www.Crossover-agm.de
Der Wildschütz   20.05.2014   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Albert Lortzing, lange Zeit nur wegen der Oper "Zar und Zimmermann" einigermaßen ernstgenommen, hat in den letzten Jahren, speziell seit seinem Doppeljubiläum aus 200. Geburtstag und 150. Todestag anno 2001, mit seinen Werken eine gewisse Renaissance in der Bühnenwelt erlebt. Seit geraumer Zeit ist er auch Namenspatron für einen Gesangswettbewerb an der Leipziger Musikhochschule, in dessen zu singendem Repertoire auch immer wieder Stücke aus seiner Feder enthalten sind, und so erschien es nur folgerichtig, daß auch das alljährliche Opernprojekt der Hochschule einmal Stoff von ihm zutagefördern würde. 2014 war es nun soweit - sechs Vorstellungen, von denen der Rezensent die vierte miterlebte, gehörten, nein, nicht "Zar und Zimmermann", sondern dem 1842 aus der Taufe gehobenen "Der Wildschütz".
Die Entstehungszeit ist wichtig, denn sie bildet eine der drei zeitlichen Säulen, auf denen Matthias Oldags Inszenierung ruht. Lortzing nutzt mitten in der bürgerlichen Emanzipationsbewegung das Stilmittel einer adligen Verwechslungskomödie, um mehr oder weniger deutlich Kritik an der als überholt empfundenen Adelsherrschaft zu üben. So wird beispielsweise das noch aus uralten Zeiten stammende "Recht der ersten Nacht" des Patronatsherren bei seinen Untertanen in die etwas "modernere" Variante umgewandelt, daß Graf von Eberbach als erbarmungsloser Schürzenjäger gekennzeichnet ist, dem der Gatte seiner Gemahlin, der Baron von Kronthal, in nichts nachsteht. Eberbachs Schwester, die emanzipierte "lustige Witwe" Baronin Freimann (welch Name!), scheint da anfangs gar nicht in die Konstellation zu passen, aber sie wird ihrer scheinbaren Emanzipation schnell untreu und fügt sich rollengemäß ein. Auf der Ebene des gemeinen Volkes agieren der Schulmeister Baculus, eine Mixtur aus Pantoffelheld, Macho und scheinbarem Gelehrtem, und seine Verlobte Gretchen, so etwas wie die wiederum nur scheinbare Unschuld vom Lande. Baculus' Versuch, auf Gretchens Anstiftung hin einen Rehbock für die Fleischversorgung bei der Verlobungsfeier zu erlegen, obwohl damit die Jagdprivilegien des Grafen verletzt werden, führen zunächst zu dem Fiasko, daß der Schulmeister a) ein anderes Wesen erlegt, b) erwischt und c) prompt entlassen wird, was zugleich der Ausgangspunkt für alle folgenden Verwicklungen ist, denn die Versuche aller möglichen und unmöglichen Personen, beim Grafen um gut Wetter zu bitten, führen nicht nur ins Leere, sondern auch das adlige Paar Kronthal/Freimann zusammen, nachdem alle Beteiligten zwischenzeitlich erst einmal andere Schürzen gejagt haben, von der Gräfin abgesehen, denn deren großer Held, Sophokles, ist schon das eine oder andere Jahrhundert tot. Als sich am Ende alle gefunden haben, die sich finden müssen, wird Baculus begnadigt, da er statt des Rehbocks seinen eigenen Esel erschossen hat - ein prächtiges Sinnbild Lortzings, welchen Stellenwert er der humanistischen Bildung im Sinne Humboldts beimaß.
Oldag stellt dieser historischen Zeitsäule nun zwei weitere zur Seite. Zum einen verlegt er die Handlung in die 1920er Jahre, wo etwa Baculus nur noch als restlos anachronistische Figur taugt. Der Baron hingegen, permanent meditierend und seine Trübsal zur Schau stellend, paßt einerseits in die Rolle des psychisch Angeknacksten und an der Welt Zerbrechenden, spiegelt andererseits aber auch das Interesse an der asiatischen Kultur, das zur betreffenden Zeit etwa durch Sven Hedin in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitet wurde, und würde zum dritten mit seiner schwarzen Kleidung auch einen frühen italienischen Faschisten abgeben. Die Baronin und ihre Zofe Nanette wiederum kommen in Pilotenkleidung in der Szenerie an - hier gibt Elly Beinhorn eine nicht zu übersehende Inspirationsquelle ab. Daß die beiden auch noch bisexuell (die Baronin) bzw. kampflesbisch (die Zofe) sind, paßt gut in die Zeit der Kulturverirrung, wie konservative Kreise die 1920er Jahre gern zu brandmarken pflegten. Hingegen trägt die Baronin auch noch eine Desireless-Gedächtnisfrisur - also ein kleiner Anachronismus gen 1980er. Die dritte Säule nämlich bilden nicht etwa diese, sondern die gegenwärtigen Zeiten: Die Dialogtexte und auch einige der gesungenen Teile sind aktuell (das Programmheft verrät ihren Dichter nicht), das Spiel der Akteure ist es ebenso, selbst wenn die Rolle noch so weit in der Vergangenheit wurzelt wie die des gräflichen Haushofmeisters Pankratius, den übrigens kein Student spielt, sondern der lange Zeit an der Musikalischen Komödie tätig gewesene Folker Herterich, der sich in breitem Sächsisch über alle möglichen und unmöglichen Dinge ausläßt, etwa über einen gewissen Lang Lang. Die anderen Rollen fallen Studenten zu, und der Rezensent erlebt am vierten Abend die Zweitbesetzung in Aktion, die prinzipiell zu überzeugen weiß, auch wenn vor allem die Nummern mit mehreren Sängern teilweise für arg beeinträchtige Textverständnismöglichkeiten sorgen. Die ziemlich plastische Musik entschädigt aber für ein paar Problemfälle, selbst wenn es mit der Balance zwischen den Sängern und dem Orchester am vierten Abend langsam etwas besser klappen sollte als gelegentlich vor allem im ersten Akt - danach hat Matthias Foremny am Dirigentenpult dieses Problem dann aber besser im Griff. Aufgrund seiner exzellent gesungenen wie gespielten Katerszene am Beginn des 3. Aktes ragt Diogo Mendes als Graf von Eberbach aus dem gutklassigen Sängerensemble ein wenig heraus. Und Unterhaltungswert hat das Ganze, wie man das von Oldags Hochschulinszenierungen gewohnt ist, allemal, auch wenn der Regisseur im Programmheft den Satz "Es sind alles Verlierer hier auf unserer Bühne" äußert - diesen Verliereraspekt arbeitet er längst nicht so stark heraus, wie diverse Kollegen das unfreiwillig in anderen Opern getan haben. Nur eine Figur zieht den ultrakurzen Strohhalm: die Kammerzofe Nanette. In der Arie "Bin ein einfaches Kind vom Lande" der Baronin im ersten Akt, eigentlich einem hochromantischen Stück, läßt Oldag die Kammerzofe, die als Kampflesbe die plötzlichen romantischen Anwandlungen der Baronin dem Baron gegenüber überhaupt nicht verstehen kann, gegen Ende wutentbrannt durchs Bild stürmen und abgehen - damit ist erstens klar, daß sie die Verliererin der ganzen Konstellation abgibt, und zweitens eine ironische Brechung des romantischen Aspektes, den Lortzing ja auch aufgrund des Happy Ends weder verleugnen kann noch will, gegeben. In der Folge inszeniert Oldag weiter gekonnt auf dem Grat zwischen Humor und Ernst, auch das Mischungsverhältnis aus den drei Zeitsäulen stimmt, und so gelingt eine erstklassige Opernaufführung - bis zum Schlußbild. Hier läßt Oldag die Zofe, die in den Schlußchor ein bitteres "Hahaha!" hineinbrüllt, noch ein weiteres Mal als Störfaktor wirken, und dieses Mal ist genau das berühmte Mal zuviel, das, um es mal chemisch auszudrücken, die bisher exakt bemessene Pufferung in eine totale Übersäuerung verwandelt und alles, was der Regisseur in den bisherigen reichlich zwei Stunden Spielzeit aufgebaut hat, mit sechs Buchstaben zum Einsturz bringt. Es spricht nicht gerade für das Publikum im weitestgehend gefüllten Großen Saal der Hochschule, daß es unmittelbar nach dieser problembehafteten Schlußszene in lauten Applaus ausbricht. Schade um eine ansonsten sehr interessante Inszenierung.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver