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Woodstock - Beautiful People   24.03.2013   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Gäbe es den Terminus nicht schon in anderem Kontext, man könnte das Woodstock-Festival getrost mit den Worten "Der Mythos des 20. Jahrhunderts" beschreiben. Jeder Jubiläumsjahrgang spült neue Analysen, Retrospektiven und künstlerische Reflexionen ans Tageslicht, und trotzdem erweist sich der Stoff immer wieder als prinzipiell ergiebig, zumal es im Gegensatz zu Thomas Gross' Behauptung im Programmhefttext eben keineswegs so ist, daß alle relevanten Erkenntnisse über das Festival längst gewonnen sind. Noch 2009, so war weiland beispielsweise in der Berichterstattung des eclipsed-Magazins aus Anlaß des 40jährigen Festivaljubiläums zu lesen, gab es über einige Bandsets keine Klarheit, ob und, wenn ja, dann wie sie stattgefunden haben, was ja durchaus keine nebensächlichen Fakten sind. (Ein aktueller Blick gen Wikipedia zeigt, daß der Forschungsstand auch dreieinhalb Jahre später noch ungefähr der gleiche ist.)
In demselbem Jahr 2009 wurde das Musical "Woodstock - Beautiful People" von Frank Leo Schröder und Edda Leesch am Altenburg-Geraer Theater uraufgeführt und erlebt nun unter Schröders Regie eine weitere Inszenierung, diesmal im Großen Saal der Leipziger Musikhochschule an insgesamt fünf aufeinanderfolgenden Abenden. Der zweite Abend, an dem der Rezensent anwesend ist, vermeldet das "Ausverkauft"-Prädikat.
Schröder und Leesch betten das Geschehen auf dem Festival in eine Rahmenhandlung der aktuellen Zeiten an: Die erfolgreiche Geschäftsfrau Melanie, die, wie sich herausstellt, in Woodstock gezeugt wurde, begibt sich, animiert durch die Nachricht vom Tod ihrer Mutter Linda, auf die Suche nach ihrem Vater Joe, den sie nie kennengelernt hat. Auf dem Umweg über den Himmel führt diese Spurensuche logischerweise auf das Festival selbst und schlägt dort die diversesten, mal mehr, meist weniger verständlichen Haken. Schließlich stellt sich heraus, daß Joe, unmittelbar nachdem er mit Linda Melanie gezeugt hat und unmittelbar bevor er zu seiner Armee-Einheit aufbrechen wollte, die für einen Einsatz in Vietnam vorgesehen ist, auf dem Festivalgelände von einem Traktor überfahren worden ist. Diese Erkenntnis verhilft Melanie wiederum zu einem Happy End mit ihrem Assistenten.
Klingt krude? Ist es leider auch. Wenn Schröder und Leesch die Absicht gehegt haben sollten, die Auswirkungen von Drogenkonsum auf den menschlichen Geist darzustellen, dann haben sie dieses Ziel erreicht. Klar, es gibt exzellente Momente in der Geschichte, bei denen dem Zuschauer das Lachen förmlich im Halse steckenbleibt, was in diesem Fällen als Qualitätsmerkmal zu verstehen ist, etwa wenn Joe und sein Freund Henry mantraartig bei jeder Gelegenheit die Mär von der kommunistischen Gefahr aus der McCarthy-Ära herunterbeten - eine Anspielung, die man heutzutage auch in diverse andere Richtungen tätigen könnte. Aber diesen Elementen stehen andere gegenüber, bei denen dem Zuschauer das Lachen auch im Halse steckenbleibt, was in diesen Fällen aber nicht als Qualitätsmerkmal zu verstehen ist. Fuchsteufelswild könnte man werden, wenn man analysiert, welche Passagen Schröder durch Ironie bricht und welche nicht. Da bleiben unhinterfragt Botschaften wie "Haschkekse machen alles gut" oder gar "In Woodstock von einem Traktor überfahren zu werden ist ein sinnvollerer Tod als im Vietnamkrieg zu sterben" im Raum stehen, ja kommen eher sympathiebeladen herüber. Umgekehrt verpaßt Schröder die einzige Chance auf einen richtig ergreifenden Moment, nämlich unmittelbar vor Ende des ersten Aktes, indem er sowohl den Anfang als auch das verfrühte Ende von Joan Baez' "We Shall Overcome"-Gesang mit unterschiedlichen Mitteln ironisch bricht und damit die Identifikation des Zuschauers (auch mit dem pazifistischen und bis zum Erbrechen wiedergekäuten Grundziel der meisten Festivalbesucher) so nachhaltig verhindert, daß sich das Publikum trotz Aufforderung kaum traut, in den Gesang einzustimmen. Statt dessen wartet man irgendwann auf einen Kommentar zum gedanklich weit von Rosa Luxemburg entfernten, teils ans Sozialfaschistische grenzenden Umgang der Festivalbesucher mit Andersdenkenden - aber Fehlanzeige. So beginnt die Inszenierung irgendwann zu kippen, und der sensiblere Teil des Publikums bemerkt das auch.
Deutlich besser schneidet der musikalische Teil ab, wenngleich auch hier durchaus Hinterfragungswürdiges bleibt. Die Rahmenhandlung wird von Led Zeppelins "Stairway To Heaven" strukturell geprägt - prinzipiell eine gelungene Wahl, die den Zuschauer zumindest musikalisch und ansatzweise spirituell in die Endsechziger und Frühsiebziger einführt, und zudem kein Ahistorismus, da wir uns ja noch nicht im Festivalgeschehen befinden (Led Zeppelin spielten nicht in Woodstock, und selbst wenn sie das getan hätten, sie hätten diesen Song nicht spielen können, da er erst mehr als ein Jahr später geschrieben wurde). Arnfried Auge als Angel singt diesen Song clean und perfekt - allerdings damit viel zu perfekt, um irgendwie authentisch zu wirken, mit keinem Fünkchen Blues in der Stimme, eiskalt und alles andere als elektrisierend. Dieses Problem kennt man beim Einbezug populären Liedgutes in streng vorgegebenen Formen unterworfene Genres, zu denen auch das Musical zählt, leider nur zu gut. Die Sänger (an denen das Gestaltungsproblem vor allem hängenbleibt) ziehen sich an diesem Abend unterschiedlich aus der Affäre, wobei das Trio bei "Don't You Want Somebody To Love" ebenso exzellent agiert wie Sophia Bicking als Joan Baez (für die oben erwähnten Randumstände kann sie ja nichts). Daß die Zeugung Melanies ausgerechnet zu "White Rabbit" stattfindet, wirft mal wieder ein beredtes Licht aufs Gesamtkonzept. "In-A-Gadda-Da-Vida" ist dann allerdings wirklich ahistorisch, denn auch Iron Butterfly spielten nicht in Woodstock; zumindest wissen die stroboskopinduzierten Zeitlupen-Kampfszenen hier zu überzeugen. Der Haupttrumpf der Inszenierung steht aber ganz hinten auf dem Gerüst: Die neunköpfige Band macht ihre Sache wirklich gut, obwohl sie die schwierige Aufgabe hat, vom simplen Folksong bis zu Hendrix' "Star Spangled Banner" (in zwei Teilen mit interessanter musikalischer Entwicklung) ein breites stilistisches Spektrum meistern zu müssen. Für die gelegentlichen Abmischungsprobleme können die sechs Rockmusiker und drei Bläser natürlich nichts, wobei die Mikrofonabstimmung irgendwann in den Gesangssoli dann jeweils stimmt, während "Pinball Wizard" insgesamt mit ultrabrutaler Lautstärke von der Bühne kommt, die im Finale mit "With A Little Help From My Friends" noch ein weiteres Mal überzogen wird. Insgesamt kann die Leistung der Soundfraktion aber durchaus als okay bezeichnet werden, da die erwähnten Problemfälle nicht durchgängig auftreten und die Aufgabe, zahlreiche Sprech- und Singmikrofone plus die vielköpfige Band sauber abzumischen, schwierig genug ist.
Der hintere Teil der Rahmenhandlung wirkt dann ähnlich bemüht wie viele Elemente der Haupthandlung. Daß Melanie hier plötzlich ein Happy End mit ihrem Assistenten, für den sie vorher keinerlei emotionale Interessen hegte, erlebt, erinnert irgendwie an das Woodstock-Prinzip, auch mit wildfremden Leuten in die Kiste zu springen, und bleibt natürlich genauso unreflektiert stehen. Das süßliche Element, welches man aus Musicalfinales oft kennt, gerät hier beinahe unerträglich, obwohl beispielsweise "Elisabeth" bewiesen hat, daß auch ein düster-verstörendes Finale dem Erfolg eines Musicals keineswegs im Wege stehen muß. Und wäre nicht die wunderbar spielende Laura Wasniewski als Melanie gewesen, die die ihr auferlegten Vorgaben auch jetzt noch mit Chuzpe herüberzubringen versteht und der man daher nicht mal für völlige Unlogik böse sein kann, die Bewertung wäre noch zwiespältiger ausgefallen, als sie das jetzt schon ist. Auch das Publikum ist hin- und hergerissen: Viele applaudieren mit unbändiger Intensität, andere halten sich merklich zurück und sind spürbar unentschlossen, was sie jetzt von diesen zwei Stunden halten sollen ... Kleine Randbemerkung zum Schluß: Ist "Claudio Roth" - der Name steht im Programmhefttext als Vollender einer mit Janis Joplin beginnenden langen Entwicklungslinie - eine Freudsche Fehlleistung?



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