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Bamberger Symphoniker   20.10.2012   Dresden, Frauenkirche
von rls

Anno 2010 hatte Herbert Blomstedt mit den Bamberger Symphonikern bewiesen, daß man auch in der schwierigen Akustik der Dresdner Frauenkirche groß besetzte spätromantische Werke spielen, ohne im völligen Klangmulm zu versinken - eine in ähnlichen Konstellationen immer drohende Gefahr, weil die Baumeister des originalen Gotteshauses im 18. Jahrhundert logischerweise noch keine Kenntnis davon haben konnten, welche Orchestergrößen das späte 19. Jahrhundert einmal fordern würde, und die Verhältnisse daher auf die Anfordernisse ihrer eigenen Zeit ausrichteten. Nun, zwei Jahre später, ist Blomstedt mit einem analog konstruierten Programm, das am Vorabend in der Bamberger Heimat erklungen war, wieder in Dresden zu Gast und schickt sich an, dieses Husarenstück nicht nur zu wiederholen, sondern sogar noch zu übertreffen.
Der Rezensent kommt sehr spät in seiner Heimat los, aber dank günstiger Verkehrsverhältnisse und eines Sprints vom Parkplatz zur Frauenkirche schafft er es doch noch, anderthalb Minuten vor Einzug des Orchesters seinen Platz im Kirchenschiff, Pfeilerbereich rechts, Reihe 11 (auf dieses Areal beziehen sich also alle folgenden Höreindrücke - die akustischen Verhältnisse sind an verschiedenen Stellen der Kirche bekanntlich sehr unterschiedlich) einzunehmen. Ein wenig abgehetzt ist er also - aber Blomstedt, das Orchester und die Sopranistin Ruth Ziesak schaffen es mit Bachs Kantate "Jauchzet Gott in allen Landen" BWV 51 sehr schnell, ihn zu beruhigen, und das, obwohl die Sängerin im ersten Satz durchaus sehr jauchzend agiert. Angenehmerweise hat Ziesak keine allzu schrille Stimme, weiß sich aber akustisch durchaus durchzusetzen und hat nur gegen die in dieser Kantate allerdings auch sehr exaltierten Trompeten wenig Chancen; auch bezüglich der Textverständlichkeit gibt sich die Sängerin große Mühe und erzielt ein mehr als achtbares Resultat. Die größten Trümpfe aber kann sie im Rezitativ "Wir beten zu dem Tempel an" und in der Arie "Höchster, mache deine Güte" ausspielen: Ihre fahl gefärbten Höhen tragen maßgeblich zum ätherisch-ruhigen Charakter bei, und selbst wildere Sprünge in der Arie meistert sie mit einer beeindruckenden Unaufgeregtheit. Erst ganz zum Schluß der Kantate gerät sie dann doch an ihre obere Stimmgrenze, aber das tut dem fein verzierten Halleluja auch keinen Abbruch, während die Kombination aus choralartigem Gesang und einer konzertant-verzierten 1. Violine in "Sei Lob und Preis mit Ehren" ein wenig gewöhnungsbedürftig daherkommt. Aber der alte Bach wird sich schon was dabei gedacht haben, und alle Beteiligten dieses Abends erweisen sich wieder einmal als kompetente Verwalter seines Erbes, wozu der gleichermaßen festliche wie bescheidene Schluß (nein, das ist kein Oxymoron) ebenfalls sein Scherflein beiträgt.
Die größere Spannung allerdings liegt in der Frage, wie Blomstedt und das Orchester unter den hiesigen akustischen Verhältnissen mit Anton Bruckners Vierter Sinfonie zurechtkommen. Wir erinnern uns an die kongeniale Zweite von 2010, wo der Dirigent die sechs Sekunden Nachhall in der Frauenkirche geradezu in ein Stilmittel umdeutete, in bestimmten Aspekten, beispielsweise dem kellerartigen Paukenklang, aber auch nichts mehr ausrichten konnte. Nach der einstündigen Aufführung der Vierten (in der Fassung von 1878/80) allerdings staunt man Bauklötze ob des Wunderwerks, das Dirigent und Orchester diesmal vollbracht haben. Schon das eröffnende Hornthema nutzt die ätherischen Möglichkeiten des Raumklanges geschickt aus, und dann wird's richtig komisch. Daß Blomstedt seine generell sehr transparente Herangehensweise an Bruckner auch diesmal ins Feld führen würde, war klar - aber wie er das unter den gegebenen Umständen umzusetzen in der Lage ist, das gibt dem Hörer unlösbare Rätsel auf, wenn er versucht, das zu analysieren. Denn da herrscht Klarheit im Klang, sowohl vor dem ersten Tutti als auch in selbigem - und das, obwohl am Sitzplatz des Rezensenten beispielsweise die Posaunenklänge scheinbar nicht von vorne, sondern von links hinten kommen und die Trompeten dafür von rechts oben. Und sogar die Pauken grollen diesmal keinen Kellersound zusammen, sondern kommen klar und deutlich herüber. Die Strategie, in den Generalpausen (von denen es in der Vierten allerdings weniger gibt als in der Zweiten) den Nachhall gegebenenfalls als Stilmittel zu nutzen, also ihn auch mal nicht aushallen zu lassen, sondern bewußt in ihn hineinzuspielen, wendet Blomstedt natürlich erneut konsequent an, und seine Musiker folgen ihm bedingungslos - wenn er mit den Händen einen riesigen monumentalen Blechchoral zu modellieren scheint, dann spielen sie diesen eben auch. Und das macht Freude beim Hören! Nur der Analytiker kommt spätestens im Finale des ersten Satzes ins Grübeln, aus welcher Richtung in diesem monumentalen Tongemälde gerade das Solohorn an sein Ohr zu dringen scheint ...
Das Adagio nimmt Blomstedt sehr weit zurück, sowohl in der Lautstärke als auch im Tempo, aber selbst wenn sich das Orchester nur noch dahinschleppt, bleibt eine grundsätzliche Eleganz erhalten. Und die extreme Düsternis im Pianissimo vor der Generalpause gewinnt in der Kirchenakustik noch einmal ein Grad Schwärze hinzu. Auch die Spannungsauflösung vor dem späten großem Tutti bewerkstelligt Blomstedt meisterhaft - und wie er den Ausbruch ebenso monumental wie schwingend gestaltet, das gehört in ein Lehrbuch für Dirigenten.
Im Scherzo schafft es das Blech, sehr lebendig zu klingen, aber trotzdem klanglich nicht allzusehr ineinanderzulaufen, was in gewissen Steigerungsphasen sogar dazu führt, daß man da plötzlich Stimmen aus der orchestralen Untervegetation hört, die man sonst an dieser Stelle kaum wahrnehmen kann. Zudem spielt der Dirigent hier wieder gekonnt mit dem Hall und bezieht ihn in seine Interpretation mit ein. Nur im unauffälligen Trio gönnen sich alle Beteiligten dann doch einmal eine Art Ruhepause - sie spielen weiter solide, aber ohne große Gestaltungsambitionen, und auch die Scherzo-Wiederholung läßt noch Reserven offen.
Aber Orchester und Dirigent haben sich die letzte große Dosis Gestaltungswillen offenbar nur fürs Finale aufgehoben. Dessen Einleitung explodiert nämlich förmlich, wie man es selten zuvor gehört hat, und auch im weiteren Verlaufe erzeugen die Bamberger immer wieder Powerpassagen von unfaßbarer Klarheit - und das bei den erwähnten sechs Sekunden Nachhall! Der Rezensent ist zu wenig Akustiker, um dieses Wunder irgendwie physikalisch erklären zu können, aber ihm fehlen für diesen gewaltigen Finalsatz sowieso die Worte, sei es das riesengroße Streicher-Unisono, sei es der unfaßbare Aufbau der Schlußsteigerung. Und hätte nicht ein besonders voreiliger Besucher noch in den Nachhall des Schlußtones hinein wild zu applaudieren begonnen (womit er die ganze Schlußspannung zerstört), man hätte von Perfektion sprechen können. Aber auch so sind Dirigent und Orchester nicht weit von dieser entfernt. Und fand eigentlich die Tatsache, daß Blomstedt schon 85 ist, aber aussieht wie 65 und dirigiert wie 45, bereits Erwähnung?
In zwei Jahren wieder? Gerne. www.bamberger-symphoniker.de verrät, wann und was.



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