in den 1940er Jahren geschrieben) bzw. Jahrhunderten (Crabbes Gedicht stammt aus dem 18. Jahrhundert, die Handlung des von Montagu Slater verfaßten Librettos ist im 19. Jahrhundert angesiedelt) gab.
Kuntzes Inszenierung hebt sich vom Regietheater-Prinzip ab, indem sie die Geschichte zunächst in ihrer originalen Umgebung beläßt, also keine vordergründigen Parabeln auf andere Situationen zu erzeugen sucht. Das bedeutet natürlich nicht, der Regisseur und seine kreativen Mitstreiter hätten etwa einfallslos gehandelt. Eine prima Idee ist beispielsweise die Zweiteilung der Bühne in eine Doppelwelt, die gleich in der eröffnenden Gerichtsszene, als Grimes sich wegen des Todes eines Lehrjungen während der Heimfahrt nach einem großen Fischzug verantworten muß, deutlich wird, und auch später findet sich das Moment der Teilung in "die da oben" und "die da unten" häufig wieder, wobei Grimes fast immer unten bleibt und nur selten (und wenn, dann erfolglos) Versuche unternimmt, nach oben zu gelangen. Eine analoge Zweiteilung findet sich im Aspekt "draußen vs. drinnen", beispielsweise im Pub, der als Zufluchtsort vor dem Sturm dient. Als kongeniales Element geht schließlich auch der halbtransparente Vorhang durch, der nicht nur wahlweise trennendes oder einendes Symbol darstellt, sondern auch als Projektionsfläche im direkten wie übertragenen Sinne eine Vielzahl von Möglichkeiten eröffnet. Zudem erweist sich Kuntze als Meister der Massenszenen, etwa wenn es gilt, aus dem an und für sich völlig heterogenen Volk einen Korpus zu schmieden, dem es an Bedrohlichkeit nicht mangelt, natürlich besonders in der Gegenüberstellung mit Grimes, dem Außenseiter, dem Geächteten, dem üblichen Verdächtigen, dem Ungläubigen und Sonntagsarbeiter, dem Choleriker, dem Einzelnen, um einen Terminus von Kierkegaard etwas abgewandelt zu gebrauchen. Dazu gesellen sich bei Kuntze noch einige "erwartbare" Zutaten, wenn er etwa Mrs. Sedley als verkappte Miss Marple auffaßt, den Pub noch etwas eindeutiger in Richtung Bordell rückt als in der Vorlage oder den methodistischen Laienprediger Bob Boles in einen äußerst affektierten Tonfall verfallen läßt. Ob es unbedingt notwendig war, auch die pädophilen Neigungen Grimes' stärker anzudeuten als im Original, sei dahingestellt, und man verzeiht auch den kleinen Fauxpas, daß Grimes das Ellen umgehängte Schild "Child Killer" von der Handlungslogik her eigentlich gar nicht hätte finden dürfen. (Nebenbei bemerkt: Ist es Zufall, daß alle Frauen trotz ihrer unterschiedlichen Funktion und sozialen Stellung, selbst die Quasi-Freudenmädchen, Dutt tragen, nur Mrs. Sedley nicht?)
Die Musik stellt hohe Anforderungen sowohl an die Sänger als auch an die Musiker des von Laurent Wagner geleiteten Philharmonischen Orchesters Altenburg-Gera - "Peter Grimes" ist durchkomponiert, stammt aus einer Zeit, in der sangliche, gar einprägsame Melodien verpönt waren, und enthält wenig Ankerpunkte, an denen man sich als klanglich Beteiligter, aber auch als Hörer entlanghangeln kann. Das Orchester selbst setzt dabei während der Akte keinerlei Glanzpunkte, bekommt dafür aber in den Zwischenakt- bzw. Zwischenbildmusiken eine tragende Rolle der Darstellung von Gemütszuständen, und hier weiß Wagner sehr viel aus den Musikern herauszukitzeln, um die hier stumm vor dem Vorhang agierenden Darsteller zu unterstützen, so daß man hier durchaus ergriffen wird, was einem in vielen anderen Passagen der Oper eher schwerfällt, zumal unter den Sängern keiner ein gutes Niveau unterschreitet, aber auch kein absoluter Glanzpunkt vorhanden ist. Den meisten Beifall ernten zum Schluß durchaus verdientermaßen die drei Hauptfiguren: Johannes Beck als Kapitän Balstrode (der lange Zeit Verständnis für Grimes zeigt, diesen aber am Ende zur Kapitulation vor den Verhältnissen und damit praktisch zum Suizid auf dem Meer überredet), Anne Preuß als Ellen Orford und schließlich James Stewart in der Titelrolle (die Quasi-Koloratur in "Go" muß man erstmal in dieser Eindringlichkeit hinbekommen). Nichte 1 ist gesundheitlich angeschlagen, Nichte 2 muß gar krankheitsbedingt kurzfristig durch Lydia Leistner ersetzt werden (die ihre Sache als Einspringerin durchaus gut macht), und Amira Elmadfa als Wirtin Auntie hätte man etwas mehr Durchschlagskraft gewünscht. Dafür entfaltet der Chor starke Wirkungen, sowohl als kompakte Masse als auch in kleinteiligerer Struktur, wobei gerade die Masse durch die parallele, meist bedrohliche Darstellung noch einmal an Effekt gewinnt. Am Ende haben wieder einmal alle verloren - Grimes das Leben, Ellen einen ihr doch irgendwie ans Herz gewachsenen Menschen und die Dorfbewohner ihr Feindbild, aber vorerst geht das Leben unverändert weiter, was keine Zutat von Kuntze, sondern schon im Original so angelegt ist. Das Publikum ist zwar kopfzahlmäßig überschaubar, aber sehr angetan von dieser Premiere, und wer diesen Text zeitnah nach dem Onlinegehen liest, könnte noch dafür sorgen, daß zumindest die letzte Vorstellung am 20.3.2015 etwas besser besucht ist.

Grimes wird methodistisch getauft  Die Ebenenstruktur

Grimes und sein Lehrjunge

Fotos: Stephan Walzl



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