www.Crossover-agm.de
Ray Wilson & Genesis Classic Quintet   22.12.2013   Altenburg, Brüderkirche
von rls

Schon in der Rezension zu Ray Wilson & The Berlin Symphony Ensemble, genauer deren Konzert im März 2012 in Dresden, war angeklungen, daß der Terminus "Genesis Klassik" durchaus mehrere Deutungen zuläßt. Eine andere als die damals auf die Bühne gebrachte bietet Ray Wilson nun zum 2013er Tourabschluß (eine dreistellige Zahl von Konzerten liegt hinter ihm) in der Altenburger Brüderkirche: Neben logischerweise ihm selbst an Gesang und Gitarre agieren ein zweiter Sänger/Gitarrist, ein Pianist (der gelegentlich vom richtigen Klavier an ein Keyboard wechselt), zwei Violinistinnen und ein männliches Wesen, das für verschiedene Holzblasinstrumente zuständig ist, nämlich Flöten, Klarinetten und Saxophone. Diese summiert sechs Musiker bieten das Repertoire nun tatsächlich unplugged (bzw. semi-plugged - ganz ohne Mikrofone und Verstärkung geht es hier natürlich auch nicht ab) dar, also sozusagen eine "klassische" Variante, die die originalen Keyboardlinien auf Klavier, Gebläse und Violinen aufteilt und die fehlende Rhythmusgruppe irgendwie anderweitig ersetzt, also die Baßlinien auch noch irgendeinem Beteiligten zuschiebt und dafür sorgt, daß man die Drums gar nicht erst vermißt. Eine erkleckliche Anzahl von Menschen möchte gerne wissen, wie sich dieses theoretische Konstrukt praktisch anhört, und so ist die Kirche, die immerhin 1000 Sitzplätze bietet, zwar nicht restlos ausverkauft, aber doch sehr gut gefüllt.
Wilson weiß natürlich, daß der erste Eindruck sitzen muß, und so startet er mit "Follow You, Follow Me" und "Another Day In Paradise" in den Set - da spätestens das zweite von fast allen Anwesenden begeistert mitgesungen wird, hat er gewonnen und kann sich beruhigt erlauben, in den zwei Stunden auch eine ganze Menge Material unterzubringen, das so gut wie niemand in der Kirche kennt, weil es von einem seiner nur einer kleinen Schar von Kennern geläufigen Soloalben stammt, etwa vom "Change"-Album aus dem Jahre 2003. Mit "Goodbye Baby Blue" steht ein solcher Song gleich an Position 3, aber ein etwa zu befürchtender Stimmungsabfall bleibt weitgehend aus, wenngleich hier natürlich nicht das in etlichen anderen Beiträgen zu hörende Phänomen auftritt, daß Szenenapplaus aufbrandet, sobald die breite Masse erkannt hat, welcher Genesis-und-Umfeld-Hit sich hier gerade zu entfalten beginnt. Von denen gibt es naturgemäß eine ganze Menge im Set, und trotzdem wird jedem Hörer noch irgendwas gefehlt haben - der Rezensent beispielsweise hätte gerne mal gehört, wie man die schwierige Transformation von "No Son Of Mine" in diese Sextettbesetzung bewerkstelligt hätte. Aber natürlich überwiegt die Freude über das, was man zu hören bekommt, und der eine oder andere Besucher wird Bauklötze gestaunt haben, was beispielsweise "The Airport Song" für ein mitreißendes Klassewerk ist, und sich gefragt haben, wieso er dieses noch nicht kannte und ob man dem in der Setpause am Merchandisestand vielleicht Abhilfe schaffen kann. "In The Air Tonight" leitet in einer ganz basischen Version, nämlich lediglich von Wilson mit Gesang und Gitarre bestritten, in die besagte Pause über und gibt die willkommene Gelegenheit, das Kirchenpublikum die "O Lord"-Einwürfe übernehmen zu lassen, sozusagen als ausgleichende Gerechtigkeit für das nicht jedem Kirchenoberen gefallende "Jesus He Knows Me", auch wenn der Hintersinn in beiden Fällen natürlich ein ganz anderer ist.
In der Pause wechselt der Rezensent seinen Sitzplatz, um die akustischen Bedingungen, die in solchen Kirchenbauten naturgemäß von Platz zu Platz sehr unterschiedlich sind, zweimal zu testen - den ersten Setteil erlebt er im rechten Seitenschiff, den Rest des Konzertes dann auf der linken Empore. Ergebnis: Das Klangbild ist doch recht unterschiedlich, aber in beiden Fällen nicht ganz optimal. Während es bei der Sanges- und Gitarrenfraktion nichts zu deuteln gibt (außer daß sie in der ersten Hälfte akustisch sehr weit im Vordergrund steht) und man mit etwas Aufmerksamkeit auch die Violinlinien gut verfolgen kann, geraten die Blasinstrumente außer in den Solopassagen ziemlich ins Abseits, und erstaunlicherweise steht auch das Klavier relativ weit im Hintergrund, selbst wenn man schräg über ihm (allerdings ohne Direktsicht) sitzt. Das ist schade, weil so mancher sicher interessant gedachte Effekt ein wenig ins Leere läuft - aber vielleicht waren die Verhältnisse an anderen Stellen der Kirche wiederum unterschiedlich. Freilich ist Wilson der akustische Mittelpunkt des Ganzen, wobei sein Bruder Steve vor allem in den Gesangspassagen aber eine ähnlich große Bedeutung besitzt und seiner Verantwortung mit einer starken Gesangsleistung auch gerecht wird. Wie er waren auch die beiden Violinistinnen Alice und Barbara bereits 2012 in Dresden dabeigewesen, wie damals bestehen sie auch heute noch im wesentlichen aus Beinen, und wie damals nutzen sie einen Solospot, um sich gegenseitig mit Themen aus Vivaldis "Vier Jahreszeiten" zu bewerfen, und zwar nicht, wie man vom Datum her mutmaßen könnte, mit solchen aus dem "Winter", sondern, wie es der Wetterlage eher entspricht, mit solchen aus dem "Frühling". Wie aus den bisher angeführten Songtiteln deutlich geworden ist, steht neben originärem Genesis-Material auch Soloschaffen der (Ex-)Mitglieder in der Setlist, wobei Peter Gabriel einen relativ breiten Raum einnimmt und mit "Biko" auch den emotionalen Höhepunkt für sich verbuchen kann, wobei das entspannte "Ripples" nicht sehr weit hintansteht. Der Verzicht auf "I Can't Dance" freut den Rezensenten ebenso wie die interessante Version des Stiltskin-Hits "Inside", und Ray moderiert den Abend mit schottischer Zurückhaltung, kommt aber eben dadurch sehr bodenständig und sympathisch rüber (sein Kommentar zu einer Open-Air-Show, bei der plötzlich Schneetreiben einsetzte und starker Wind den fallenden Schnee genau auf die Bühne blies: "Very romantic ..." - und er sei froh, daß dies heute abend nicht passieren werde: "We've got a roof ..."). Im Zugabenblock erklingt u.a. noch "Mama" (mit fiesem Gekreisch Wilsons), und weil die Leute gar nicht aufhören wollen zu applaudieren, setzt er noch "White Christmas" dran, das freilich auch er nicht vorm Versinken im Schmalztopf retten kann. Aber das Publikum ist zufrieden und zieht beglückt in die milde Mittwinternacht hinaus.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver