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Bamberger Symphoniker   19.06.2010   Dresden, Frauenkirche
von rls

Die Dresdner Frauenkirche hat sich in der mittlerweile vergangenen knappen halben Dekade nicht nur zum aktiven Gotteshaus (was ja sowieso geplant war) und zum Touristenmagneten (worauf auch zu hoffen gewesen ist) entwickelt, sondern auch zum Kulturzentrum - das Angebot der Konzertreihe reicht durchaus mal eben bis zum Sinfoniekonzert wie an jenem Abend, als die Bamberger Symphoniker unter ihrem Ehrendirigenten Herbert Blomstedt im wiederaufgebauten Zentralbau gastieren. Das Programm läßt allerdings selbst (oder gerade) Kennern der Kirche Sorgenfalten auf die Stirn treten - nicht wegen Bachs "Ich habe genug"-Kantate, sondern wegen Anton Bruckners 2. Sinfonie, bei der durchaus die Gefahr besteht, daß sie in der nicht einfachen Akustik der Kirche in einem einzigen Mulmhaufen endet. Erfahrungsgemäß unterscheiden sich die Klangverhältnisse in der Kirche je nach Platz allerdings recht stark; der Rezensent kann also nur von seinem Platz aus (Kirchenschiff links, Parterre, Reihe 8, wobei die Reihen 1 bis 5 abgebaut sind - dort sitzt das Orchester) urteilen.
Zunächst also Bachs Kantate "Ich habe genug" - und die legt schon den Grundstein für einen erstklassigen Konzertabend, soviel sei vorweggenommen. Die kleine Orchesterbesetzung agiert äußerst transparent, und Herbert Blomstedt schafft es, eine unglaubliche Ruhe und eine große, dauernd fließende Linie in die Musik hineinzubekommen, als hätte er den Ausspruch "Panta rhei" erfunden. Für diese Ruheerzeugung benötigt er durchaus kein schleppendes Tempo im ersten Satz, der titelgebenden Arie, und daß die Beteiligten auch anders können, wenn sie wollen, beweisen sie mit einem kantig-trockenen Ausbruch, bevor wieder diese breite Linie zu schwingen beginnt. Die beiden Rezitative dirigiert Blomstedt erst gar nicht, sondern überläßt Baßbariton Hanno Müller-Brachmann und dem Basso continuo gleich komplett das Feld; andererseits ist es beeindruckend zu beobachten, wie der Dirigent in der Schlummerarie die Worte "stille Ruh" immer wieder mit Händen zu formen scheint, obwohl sich die Beteiligten förmlich blind verstehen. Der Sänger singt sehr deutlich, aber abgestuft, also nicht manieristisch, trotzdem exakt textverständlich, und seine intensive Mimik unterstreicht den Vortrag noch, ohne zur lächerlichen Showgeste abzugleiten. Nur in der abschließenden Arie "Ich freue mich auf meinen Tod" nimmt Müller-Brachmann die "Tod"-Auslaute vielleicht einen Tick zu hart - aber das kann ein Eindruck sein, der in der räumlichen Nähe des Rezensentensitzplatzes zum Sängerstehplatz begründet liegt. Blomstedt modelliert hier etwas voluminösere Klangwogen, erzeugt aber auch in Passagen mit höherer Schlagzahl noch eine hervorragende Transparenz - und auf die spielfreudige Solo-Oboistin gesondert einzugehen erübrigt sich eigentlich fast. Ein Auftakt nach Maß.
Eine reichliche Stunde später staunt man Bauklötze. Gut, man hatte bereits gewußt, daß Herbert Blomstedt seine Bruckner-Interpretationen gern, sagen wir, lichtdurchflutet anlegt, anstatt sich in Materialschlachten zu begeben - aber daß das in der Frauenkirche zu einem solch beeindruckenden Ergebnis führen würde, hätten nur kühne Optimisten für möglich gehalten. Freilich ist die Anstrebung größtmöglicher Transparenz vermutlich auch die einzige Strategie, die es überhaupt ermöglicht, eine Bruckner-Sinfonie in der Frauenkirche aufzuführen, ohne in mulmigen Lärm abzugleiten. Blomstedt greift u.a. zu einem ebenso simplen wie probaten Mittel: Er nimmt die Generalpausen, von denen es in der aufgeführten Urfassung eine ganze Menge gibt, nicht zwei Sekunden lang wie am Abend zuvor in Bamberg, sondern vier Sekunden lang und erschließt sich damit noch eine seltene Gestaltungsmöglichkeit - er läßt den Nachhall meist durch, spielt aber an einigen Stellen auch bewußt in ihn hinein. Für solche Kabinettstückchen braucht man natürlich ein Orchester, das einem auf Gedeih und Verderb folgt - aber der Dirigent arbeitet seit fast 30 Jahren immer wieder mit diesem Orchester, das ihn vor einigen Jahren auch zu seinem Ehrendirigenten ernannt hat, er liebt es, und es liebt ihn. Und damit können auch solche Meisterleistungen wie die dieses Abends entstehen. Klar, kleine Abstriche muß man natürlich machen - so hören sich die Pauken grundsätzlich so an, als ob sie unten in der Unterkirche spielen würden, und an einigen Stellen fließen Flöten und Violinen klanglich doch einen Tick zu stark ineinander. Aber dafür erzeugt das Blech zumindest am Sitzplatz des Rezensenten einen originellen Surroundsound - die Hörner sitzen links vorn am Altar, aber ihr Schall erreicht den Sitzplatz des Rezensenten von links hinten, und bei den rechts am Altar sitzenden Trompeten ist der Effekt analog. Der unbändige, aber kanalisierte Gestaltungswille Blomstedts und des Orchesters wird schon im eröffnenden Allegro deutlich - man nehme nur mal die brillante Formgestaltung, wenn die Kontrabässe im Piano Oktaven zu sägen haben! Das Scherzo an zweiter Satzposition erfordert eine genaue Hörbarkeit der Laut-leise-Kontraste, die teils auf recht engem Raum stehen - aber trotz des Nachhalls gelingt es Blomstedt, hier alles so transparent zu machen, wie man sich das wünscht, auch dann, wenn der Dirigent wie im Schlußteil den Stier bei den Hörern, äh, Hörnern packt. Krönung dieser Aufführung ist das Adagio an dritter Satzposition, das selbst den verwöhntesten Ohren nur noch ein "Großartig" abringen kann: Der große Choral zu Beginn sitzt, dann geht es zwar wieder mit beeindruckender Ruhe, aber nicht schleppend vorwärts (die Quarten der zweiten Violinen kommen durchaus zügig), aber den einsamen Höhepunkt setzt der Solohornist mit seinen förmlich transzendenten Einsätzen über den gezupften Violinen. Das ist der Moment, wo die hallige Akustik kein Problem, sondern einen eindeutigen Vorteil darstellt. Für diese zweimal vorkommende Passage erntet der Hornist eine freudig geballte Faust des Dirigenten am Satzende - auch für solche kleinen Gesten liebt ihn das Orchester eben. Das Holz will mit der Transzendenz nicht nachstehen, und in der Passage vor dem Fagottsolo kommt es auch fast an diesen Eindruck heran. Die Kontrabässe steigen jetzt klanglich auch in den Keller hinunter, und den schleppenden Bombast hätte sich jedwede neuzeitliche Doomband für ihre eigenen Kreationen gewünscht. Da kann das Finale nicht mehr ganz mithalten, aber auch hier erklingt extraordinär hohes Niveau mit beeindruckender Wogenmodellierung nach der eher linearen Anfangssteigerung. Apokalyptizität freilich ist Blomstedts Sache nicht, aber das muß sie auch nicht, wenn man eine derartige Form als "Ersatz" geboten bekommt. Und was selbst im Schlußlärm noch für Struktur steckt, das setzt irgendwie allem die Krone auf. Einige Enthusiasten warten noch nicht mal das Verklingen des Nachhalls des Schlußtones ab - der Applaus brandet fast nahtlos auf. Eine Meisterleistung eines Dirigenten, der sich auf seine alten Tage hin unvermuteterweise noch als Bruckner-Spezialist zu entpuppen beginnt, was sich übrigens auch in seinem Konzertkalender widerspiegelt. Und wenn eine Zweite in dieser Qualität dann 2012 seinen Bruckner-Zyklus im Leipziger Gewandhaus abschließen wird ...



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