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Oxfordshire County Youth Orchestra   23.07.2014   Grimma, Frauenkirche
von rls

Was in Venezuela funktioniert, sollte eigentlich auch in good old Europe möglich sein. Der klingende Beweis geht im Juli 2014 auf Tour: das Oxfordshire County Youth Orchestra, die 90 talentiertesten Jugendlichen von insgesamt 11.000, die im Rahmen eines Basisarbeitsprojektes in der Grafschaft Oxford Gesangs- oder Instrumentalunterricht erhalten. Dieses Auswahlorchester wagt sich regelmäßig auch an größere Orchesterwerke heran und spielt Ende Juli vier Konzerte in Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie ein Tourabschlußkonzert in Oxford; der Rezensent erlebt das dritte dieser vier Konzerte mit, das in Grimma stattfindet und als Benefizkonzert zugunsten der Fluthilfe deklariert ist. Die Kollekte (der Eintritt ist frei) geht allerdings nicht an Bedürftige in Grimma selbst, das ja gerade ein reichliches Jahr zuvor das zweite Jahrhunderthochwasser innerhalb von elf Jahren verkraften mußte, sondern an eine Familie aus der Nähe von Meißen, die bei einer Schlammlawine nach einem lokalen Unwetter zu Pfingsten 2014 ihre komplette Werkstatt und damit ihre Lebensgrundlage verloren hat, aber deren Schaden aufgrund unglücklicher struktureller Umstände versicherungstechnisch nicht als Unwetterschaden gewertet wird.
Nun besitzt die Frauenkirche in Grimma einige bauliche und akustische Eigenheiten. Es handelt sich um eine relativ kleine spätgotische Hallhallhallenkirche, was zunächst ein ganz banales Problem aufwirft: Wohin mit 90 Musikern plus Dirigent? Das Ergebnis: Der Dirigent John Traill steht in der Vierung, vor sich ein Viertel der Musiker. Die anderen drei Viertel verteilen sich in den Chorraum und die beiden vorderen Joche der Seitenschiffe - sicher nicht die ideale Lösung, aber für die gegebene Kombination aus Raum plus Musikeranzahl die vermutlich einzige mögliche. die allerdings offenbar immer noch dazu führt, daß sich die Musiker untereinander teilweise recht schlecht hören. Bei einem Profiorchester ist das kein Problem bzw. auch nicht das ausschlaggebende Kriterium, aber die Amateure, die hier spielen, sind über jede zusätzliche Klangstütze über das Dirigat hinaus sicherlich noch dankbar. Das nächste Problem bietet die Kirchenakustik mit ihren vier Sekunden Nachhall und ihrer Schiffstruktur samt einiger ungewöhnlicher Reflexionsflächen, so daß sich auch der Hörer bisweilen nicht so ganz sicher ist, woher er jetzt Instrument X oder Y wahrzunehmen glaubt. Dieser Problemkomplex rächt sich in der das Konzert eröffnenden "Rosenkavalier"-Suite von Richard Strauss bitter, denn dessen lautere Passagen (und von denen gibt es nicht wenige) klingen an diesem Abend ungeplant mitunter wie die wüstesten Ergebnisse der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Die Walzer lassen zwar eine gewisse Eleganz erahnen, aber da viele der Instrumentenlinien verschwimmen, ist selbst eine Grundaufgabe wie das Erkennen des Rhythmus nicht gerade einfach zu bewältigen, was in ähnlicher Weise auch auf die Melodik zutrifft. Spielerische Unsicherheiten können in einer solchen Lage nicht ausbleiben und tun das auch nicht, aber immerhin gelingen Traill einige schöne dynamische Schichtungen hauptsächlich in den ruhigeren Passagen, und der Schlußbombast fällt schon recht laut aus.
Was bei Strauss zum Problem wurde, entpuppt sich in Ottorino Respighis "Pini di Roma" zu einem unerwarteten Trumpf, denn die mediterrane Atmosphäre bekommt durch die ineinanderlaufenden Klänge einen ganz besonders impressionistischen Touch, und der tut dem Werk enorm gut. Das trifft besonders auf die beiden Mittelsätze "Pini presso una catacomba" mit seiner düsteren, aber nie finsteren Nachtgestaltung sowie "I pini del Gianicolo" mit der eher ins Romantische abgleitenden Nachtfortsetzung zu, aber schon die "Störtrompete" am Ende des ersten Satzes "I pini di Villa Borghese" hat schon prima Vorarbeit geleistet. Die einzuspielende Nachtigall am Ende des dritten Satzes klingt alt, paßt aber gerade deshalb prima, und das Meisterwerk gelingt mit Satz 4: In "I pini della Via Appia" marschiert die römische Armee in der Stadt ein, und den dahinterliegenden musikalischen Sonnenaufgang setzt Respighi in eine fast schon schmerzende Naturalistik, die an diesem Abend exzellent gelingt, zumal fünf Blechbläser hinten auf der Orgelempore Platz nehmen und mit fanfarenartigen Klängen einen wichtigen Beitrag zum extrem bombastischen Finale liefern, das auch noch mit enormer Lautstärke gespielt wird und den Kirchenraum besser füllt als jeder Surroundsound im Kino. Hier ist man mittendrin statt nur dabei.
Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie ist für ein britisches Jugendorchester eine eher ungewöhnliche Wahl, aber auch hier gelingt die Anpassung an die Kirchenakustik erstaunlich gut, gestützt freilich durch die Tatsache, daß es sich um ein eher düster-grüblerisches Werk mit wenigen Tuttiausbrüchen handelt. Mittlerweile hat sich auch das Ohr des Hörers besser an die Verhältnisse in der Kirche gewöhnt, selbst wenn man immer noch genau hinhören muß, um die Tiefstreicher in der Einleitung des ersten Satzes überhaupt wahrzunehmen. Traill nimmt sowohl Tempo als auch Lautstärke insgesamt weit zurück, was die lange Zeit düstere Entwicklung dieses Moderato-Satzes durchaus befördert. Auch die Steigerungen sitzen, lassen aber nach oben noch viel Platz. Spielerisch wackelt natürlich hier und da mal etwas, etwa wenn sich die Hörner in die Höhe quälen müssen, aber gute Klangwirkungen entschädigen für solche kleinen Probleme.
Im Allegretto-Satz dauert es eine Weile, bis sich das Orchester auf einen Grundrhythmus eingegroovt hat, aber trotz der schwierigen Akustik gelingt dieses Kunststück irgendwann mal. Daß eine grundsätzliche Schwerfälligkeit erhalten bleibt, ist hier Absicht, und es ist interessant, Traills Tempomanagement mal etwas genauer zu beobachten, dessen zuweilen eingestreuten kleinen Variationen das Orchester folgt, so gut das unter den gegebenen Umständen eben möglich ist. Und wie alle Beteiligten die Tempoverschärfung vor dem Satzschluß förmlich aus dem Ärmel schütteln, das ist unter diesen Bedingungen ganz großes Kino.
Das Largo schleudert den Hörer dann hin und her. Von der Doppelbödigkeit bleibt an diesem Abend nur eine kleine Handvoll an Störfaktoren, aber dafür gelingen die vordergründig romantischen Passagen so exzellent, daß geringfügige Wackler hier noch weniger ins Gewicht fallen als sonst. Idylle fast ohne Grenzen breitet sich also aus, und selbst wenn diese eigentlich nicht so intendiert gewesen war, nimmt man die Alternative dieses Abends genauso gern entgegen und vergißt, daß hinter dem Strand des Schwarzen Meeres das Verderben für große Teile der sowjetischen Intelligenzija lauerte. Daß die ineinanderlaufenden Klänge den entspannenden Aspekt betonen, muß eigentlich kaum noch extra niedergeschrieben werden.
"Allegro non troppo" heißt der vierte Satz und reißt den Hörer vom Strand weg, wenngleich die Dynamik längst noch nicht am oberen Ende angekommen ist. Aber auch hier gibt die Kirchenakustik wieder etwas dazu, diesmal Pfeffer: Die Trompetensoli vor den extrem gellenden Holzbläsern und Hochstreichern dürften selten so aggressiv geklungen haben wie an diesem Abend. Der Schlußteil allerdings läßt wieder die Doppelbödigkeit vermissen und gerät fast etwas zu feierlich; außerdem kann der überwältigende Surroundsound des Respighi-Finales hier nicht reproduziert werden, selbst wenn auch hier eine ansehnliche Klangkathedrale entsteht, deren Risse im Kellergeschoß sich der Hörer, der das Stück kennt (es sind einige der vielleicht 100 Besucher, aber längst nicht alle), dazudenken muß.
Eigentlich wäre dies der fast perfekte Schluß für ein interessantes Konzert gewesen - aber es gibt eine Zugabe. Dagegen ist freilich nichts einzuwenden. Aber mußte es nach dem emotional fordernden wie hintergründigen Schostakowitsch-Schlußsatz unbedingt der Radetzky-Marsch sein? Die meisten Anwesenden sind begeistert und versuchen mitzuklatschen; Traill läßt die Musiker nach den ersten Takten alleine weiterspielen und setzt sich in eine der Bankreihen, was sich rächt, denn da sich die Musiker untereinander offenbar nach wie vor schlecht hören, beginnen zwei Rhythmusmodelle parallel zu laufen, und selbst wenn der Rezensent hätte mitklatschen wollen, er hätte nicht gewußt, in welchem der beiden Rhythmen er das hätte tun sollen. Mit diesem Problem steht er freilich weitgehend allein da - der Rest des Publikums tobt förmlich vor Begeisterung, und das Orchester rettet sich auch irgendwie in einen gemeinsamen Schlußton. Somit entsteht paradoxerweise ein unbefriedigender Rahmen um ein in den beiden "Mittelwerken" hochgradig interessantes Konzert, bei dem allerdings die Frage offenbleibt, warum man es nicht in der akustisch zumindest etwas einfacher zu bespielenden, wenngleich aufgrund ihres knochentrockenen Klangbildes wieder ins andere Extrem tendierenden Klosterkirche durchgeführt hat. Und eine letzte Bitte an die Projektverantwortlichen: Das Programmblatt bitte vor der nächsten Deutschlandtour unbedingt von einem deutschen Muttersprachler Korrektur lesen lassen ...



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